Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia

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In Cäcilies Zimmer befanden sich ein voluminöses Bett, ein

Schrank, ein Tisch mit einem Hocker davor und ein zweiflügeliges, bis zum Boden reichendes Fenster. Davor derselbe Balkon wie in der Küche, aus Schmiedeeisen. Die Möbel hatten schon mal bessere Tage gesehen. Cäcilie verstaute ihre Sachen und dann rief Nini schon zum Abendessen. Typisch französisch, sie tischte eine verführerisch duftende Quiche auf, frisch aus dem Herd. Eine Art Kuchen, nur salzig, dazu reichte sie Salat und Baguette. Rotwein und Wasser standen in zwei schlichten Glaskaraffen auf dem Tisch. Cäcilie nahm fürs erste Wasser, aber später trank sie dann ein Glas Rotwein und schnell stellte sich ein Schwips ein. Nini und Claire schlugen vor, gemeinsam auszugehen. Cäcilie staunte, in Deutschland ging man nach dem Abendessen nicht mehr aus.

In den Straßen des Montparnasse ging es fröhlich und laut zu, in dieser Nacht. In Frankreich lebten die Menschen offenbar auf der Straße, wunderte sich Cäcilie. Alles fand sie so aufregend, alles so anders. Sie saßen in einem Straßencafé und sahen die Menschen vorbeiflanieren, sie tranken ein Glas Rotwein. Nini lud alle ein, danach ab es noch einen Café au lait.

Kaum hatten sie sich gesetzt, steuerte ein junger Mann direkt auf ihren Tisch zu. Ein Asiate, ein Chinese oder Japaner. Cäcilie fühlte alles auf einmal Überraschung, Schock, Aufregung, Verwirrtheit und Scham. So schnell sollten sie hier einen Mann kennenlernen? Einen Ausländer! Im Bruchteil der Sekunde vergegenwärtigte sie sich, dass sie selber aus dem Ausland kam. Der schmächtige, junge Mann blinzelte sie hinter Brillengläsern an und bat auf Französisch, mit stark asiatischem Akzent, um eine Auskunft. Nini antwortete bereitwillig und lud ihn mit einer Handbewegung direkt ein, auf dem freien vierten Stuhl Platz zu nehmen. Er machte einen formvollendeten Diener. „Mon nome est Tsuguharu Foujita“, stellte er sich vor. Er kam aus Tokio und verlebte in Paris einen einjährigen Studienaufenthalt, als Künstlerstipendiat. Das beeindruckte Cäcilie ungeheuer. Nini verwandelte den unaussprechlichen Tsuguharu in ein kurzes Zugu.

Um halb zwölf gingen sie heim, nicht ohne sich mit Zugu für den morgigen Sonntagabend zu verabreden. Nini schlug ein Restaurant am Carrefour Vavin vor, es hieß La Closerie des Lilas.

Sie zeigte ihm das Lokal auf dem Stadtplan. Man verabschiedete sich.

Die drei Mädchen zahlten, gingen aufgeregt schwatzend nach Hause. Cäcilie fiel vor Müdigkeit ins Bett. Aber die vielen Eindrücke des ersten Tages hielten sie wach, schwirrten in ihrem Kopf herum. Als gute Tochter setzte sie sich an den Tisch und schrieb den ersten Brief an ihre Mama, es war bereits Sonntag, der 9. März. Dann bestieg sie das voluminöse Bett und fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Ihr zweiter Tag. Sonntagmorgen. Alle schliefen aus. Cäcilie nahm sich vor, das Viertel vorsichtig zu erkunden. Sie erwachte früh, das Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Es stand einen spaltbreit offen. Die gesamte Nacht über hatte die kühle Nachtluft für erfrischenden Schlaf gesorgt. Jetzt sorgte die Frische im Zimmer, dass die kuschelige Wärme des Plumeaus sich noch erhöhte. Neben dem unablässigen Rauschen der Stadt, hörte Cäcilie die Vögel zwitschern, mitten in der Großstadt. Sie fühlte sich glücklich, alles neu, alles anders. Sie dachte, ‚ich wache in Paris auf und träume nicht.‘ Sie setzte sich kurz an den Schreibtisch, noch vor der Morgentoilette und schrieb im Nachthemd einen zweiten Brief an die liebe Mama. Sie platzte vor Eindrücken und Erlebnissen. Diesen ersten Briefen, sollten viele, viele folgen im Laufe der Zeit. Cäcilie, zeigte sich als eine getreuliche Berichterstatterin.

Nach einem Petit dejéuner, unten im Café erkundete sie unter Ninis Führung den Montparnasse. Verwinkelte Gassen, die bergauf und bergab führten, schöne Häuser. Plätze mit Laubbäumen und Boule spielende Menschen. Sie liefen und schwatzten. Cäcilie hatte keinerlei Überlegungen angestellt, dass ‚Mont‘ Berg hieß, aber tatsächlich, leitete sich der Name von Berg ab. Sie wanderten bergauf und bergab, ein hügeliges Quartier. Sie liefen stundenlange herum, vom Zentrum des Boulevard du Montparnasse zum Gare Montparnasse, durch unzählige Seitenstraßen, über Plätze, vorbei an vielen Handwerkerbetrieben, kleinen Läden und Fachgeschäften.

In diesem Viertel lebten viele Künstler und Intellektuelle, aber

auch Arbeiterfamilien und das erzeugte den besonderen Charme des Viertels. Mitten in ihrer Entdeckungsreise, in ihrem Herumstromern trafen sie per Zufall auf Zugu, in Begleitung ein paar neuer Freunde. Ausländer finden sich mit Ausländern zusammen. Zu Zugus Truppe gehörten zwei Spanier, Pablo und Juan, ein Italiener Amedeo und Henri. Allesamt Künstler, ein buntes Trüppchen. Nini bestritt im Wesentlichen die Konversation und Cäcilie musterte verstohlen die Männer. Ein gedrungener, drahtiger, dunkelhaariger Mann, mit flinken braunen Augen, denen nichts entging, er hieß Pablo. Es prangte eine knubbelige, kecke Nase und ein großer, markanter Mund mit einem sensiblen Zug darum in seinem Gesicht. Seine braunen, flinken Augen, denen nichts entging, verliehen ihm etwas faszinierendes. Amedeo, ein Italiener geschmückt von schwarzen Locken, etwas größer als Zugu und Pablo. Cäcilie nahm sanfte, dunkle Augen wahr, der Mann strahlte etwas Sanftes aus. Es kam ein junger Mann dazu, das große Begrüßungs-Hallo, um ihn unterbrachen die Gedanken von Cäcilie. „Chaim Soutine“ sagte er mit kurzem Kopfnicken in Cäcilies Richtung, sie nickte kaum merklich zurück. Alle verabredeten sich für den Abend. Pablo unterbrach mit einer erstaunlich tiefen Stimme das Stimmengewirr der verschiedenen Unterhaltungen: „Ich schlage vor, wir treffen uns alle in der Dingo Bar in der Rue Delambre“. Das fand allgemeine Zustimmung, 20 Uhr wurde vereinbart.

Cäcilie ging das alles viel zu schnell, aber sie fand es spannend, so hin und her gerissen, ging sie mit den neuen Freundinnen nach Hause. Jetzt galt es sich fürs Ausgehen hübsch zu machen. Die Mädchen bürsteten sich gegenseitig die langen Haare, flochten Zöpfe neu, steckten Kämmchen, probierten neue Frisuren aus. Ein hoher Knoten lose von Strähnen umspielt, breiter Zopf links über der Schulter, zwei offene Haarsträhnen links und rechts über die Schulter fallend, unten gefasst mit einem bunten Band. Nachdem sie etliches probiert hatte, entschied sich Cäcilie für einen lose geflochtenen Zopf, den sie um den Kopf drapierte, umspielt von lose fallenden Strähnen, eine silberne Spange hielt das Haar seitlich. Nini trug ihren breiten Zopf, wie immer links über die

Schulter und Claire ließ einem zierlichem Dutt, wie ein Krönchen oben auf thronen, einige blonde Strähnen umspielten das blasse, zarte Gesicht. Die richtige Garderobe auszuwählen stand an. Anziehen, begutachten, ausziehen, Rat von Nini holen, Claire fragen, begleitet von Gekicher und Getuschel. Schließlich hatten alle drei die passende Auswahl getroffen und glücklich begutachteten sie sich gegenseitig und bestätigten sich die gute Wahl. Die blasse Claire trug ein königsblaues, knöchellanges Ensemble, das ihre noble Blässe unterstrich. Ein langer schmaler Rock, der ab Mitte Oberschenkel vorne als Designelement eine Knopfleiste zeigte. Die Knöpfe im gleichen Stoff überzogen, edle Noblesse unterstützt von einer Rocklänge, die die Knöchel umspielte. Eine hoch angesetzten Taille, ein kurzes Oberteil mit den gleichen Knöpfen wie am Rock, schmale Ärmel, die in schmaler, weißer Spitze endeten. Dazu ein kurzes Jäckchen im Schnitt eines Boleros. Claire sah hinreißend aus, elegant in nobler Blässe. Nini wählte ein Kostüm in grauem Flanellstoff. Ein glockig aufschwingender, knöchellanger Rock, eine weiße Spitzenbluse mit hohem Kragen, darüber ein schmalgeschnittenes Jackett, das sie mit nur einem silbernen Knopf in Form einer stilisierten Rose, schloss. Der schöne rotbraune Zopf, gefasst von einer Perlmuttspange in Schmetterlingsform, ruhte auf ihrer rechten Schulter. Dazu trug sie eine nekische Kappe im selben Hellgrau des Kostüms. Cäcilie wählte ein Leinenkostüm in rosé mit einer dezenten, weißen Spitzenapplikation. Rock und Jacke schmal geschnitten. Die Jacke mit einem tiefen viereckigen Ausschnitt im Rücken und einen V-Ausschnitt vorne, dies ließ die weiße Bluse, die sie drunter trug, schön bauschig hervortreten. Claire betätigte den Zerstäuber einer zierlichen Parfumflasche und breitete über jede von ihnen einen Hauch, eine angenehm duftende Wolke aus. So gerüstet, sahen sie freudig den verheißungsvollen Verlockungen des Abends entgegen.

Alle drei fühlten sich wie die Mannequins, die zweimal im Jahr im Le Bon Marché die Mode präsentierten. Göttinnen gleich, schwebten sie die Treppe hinunter, hinaus auf den Boulevard. Sie strebten der Dingo-Bar zu. Cäcilie hörte förmlich die Mutter

schimpfen. Da hätte sie nie hingehen dürfen - in Nürnberg. Aber Nürnberg hatte gar keine Dingo Bar und hier gingen sie zu Dritt und sie lebte schließlich in Paris. All das dachte sie trotzig.

Zugu und alle anderen bevölkerten einige Tische und schwatzten munter, als sie eintrafen. Laufend kamen Menschen, stießen zu der Gruppe neben Chaim, Amedeo, Henri, Juan und Pablo. Ein Jules und Fernand grüßten mit Hallo, gesellten sich zu ihnen, dann kam eine Nina, eine Malerin. Henri, setzte sich ebenso zu ihnen, ein Franzose, wie sich herausstellte. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt Claire, die ihm gerade erzählte, dass sie ein Schlangenmensch sei und wahnsinnig gerne im Varieté auftreten würde. Cäcilie staunte, aber dann dachte sie, wenn man so farblos wie Claire ist, vielleicht hat man dann auch keine Knochen. Tatsächlich fuhr Claire einige Tage später nach Issy-les-Moulineaux, sie stand in seiner Akademie dort Modell, für die jungen Künstler, die er unterrichtete.

Die Gespräche sprudelten in rasender Geschwindigkeit. Cäcilie musste höllisch aufpassen, um alles mit zu bekommen. Die Unterhaltungen drehten sich vor allem um die Neuerungen in der Malerei und Literatur. Teilweise führten sie hitzige Debatten und das Ganze in einem Gemisch aus französisch, spanisch, italienisch und englisch. Meist jedoch in Französisch. Cäcilie nippte an ihrem Rotwein, während Nini mit kräftigen Schlucken das Glas leerte. Die Mama hielt ihre Töchter stets fern von Männern. Männer, von denen die Mama so gar nichts hielt. Cäcilie beobachtete das muntere Treiben mit innerer Distanz, alle deutlich älter als sie, aber Cäcilie spürte eine zunehmende Faszination. Am Nebentisch saßen lautstarke Amerikaner und es kamen, je weiter der Abend voranschritt, immer mehr Männer in Begleitung von jungen Frauen oder alleine. Alle Künstler. Es ging hoch her. Dann kamen zwei Frauen. Zwei Amerikanerinnen, Clarabel und Etta. Sie lösten ein enormes Hallo aus - an allen Tischen. Beide Frauen galten als bedeutende und vor allem reiche Sammlerinnen. Cäcilie kam sich zunehmend deplatziert vor. Morgen sollte ihr großer Tag sein. Sie überzeugte Nini mit ihr heimzugehen. Claire versprach, dass sie später nachkäme. Sie verabschiedeten sich von Zugu und allen

 

anderen. Am Montagmorgen standen alle drei um fünf Uhr auf. Nini und Cäcilie benutzten das Bad gemeinsam, weil sonst der Zeitplan nicht einzuhalten gewesen wäre. Ihr großer Tag. Heute würde sie im Le Bon Marché ihren ersten Arbeitstag haben. 13 Stunden von 7 bis 20 Uhr, mit einer Pause. Claire, die in der Parfumabteilung die Kundinnen beriet, erklärte ihr, auf was sie so alles achten müsse und dass sie in der Maßschneiderei viel sitzen könne, was ein echter Vorteil wäre. Nini flocht ihren Zopf und erzählte ihr dabei, was sie in der Maßschneiderei bisher so an Aufgaben erledigte. Hauptsächlich arbeiteten sie an Anpassungen und Änderungen. Nach dem Le Bon Marché mit Prêt-a-porter Mode angefangen hatte, bildeten sich zwangsläufig genormte Kleidergrößen heraus. Früher trugen Frauen Kleider über viele Jahre, die Mode wechselte in einem langen Zyklus. Damals geschah Stoffherstellung von Hand, man spann Fäden und verwebte diese. Stoffe waren aufgrund der aufwändigen Herstellung teuer. Jedes Bekleidungsstück, ein Einzelstück, eine Maßanfertigung. Mit der industriellen Produktion auf den mechanischen Webstühlen sanken die Herstellkosten. Man konnte nun Stoffe in Unmengen produzieren. Die Stoffe waren billig. Da hieß es den Verbrauch zu steigern! Damit die Kunden nicht selbst nähen oder einen teuren Schneider beschäftigen mussten, entstand das vorgefertigte Angebot. Kleider von der Stange, ein Angebot in riesigen Stückzahlen. Da ersannen die Hersteller genormte Größen. Die Geburtsstunde der Konfektionsgröße. Mit der Folge, dass die Frauen jetzt als zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein von diesen Normgrößen abwichen. Sie hatten zu kurze oder zu lange Arme, die Taille zu dick, die Beine zu dünn. Die Anpassung der Modelle an die Käuferin, das sei es, was sie hauptsächlich in der Maßschneiderei anpassten. Die frühen Kollektionen entsprachen dem Nachschneidern von Entwürfen namhafter Designer. Da orientierte sich das Atelier an den Entwürfen des Engländers Worth. Eigens entsandte Modescouts hielten sonntags auf den bedeutenden Pferderennbahnen nach den aktuellsten Modellen Ausschau. Die Damen von Stand trugen die neuesten Kreationen von Worth hier

quasi als Premiere. Mit rasender Geschwindigkeit zeichneten und aquarellierten die Scouts diese Entwürfe. Sie beschrieben und malten die Details der Stoffe und Accessoires. Zeichneten welche Knöpfe, Bänder oder Spitzen die Création zierten. In den hauseigenen Werkstätten, schneiderten die Mitarbeiter der Schneiderwerkstätten eilends alles nach. Am Montag in der Früh standen fertige Modelle in den Schaufenstern. Die Dame von Welt musste lediglich bestellen. Der eine oder andere Designer fühlte sich geschmeichelt, aber manch einer bestanden darauf, dass dies sein geistiges Eigentum sei.

Rechtlich existierten keine Regelungen, aber die Eigentümer wollten keine negativen Diskussionen um das Haus riskieren. Fortan veränderte der Scout den Entwurf. Minimale Abwandlungen zur hochkarätigen Vorlagen, vermieden nun Ärger ohne den gesamten Eindruck zu schmälern. Es folgte ein gedanklicher Schritt zu einer hauseigenen Linie. Le Bon Marché als eine eigene, etablierte Marke! Es gelte den Anspruch dieser Marke mit Originalität zu füllen. Die Geschäftsleitung habe vor, zweimal im Jahr eine eigene Kollektion herauszubringen, nicht Haute Couture, sondern Prêt-a-porter. Das Haus schneiderte und entwarf komplette, individuelle Garderoben für die Damen aus den Pariser Nobelfamilien. Diese Kundschaft schmückte sich gerne mit den Namen der Stardesigner. So bewies die Dame von Welt nicht nur mit der Exklusivität des maßgeschneiderten Modells ihren guten Geschmack, sondern sie unterstrich mit dem Namen des Designers ihre Distinguiertheit. Das enttäuschte Cäcilie ein bisschen. Sie hatte gehofft, in allen Phasen vom Entwurf bis zur fertigen, exklusiven Abendrobe beteiligt zu sein oder echte Haut Couture zu entwerfen.

Aber Prêt-a-porter-Entwürfe einer eigenen Kollektion, stellten einen guten Anfang dar. Le Bon Marché stand hier am Beginn und sie beide durften sich mit auf diesem Feld versuchen. Derzeit sei ihre Zuschneiderei vor allem für alle Arten von Draperien, Vorhänge, Schonüberwürfe oder Schonbezüge zuständig. Im Atelier arbeiteten sie mit Singer Nähmaschinen, die kamen aus Amerika. Cäcilie freute sich, auf ihre neue Stelle. Ihre Gefühle

lagen im Widerstreit: Bangigkeit in der Kehle, weil alles so neu, so herausfordernd schien. Was kam auf sie zu? Sie besann sich. Dann überwog die Vorfreude, auf das was kommen würde. Schließlich lebte und arbeitete sie jetzt in Paris. All das besprachen die drei Mädchen auf der Treppe, im Flur, beim Gang über die Straße. Schwatzend gingen die drei ins Café, tranken eilig eine Schale Milchkaffee im Stehen und schlangen ein Croissant herunter. Sie gingen zur Metrostation. Die staunende Cäcilie verschwand im Schlund der U-Bahn, kaum Zeit die Dinge zu bewundern, anzuschauen, so eilten die drei zur Arbeit. Cäcilie Seite an Seite mit Nini und Claire. Schnell ein Billett gelöst, ab in den Wagon und an der Haltestelle Sèvres Babylon spuckte der Wagen sie gemeinsam mit dem übrigen Menschenstrom aus. Fast alle trugen die Standarduniform des Le Bon Marché in schwarzer Seide, die Cäcilie heute bekommen sollte.

Sie standen vor der gewaltigen Fassade. Der elegante Schriftzug prangte über dem Portal ‚Le Bon Marché‘. Riesige Letter, Buchstaben in Metergröße. Fünf Stockwerke hoch, erstreckte sich das Gebäude mit einer gigantischen Schaufesterfront längs der Straße. Ein Einkaufspalast mit 50.000 Quadratmetern Fläche bedeckte das gesamte Carré zwischen den Straßenzügen. Cäcilie staunte. Sie traten durch das Portal. Viel Zeit blieb nicht für einen ersten Eindruck. Sie stand in einer gigantischen Halle, großzügig, hell. Unter einer Glaskuppel öffneten sich Räume über Räume. Es zeigte sich die tragende, elegante Eisenkonstruktion die das Skelett des Gebäudes über fünf Stockwerke bildete. Gleichzeitig ergaben sich innerhalb dieser eleganten, fast filigranen Konstruktion in jeder Ebene zahllose Inseln, auf denen zu jedem nur erdenklichen Thema Ware verführerisch drapiert auslag. Zum Kauf feilgeboten und zur gefälligen Begutachtung, sah der Kunde Parfums, Handschuhe, Handtaschen, Seidenschals, Gürtel, Schuhe, Pullover, Blusen, Mäntel – soweit das Auge reichte. In einem anderen Stockwerk buhlten Porzellangeschirr, Gläser und Haushaltswaren aller Art, um die geschätzte Aufmerksamkeit der Kundinnen. Cäcilie bestaunte die Pracht, die Fülle, die schiere Größe, sie stand mit offenem Munde da. Was für ein Fortschritt!

‚Alles unter einem Dach. Wo man sonst durch das gesamte Quartier zog, um in unzähligen, muffigen, finsteren Fachgeschäften einzelne Produkte zu suchen, um die nötigen Besorgungen zu erledigen. Alles vereint in einem Haus.‘ Nini zog und zerrte ungeduldig, die staunende Cäcilie zur Rolltreppe: „Allez, allez“, eine Treppe, die die Kundinnen wie von Zauberhand nach oben trug. Cäcilie wäre am Ende fast gestolpert. Sie standen vor dem Personalbüro. Eine Dame begrüßte sie, sprach ein paar Worte mit ihr, stellte ein paar Fragen nach der Reise, während sie Cäcilies Figur musterte. Sie wandte sich einem mobilen Kleiderständer zu, an dem in schwarzer Seide Kleider in allen Größen hingen. Sie suchte die passende Größe heraus und reichte Cäcilie lächelnd drei Bügel mit je einem Kleid in ihrer Größe. Mit einer Handbewegung bedeutete sie Cäcilie, in die Umkleidekabine zu gehen und die Garderobe zu wechseln. Sie sei jetzt eine Mitarbeiterin im Le Bon Marché. Sie bekäme einen eigenen Spind in der Mitarbeiterabteilung, um ihre jetzige Kleidung dort aufzubewahren. Heute Abend könne sie diese mitnehmen. Praktischerweise kamen schon alle Angestellten umgezogen in der Arbeit an, so dass sich hier niemand mehr umzog, es sei denn er oder sie wäre neu. Cäcilie ging folgsam in die Kabine und zog sich um. Dann erfolgte eine Einweisung in die Abläufe des Hauses. Die Dame brachte sie in den hinteren Gebäudeteil im 5. Stock, wo die Arbeitsateliers der Schneiderinnen lagen. Zeigte ihr einen separaten Salon, in den sie die Kundinnen geleiteten, wenn sie Änderungen absteckten. Ein Salon, entzückend eingerichtet, mit einem Deux-a-Dos. So ein Möbelstück hatte Cäcilie noch nie gesehen. Einem s-linienförmig geschwungenen, zierlichen Sofa, in dem sich zwei Personen gegenüber saßen, sich im Gespräch anblickten. Ein phantastischer, mit floralem Jugendstilmotiven bemalter Paravent, der eine dezente Anprobe erlaubte, zierte den Salon. An der Wand stand ein Nähtischchen, auf dem alle Nähutensilien bereit lagen, die man bei einer Anprobe benötigt. Stecknadeln, Nähnadeln, Schneiderkreide, Scheren usw. Der Salon diente zur exklusiven Präsentation einzelner Modelle für hochkarätige Kundinnen. Deswegen ragte eine Art Laufsteg bis in

die Mitte des Raumes. Die Kundin, eine wirkliche Königin. Der Salon war zudem mit einer Küche ausgestattet, in der jeder Mitarbeiter Kaffee zubereiten konnte oder Tee. Gebäckschalen zierten das Tischchen, so konnte man der wartenden Kundin und deren Begleitung eine Näscherei anbieten. Ein zierlicher Beistelltisch, auf dem Geschirr und Gläser standen, bot seine Dienste an. Auf dem Tisch mit den Nähutensilien lag eine lederne Kladde. In dieses Buch trugen die Atelierschneiderinnen die Termine, den Namen der Kundin und welche Details besprochen worden waren ein. Stets mit fein säuberlicher Handschrift. Zu guter Letzt führte Madam Signac, so hieß die Personaldame, sie an ihren Arbeitsplatz mit ihrer eigenen Singer Nähmaschine und mit ihrem eigenen Utensilien Koffer! Madam Signac stellte Cäcilie einem Herrn vor, der als Chef die gesamte Abteilung leitete, Monsieur Marat. Er begrüßte sie, wünschte ihr ein gutes Gelingen und stellte sie dann allen Kolleginnen vor. Sie blickte in vier neugierige Gesichter. Nini kannte sie bereits, nun reichte sie Marie, Claudine und Therese die Hand. Alle ungefähr in ihrem Alter. Er händigte ihr, als erste Aufgabe einen Korb aus, in dem sorgfältig zusammengelegt, ein schwerer Brokatstoff für eine aufwändige Fensterdraperie sowie Zettel mit Zeichnungen und Maßangaben, lagen. So begann ihr Arbeitsleben in Paris. Sie las alles sorgfältig durch, fädelte die Nähmaschine ein. Sie stellte fest, dass alle Zuschnitte von Nini bereits vorlagen. Sie konnte sofort beginnen.

Die Gestaltung der Arbeitsplätze durch die Innenarchitekten konnte man als gelungen bezeichnen. Jedes Detail durchdacht, alles sorgfältig überlegt. Die Nähmaschinen über und im Raum so verteilt, dass sie eine optimale Beleuchtung, unter Berücksichtigung des Tageslichts erfuhren, welches durch die wandhohen Atelierfenster fiel. Das Licht traf genau auf das Füßchen und den Stoff darunter. Es surrte die Maschine unter ihrem Tritt, das kompakte Schwungrad sauste geschwind. Gleichmäßiges Rattern erfüllte den Raum. Sie sah die gebeugten Rücken ihrer Kolleginnen Marie, Claudine, Therese und Nini vor sich. Zur Mittagspause gingen alle gemeinsam schwatzend in die

Betriebskantine, wo sie eine französische Kartoffelsuppe mit einer Scheibe Weißbrot aß. Nach anfänglicher Scheu, platzen die Kolleginnen fast vor Neugierde und fragten ihr schier ein Loch in den Bauch. Fragten nach Deutschland und wo sie genau herkomme und wie in Deutschland ihre Ausbildung verlaufen sei. Cäcilie rauchte der Kopf. Monsieur Marat sah nach ihrer Arbeit und schien zufrieden zu sein.

Monsieur Marat hatte ihr eine aufwändige Draperie als erste Aufgabe gestellt. Hohlsäume und Spitzeneinlage, Seidenbänder wollten ebenso verarbeitet sein, wie der schwere Stoff der Übergardine. Das eine oder andere arbeitete sie von Hand. Herr Marat wollte sicherlich testen, wie gut Cäcilie zurechtkam. Cäcilie kam gut voran und ihr Herz schlug vor Freude. So vergingen die ersten Tage wie im Fluge.

 

Cäcilie sprach gerne Französisch, sie liebte die Sprache und jetzt merkte sie, dass die vollständige Umstellung der Muttersprache auf eine Fremdsprache, ihr buchstäblich Kopfschmerzen bereitete. Sie brauchte mehr als einen Monat, bis sie aufhörte, Deutsch zu denken. Eines Nachts, träumte sie das erste Mal in Französisch. Ihr Heimweh verringerte sich und verschwand schließlich.

Sie gingen häufig aus. Mit Zugu und den Künstlerfreunden fühlte Cäcilie sich nicht wirklich wohl. Sie kam sich klein, dumm und ungebildet vor. Verunsichert erlebte sie, wie mondän speziell die Amerikanerinnen auftraten. Ungeniert flirteten Etta und Clarabel mit den Männern und die mit ihnen. Künstler, die betrunken mit dem Kopf auf dem Tisch einschliefen. Die Kellner störten sich nicht daran, ließen sie schlafen. Alle arm wie die Kirchenmäuse und nicht mehr jung. Henri, der Älteste, soweit sie wusste, hatte stattliche dreiundvierzig Jahre auf dem Buckel. Pablo und Fernand - beide über dreißig. Chaim, ein Jüngling - mit Abstand der Jüngste - mit zwanzig Jahren, alle anderen um die dreißig. Alle Maler oder Bildhauer. Es ging um Politik, um Ausstellungen, um die neuen Wege der Kunst oder neue Kunstformen wie Fotografie. Das Geld für Farben, Leinwände und Wein trieben sie aber stets irgendwie auf. Dazwischen tummelte sich ein buntes Volk von Reichen.

Einige Amerikanerinnen, die mit dem Geld nur so um sich warfen. Cäcilie fand es schillernd, verstörend, aufregend und fühlte sich zugleich deplatziert, zu jung, nicht zugehörig mit ihrem festen Arbeitsverhältnis und einem soliden Beruf. Cäcilie lästerte über sich selbst: „Deutsche Provinz trifft auf mondäne Großstadt“.

Inzwischen sprach sie perfekt Französisch, nahezu akzentfrei. Von den Ausländern merkte es keiner, die glaubten, sie sei eine Französin. Von den Franzosen erntete sie ab und zu einen forschenden Blick. Monsieur Marat lobte ihre Arbeit. Sie liebte das Kaufhaus, die weltmännische, mondäne Atmosphäre, die exquisiten Auslagen, die vielen Kundinnen, die Vielfalt, den Überfluss. Die Fahrt mit der Metro, die Spaziergänge im Viertel und die gelegentlichen Treffen mit der Künstlerkolonie, all das genoss Cäcilie, mehr als sie sich eingestand.

Im Le Bon Marché durften sie, sobald sie alle regulären Arbeiten, also nähen und ändern erledigt hatten, Entwürfe und Ideen für eine eigene Kollektion vorbereiten. Herr Marat nahm das unter seine Aufsicht in seiner Funktion als Abteilungsleiter. So nutzten sie die Arbeitszeit voll aus, denn die Mädchen arbeiteten mit Windeseile an den Kaufhausaufträgen, um dann freie Zeit für die kreative Arbeit zu haben, die sie so liebten. Cäcilie und Nini stöberten dann in allen Abteilungen nach Accessoires. Sie liebten es, Perlen auszuwählen, die runde Glätte zu fühlen, den Luster, wie der Fachbegriff für den Glanz der Perle hieß, tanzen zu lassen. Die Farben, die Größe der Pailletten in Zusammenhang mit einem bestimmten Stoff zu diskutieren. Dann eilten sie in die Stoffabteilung, holte Stoffmuster, arrangierte Pailletten darauf, Perlen daneben, dann lief Nini los und besorgte Stücke von Litze, Spitze, Klöppelei oder Knöpfe. Die Verkaufsdamen der Abteilung beugten dann die Häupter ebenso über die Studienmaterialien, wie Nini und Cäcilie und manchmal diskutierten sogar Kundinnen mit. Das sah Monsieur Marat nicht so gerne. Er nannte sich nun ‚Atelierleiter‘ und trug für alles die Verantwortung. Tatsächlich erarbeiteten Cäcilie und Nini eine Herbstkollektion, bestehend aus zwei verschiedenen Rockformen, drei kombinierbaren Oberteilen. Ein Glockenrock und ein Bleistiftrock kombinierbar

mit einem frackähnlichen Jackett, mit hoher Taille, einem kurzen, enganliegenden Bolero-Jäckchen oder einem taillenlangen Spenzer mit Schößchen. Ein drittes Modell, hielten sie eng anliegend aber kurz, der Saum reichte bis Mitte der Wade. Dieses Design fiel sofort bei Monsieur Marat durch, weil er zu gewagt schien. Sie plissierten nun den Schnitt des Glockenrocks und schufen damit ein drittes Modell. Dazu entwarfen sie zwei Blusenvarianten. Alle Schnitte boten sie in verschiedenen Farben und Stoffen an, die die kräftigen Töne des Herbstes nachempfanden. Ein tiefes Sonnenblumengelb, das zarte Violett der Herbstzeitlose, ein helles Goldbraun der Birkenblätter, eine nicht zu schweres Grün und ein kräftiger Rotton, des Ahornlaubs inspirierten die Farbauswahl. Diese Töne ließen sich harmonisch miteinander kombinieren, ohne zu bunt und zu laut zu wirken. Tweed, Baumwolle, Strick, Leinen und Seide – umfasste ihre Stoffauswahl. Die Stoffe, Schnitte und Farben boten vielfältige Kombinationsmöglichkeiten. Cäcilies Herz klopfte ordentlich vor Aufregung, als Herr Marat alles begutachtete. Nini und Cäcilie schwelgten einen Tag voller Stolz und am anderen versanken sie in tiefe Zweifel. Hatten sie die richtigen Farben gewählt? Hatten sie die richtigen Stoffe ausgewählt? Hatten ihre Schnitte genug Raffinesse für einen guten Verkauf? Fragen über Fragen. Cäcilie träumte von der Kollektion. Herr Marat stellte die Kollektion seinerseits den hausinternen Gremien vor und sie fand den Beifall aller. Beide Mädchen platzten fast vor Stolz bei der hausinternen Präsentation ihrer Herbstkollektion unten in der Haupthalle. Auf einem eigens aufgebauten Laufsteg defilierten die Vorführdamen in einer speziell dafür arrangierten Modenschau für die Kunden und Kundinnen der feinen Pariser Gesellschaft. Es liefen Therese und Claudine aus der eigenen Abteilung und zwei Mädchen aus der Parfumabteilung, Claire und Sarah. Die zogen sich blitzschnell hinter dem Vorhang um. Unentwegt zupften Nini und Cäcilie etwas zurecht, reichten einen Schirm, drapierten einen Schal auf die Schulter, bändigten vereinzelte, widerspenstige Löckchen unter breitkrempigen Hüten, verteilten einen aufmunternden Klaps oder flüsterten einen spitzbübischen Spruch, wenn die

Mannequins auf die Bühne traten und ihren Blicken entschwanden. Alles ging gut. Nach einer guten Stunde, in der die Modelle die zahllosen Kombinationsmöglichkeiten dessen, was die moderne Pariserin in diesem Herbst tragen sollte, ausreichend präsentiert hatten, spendeten die Zuschauer, überwiegend Damen der Pariser Gesellschaft, anhaltenden Applaus. Nini und Cäcilie durften vor den Vorhang treten und diesen Lohn entgegennehmen. Eine enorme Anzahl an Bestellungen folgte. Dies bestätigte den Erfolg. Es zeigte, dass die Kollektion bei den Kundinnen begeistert aufgenommen wurde. Nini und Cäcilie bekamen eine Prämie. Von der Cäcilie sofort ein Teil im Kaufhaus in Schmuck und einen neckischen Hut umgesetzt hatte. Beide arbeiteten sie mit Feuereifer an der Frühlingskollektion.

Im Keller des Hauses an der Rue Ricaut befand sich eine dampfige Waschküche. Oft standen sie am Sonntag und heizten den Kessel, wuschen und schrubbten die schwarzen Kaufhausuniformen, sowie ihre anderen Kleider, Bettwäsche und Handtücher. Sie putzen die Küche und das Etagenbad. Cäcilie und Nini erstanden im Le Bon Marché günstige Reststoffe und nähten in ihrer Freizeit per Hand daraus für sich Röcke, Blusen oder Jacken, so dass sie sich immer chic angezogen präsentierten. Sie kauften gemeinsam ein. Einmal kochte Cäcilie ein echt deutsches Essen. Sie hatten ihr Geld zusammengelegt und sie kauften ein Stück Schweinebraten. Dazu formte Cäcilie, geschickt die Hände kreisen lassend, selbstgeriebene Kartoffelklöße. Alle aßen mit Appetit, die Mädchen lobten artig Cäcilies Kochkünste, aber niemand äußerte einen Wunsch nach Wiederholung. Bei Cäcilie löste der Schweinebraten eine Welle von Heimweh aus. Herbst 1913 in Paris.