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Susanne Margarete Rehe

Von diesem Sommer

bis zum nächsten

Erzählroman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015


Susanne Margarete Rehe wurde 1958 in Stuttgart geboren. Sie ist Mutter zweier Kinder, staatlich anerkannte Erzieherin und lebt heute in Hessen. Freiberuflich arbeitet sie als Heilpraktikerin in eigener Praxis. Ihr künstlerisches Wirken führte sie über das Theater zur Literatur.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Etwaige Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorben Personen sind rein zufälliger Art.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Lektorat, Satz und Umschlaggestaltung:

Anna Rehe, Berlin (www.oleanna.de)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

für Anna und Mihai

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Mein Dank

Erstes Kapitel

Der frisch aufgeschüttete weiße Kiesweg zog in einer geraden Flucht zwischen Maisfeldern hindurch, deren Pflanzen einen stattlich gewachsenen Mann bei weitem überragt hätten.

Wie in jedem Jahr geriet Gerdi auch diesmal wieder ins Staunen über die gewaltigen Stauden, die der Riedboden hervorbrachte. Wie die Wurzeln kleiner Mangroven hob ein vielgliedriges Wurzelwerk die kräftigen Stängel der Pflanzen über die Oberfläche des feinen Lößbodens hinaus und gab ihnen Halt.

Gerdi löste sich von Hannas Arm und ging über die höher stehende Grasnarbe am Wegrand hinweg einige Reihen weit ins Feld hinein. Sie schaute nach oben und sah die braunen Fahnen der reifen Maispflanzen leise über ihrem Kopf im Wind wogen.

Aufs Neue begeistert über den kräftigen Wuchs der Pflanzen rief sie ihrer Enkeltochter zu:

„Schau her, Hanna, es ist unglaublich! Die größten Pflanzen sind fast drei Meter hoch! Man fühlt sich hier drinnen ein wenig wie ein Zwerg im Urwald. Komm, lass uns zusammen ein bisschen zwischen den Maispflanzen hindurch gehen!“

„Nein, warte noch einen Moment! Lauf nicht gleich so weit hinein! Ich will erst noch ein Foto von dir machen – ein Bild von meiner Zwergen-Oma im Maisfeld.“

Gerdi blieb stehen, wandte sich Hanna zu und zog zwei Stauden vor ihrer Brust zusammen. Dann steckte sie lachend ihr Gesicht hindurch. Mit dem silbrig schimmernden Haar in der grünen Blattumrandung sah sie tatsächlich gnomenhaft aus. Sie streckte Hanna in dem Moment, als sie auf den Auslöser drückte, die Zunge und eine lange Nase entgegen.

Hanna verstaute ihre Kamera und lief mit gespielter Empörung auf ihre Großmutter zu.

„Na warte, ich kriege dich!“

„Kriegst mich eben nicht!“, kam es übermütig aus dem Maisfeld zurück.

Gerdi hatte Hannas Spiel aufgegriffen und war bereits davon gelaufen. Ein wenig unbeholfen sprang sie zwischen den Reihen der Maispflanzen hin und her und war bemüht, der jungen Frau zu entkommen. Während sie versuchte, stets einige Pflanzen zwischen sich und Hanna zu bekommen, damit diese sie nicht packen konnte, lag Gerdis Blick mit Genugtuung und Freude auf ihrer Enkeltochter. Hanna lief leichtfüßig, mit einem erhitzten Gesicht unter den langen dunkelblonden und leicht gewellten Haaren hinter ihr her. Die Sommerbräune ließ ihre blauen Augen noch heller erscheinen, als sie es ohnehin schon waren.

Hanna war eine junge Frau Anfang zwanzig. Sie hatte sich eine anmutige und kindhafte Art bewahrt, die ungezwungen und in einer natürlichen Weise zum Ausdruck kam.

Mit einem langen Satz und einem triumphierenden „Ha, ich hab dich!“ bekam Hanna ihre Großmutter schließlich am Arm zu packen und umtanzte sie mit gespieltem Indianergeheul bis Gerdi, vor Lachen und Anstrengung gänzlich außer Puste, nach „Gnade!“ rief.

In ausgelassener Stimmung traten die beiden Frauen wieder auf den Feldweg hinaus und setzten ihre Wanderung durchs Ried fort.

Die Sonne des späten Sommertages wärmte ihnen den Rücken und Hannas Haar wurde vom auffrischenden Wind in alle Richtungen geweht. Gerdi schlug sich ein leichtes Wolltuch aus orangefarbenen, gelben und roten Farbtönen um die Schultern, um ihren erhitzten Körper zu schützen. Dabei ruhte nun Hannas Blick auf ihr.

„Oma, es steht dir gut, das Tuch. Sehr gut schaust du aus damit!“

„Vielen Dank, dein Kompliment weiß ich zu schätzen! Und ich kann es auch gleich an dich zurückgeben. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass du für dein Aussehen noch nicht einmal ein schönes Tuch brauchst. Du wärst sozusagen auch in Sack und Asche noch überaus hübsch.“

Hanna strahlte ihre Großmutter an.

„Na also, so gefällst du mir schon besser!“, lächelte Gerdi sie an, „ich bin froh, dass du dein Lachen doch nicht ganz verloren hast. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht um dich.“

„Ja, ich weiß. Das tut mir auch leid“, sagte Hanna etwas verlegen.

Sie warf einen kurzen Seitenblick auf ihre Großmutter, bevor sie weiter sprach.

„Und – eigentlich weiß ich auch gar nicht wirklich, was in mir drin passiert ist … nur, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Schmerz erlebt habe. Ich wusste einfach nicht, wie weh es tun kann, wenn eine tiefe Beziehung zerbricht. So etwas hatte ich noch nie zuvor erfahren.

Weißt du, es gab natürlich auch früher Freundschaften, die nicht gehalten haben. Das war aber mehr ein Ausprobieren gewesen, als ein wirkliches aufeinander Einlassen.

Das, was jetzt passiert ist, war etwas anderes. Die Trennung hat eine Wunde in mir hinterlassen, die noch lange wehtun wird. Ich glaube, um den Schmerz überwinden zu können, brauche ich noch Zeit … viel Zeit.“

„Ja, Hanna, du brauchst Zeit. Zeit braucht es immer, um wieder heil zu werden.

Aber ob es dafür viel oder wenig Zeit braucht, ist relativ. Es hat vielmehr damit zu tun, was in der Zeit, die vergeht, geschieht und ob du verstehen und auch annehmen kannst, was das Leben in jedem Moment dieser Zeit dir zeigt.

Auch die Tage, die wir beide hier im Ried noch miteinander verbringen werden, sind ein Teil dieser Zeit. Lass dich ganz einfach überraschen!“

Hanna sah nachdenklich aus.

Dann blieb sie stehen, nahm Gerdis Hände und hielt beide fest.

„Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin sehr froh darüber, dass du mich diesen Sommer wieder einmal mit hierher genommen hast. Danke! Ich fühle jetzt schon, dass es gut ist.“

 

Sie nahm ihre Großmutter zärtlich in den Arm und drückte ihr ein bisschen verlegen einen dicken Kinderkuss auf die Wange.

Gerdi sagte nichts, sie sah ihre Enkeltochter nur an mit einem Blick, wie er für gewöhnlich von Erwachsenen auf Kindern ruht, und nickte kaum wahrnehmbar. Es schien, als würde sie einem inneren Gedanken Zustimmung verleihen. Dann strich sie Hanna ordnend die wilden Strähnen aus dem Gesicht.

Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, begleitet vom hellen Gezwitscher der Feldlerchen. Der Gesang der kleinen Vögel glich ihrem Fluge, der sich unvermittelt weit in die Lüfte hinaufschwang und dann im plötzlichen Fall in einem taumelnden Auf und Ab über die Felder zog.

Hanna wandte sich erneut an Gerdi:

„Sag mal, warum fährst du eigentlich jedes Jahr hierher? Ich meine, es ist schön hier, sehr schön, das ist keine Frage, aber es gibt doch noch andere schöne Landschaften. Die Berge zum Beispiel! Wir könnten doch mal gemeinsam in die Berge fahren oder ans Meer … das wäre auch schön!“

Gerdi lachte und zwinkerte Hanna zu.

„Ja, du hast schon Recht. Natürlich gibt es andere und sicherlich genauso schöne Gegenden, nur – mit diesen Landschaften verbindet mich nichts.

Wenn ich aber hierher komme, ins Ried, erfüllt mich die Landschaft, wie keine andere es vermag. Es ist, als tauchte ich ein in einen Teil meines Lebens, der mir einmal sehr viel bedeutet hat.“

„Was meinst du damit? Was hat dir hier viel bedeutet?“

„Ach, Hanna!“, die Gedanken schienen Gerdi davon zu tragen. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und schloss für einen Moment die Augen.

„Das ist eine lange Geschichte … und sie hat begonnen vor langer Zeit – ich glaube, es war in dem Jahr, als du zur Welt kamst.“

Gerdi machte eine Pause und überlegte, wie sie weitersprechen sollte.

„Weißt du, so wie jetzt bei dir, lag auch bei mir damals der Schmerz einer zerbrochenen Liebe hinter mir. Damals hatte ich geglaubt, hier unten, in dieser Gegend ein neues Glück und einen neuen Anfang finden zu können. Und tatsächlich begann hier im Ried auch ein neues Kapitel meines Lebens, allerdings in einer ganz anderen Weise, als ich es mir gewünscht hatte und mir jemals hätte vorstellen können.“

„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Erzähl weiter! Erzähl mir von dir!

So, wie du mir früher oft erzählt hast, als ich noch klein war. Weißt du noch?

Bloß damals hab ich dir öfter mal nicht so gern zugehört. Daran kann ich mich zumindest noch erinnern. Ich weiß nicht mehr genau, weshalb das so war, aber ich glaube, du bist mir manchmal zu ernsthaft und irgendwie streng erschienen.

Aber jetzt ist es – naja, eben anders geworden. Jetzt will ich etwas wissen von dir!

Und ich bin mir auch sicher, dass du Vieles weißt, was vielleicht gerade jetzt wichtig sein könnte für mich.“

„Ja, ja – ich weiß, wovon du sprichst“, entgegnete Gerdi, „du hattest schon als kleines Kind immer deinen eigenen Kopf und der kollidierte eben manchmal mit meinem Eigensinn. Das hab ich natürlich ebenfalls gemerkt, Hanna, und manchmal hat es mir schon auch den einen oder anderen Stich versetzt – das hast du sehr wohl vermocht.

Aber ich war mir immer sicher, dass dir meine Art nicht schaden wird und dass du daran ruhig auch wachsen darfst.“

Gerdi schaute Hanna ein wenig verschmitzt an.

„Und außerdem bist du heute ja auch kein Kind mehr. Eine junge Frau bist du geworden. Wie schnell die Jahre vergangen sind!

Du bist jetzt gerade alt genug geworden, um die Türe zu dem langen Frauenleben, das noch vor dir liegt, öffnen zu können. Und ich – ich stehe dir heute mit meinem Alter genau gegenüber, gewissermaßen auf der anderen Seite.“

Sie schwieg, unsicher, ob Hanna verstehen könne, was sie ihr sagen wollte.

Und als Gerdi wieder zu sprechen begann, war Hanna sich nicht sicher, ob die Worte ihr galten oder ob ihre Großmutter zu sich selbst sprach.

„Zwischen uns beiden liegt fast ein halbes Jahrhundert an Lebensjahren als Frau mit vielen Höhenflügen und Abstürzen, mit Sehnsüchten, Liebe, mit Wissen und Hoffnungen, mit Lust und mit Schmerzen und allem, was nun mal zu einem erfüllten Leben dazu gehört.

Und ich, hier auf meiner Seite, öffne gerade ebenfalls die Türe zu einem Neuland.

Aber hinter meiner Türe wartet etwas ganz Anderes auf mich.

Hinter meiner Türe wartet die Erfahrung des Alters, das Vergessen und das Verschwimmen von Gestern und Heute.

Ich weiß, dass mit dem Verrinnen der Zeit auch meine Erinnerung an die vergangenen Tage verblassen wird. Und vielleicht wird eines Tages das Vergessen all diese gelebten Jahre in eine sanfte Decke hüllen. Alte Wunden werden dann endgültig ihren Schmerz und ihren Sinn verlieren, und vielleicht wird auch irgendwann mein Verstand das Erkennen und die Handlung nicht mehr miteinander verknüpfen können.“

Jetzt war Gerdi stehen geblieben und griff nach Hannas Händen.

Im Gesicht der jungen Frau sah Gerdi bei ihren letzten Worten die Bestürztheit einer unbedarften Jugend, aber sie sah auch die Reife, die Hanna brauchte, um ihrer Großmutter weiter zuzuhören.

„Ich glaube, du bist tatsächlich alt genug, um zu hören, was mich vor vielen Jahren hierher, in diese Gegend geführt hat und was mich hier hielt. Vielleicht ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um dir die Geschichte meines Lebens zu erzählen, bevor sie sich verliert in einem Vergessen, aus dem ich sie nicht wieder zurückholen kann.

Weißt du, Hanna, mein Leben ist nicht mehr oder weniger bedeutsam als irgendein anderes Frauenleben. Und vor allem weiß ich heute, dass es im Leben nicht so sehr darauf ankommt, was ich erreicht habe und welche Ziele ich verwirklichen konnte. Je älter ich wurde, umso wichtiger ist mir geworden, wie ich etwas erreicht habe und welche Wege ich gegangen bin, um zu meinen Zielen zu gelangen.

Und mir ist nicht länger nur das Erreichte selbst wichtig, sondern das, was davon blieb und was daraus geworden ist.

Gewachsen ist vor allem mein Bewusstsein und auch das Erkennen und Einordnen ganz wesentlicher Erfahrungen. Auch das Empfinden einer Verantwortlichkeit, die einzig mich meint, ist gewachsen und die Liebe zu den Menschen, die mir viel bedeuten und für deren Leben auch ich eine Bedeutung habe.

Und noch etwas Anderes ist gewachsen: Mein Verständnis für die Fügungen des Lebens, die mir die Gewissheit geben, dass Menschen und Situationen, denen ich begegne, genau die Richtigen sind, um das Leben in allen Facetten für mich erfahrbar machen zu können.

Diese Erkenntnis hat meinen Blick geschärft und meinen Geist wach gemacht, sodass ich die weiten Bögen, die alle Stationen meines Lebens miteinander verbinden, begreifen kann als etwas, das einander bedingt.

Vielleicht bist auch du, Hanna, jetzt nicht nur mit mir hierher ins Ried gekommen, um dich vom Schmerz deiner ersten zerbrochen Liebe zu erholen, sondern weil es Zeit geworden ist, deinen Platz zu sehen in einer langen Reihe von Frauenleben beider Familien, aus denen du stammst.

Und vielleicht auch deshalb, weil du heute an einem Wendepunkt deines Lebens angekommen bist, der nach Orientierung verlangt und einem Neubeginn vorangeht.

Du bist noch ganz jung, Hanna, aber doch mittlerweile erwachsen geworden.

Und du gestaltest dein Leben jetzt selbst.“

Du triffst deine Entscheidungen, egal, ob sie richtig oder falsch sind. Du wirst die Aufgaben, die sich dir stellen, erkennen und du wirst sie annehmen oder auch nicht. Du bist frei, alles zu tun, was auch immer du wünschst.

Und weil das so ist, Hanna, gibt es auch nichts mehr, wovor deine Eltern oder ich dich noch wirklich beschützen könnten. Dein Glück und deine Schmerzen werden kommen und sie werden vergehen und wieder kommen.

Diese sich ewig drehende Spirale mit ihrem Auf und Ab ist gleichzeitig Qualität und Aufforderung des Lebens, das dich prägen wird und es bereits von deinem ersten Atemzug an getan hat.

Das Einzige, was ich tun kann, und wozu ich mich auch verpflichtet fühle, ist, dich teilhaben zu lassen an meinem Leben, an meinen Erfahrungen und an meiner Liebe für dich.

Was du dir davon nehmen willst, liegt einzig in deiner Freiheit und Entscheidung.

Die Gedanken, die sich ihr zuletzt aufgedrängt hatten, sprach sie nicht aus.

Es waren die Gedanken einer Rückblickenden.

Hannas Leben sollte frei sein von der Last des Wissens. Ein ganz junges Leben war es noch, unbefangen und voller Lust auf Herausforderung. Dem Wissen und der Zukunft würde sie in ihrer Weise entgegen wachsen.

Hannas abwartender Blick ließ Gerdi weiter sprechen.

„Wenn du es wirklich willst, dann will ich dir gern meine Lebensgeschichte erzählen.“

Gerdi brauchte nicht lange auf Hannas Antwort zu warten.

Hanna war längst schon angesteckt, von der Intensität und Offenheit, mit der ihre Großmutter zu ihr gesprochen hatte. Als sie ihr antwortete, schien es, als hätte sie schon lange auf diese Gelegenheit gewartet: „Ja, bitte! Bitte erzähl mir alles, was du weißt – und was du erlebt und erfahren hast!

Ich hab in meinem Leben oft so viele Fragen und meist nur verdammt wenig Antworten drauf. Es gibt so Vieles, was ich nicht verstehe und manchmal, weiß ich einfach nicht, wie Leben geht.

Ich wär dir wirklich dankbar, wenn du mir von deinem Leben erzählst!

Wann sonst würde es besser passen, wenn nicht jetzt? Eigentlich ist es doch so, als wäre es ein Geschenk des Himmels. Wir Zwei haben nämlich gerade alle Zeit der Welt dafür!“

„Ich bin dir ebenfalls dankbar, Hanna!

Dankbar dafür, dass du meine Geschichte hören willst, weil ich weiß, dass der Teil meines Lebens, der für dich bedeutsam ist, sich in irgendeiner Weise auch in deinen Gedanken und Handlungen widerspiegeln wird und dir helfen kann, deinen Weg zu finden. Und schon alleine dafür macht es Sinn, auch die dunkelsten Stunden in meinem Leben gelebt zu haben.“

Einander untergehakt und sich verbunden wissend wanderten die beiden Frauen weiter.

Der Abend hauchte träge seinen feuchten Atem über die Niederung der Flusslandschaft und hüllte sie ein.

Sie gingen langsam, sodass die alte Frau beim Gehen noch genügend Atem fand, um zu erzählen. Und die Junge hörte ihr zu und nahm dennoch in den freien Lücken, die Gerdis schwerfällig gewordenes Gedächtnis zwischen die Worte schob, die Einsamkeit und Stille wahr, die sich mit der aufziehenden Dunkelheit über das Ried legten.

Zweites Kapitel

Gerdi saß in ihrem Zimmer und hatte die zerpflückten Einzelteile der örtlichen Tagespresse um sich versammelt. Die Morgensonne spielte auf ihrem schulterlangen hennagefärbten Haar. Zwischen einer Mahagoni-Tönung versteckt, verrieten einige orange leuchtende Strähnen überdecktes Silbergrau.

Gerdi wirkte wesentlich jünger, als sie tatsächlich war. Kaum jemand schätzte sie auf ihr wirkliches Alter. Sie war keine schöne Frau im eigentlichen Sinne, aber sehr weiblich, attraktiv und beeindruckend in ihrer Lebendigkeit. Ihre Körpergröße und kraftvoll zupackende Art standen in reizvollem Gegensatz zur Feingliedrigkeit ihrer schlanken Arme, den schmalen Gelenken und dem langen, schön geformten Hals. Die Gegensätzlichkeit, die Gerdis Körper in sich vereinte, schien ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit zu sein.

Träge blätterte sie in der Zeitung, fischte lustlos die Rubrik „Kontaktanzeigen“ heraus und las.

„Er sucht Sie“ – gepaart mit einem kleinen Schuss Hoffnung schien das Lesen der Annoncen fast so gut wie eine Kombi-Packung Filmtabletten gegen freudlose Nächte und entsetzlich einsame Wochenenden.

Langsam tickerten die Anzeigen durch Gerdis Kopf in Richtung Barometer.

Ihr Bauchbarometer war genau an der Stelle angesiedelt, wo empfindliche Schläge die Magengrube treffen konnten. Ein kleines seismographisch genaues Frühwarnsystem hatte sich dort eingenistet, und Gerdi hatte es ausreichend erprobt in einem bewegten Leben.

Die Messskala „Partnersuche“, an der die Kontaktanzeigen vorbei tickerten, reichte dabei von „nichts sagend“ über „vielleicht – mal sehen“ bis hin zu „Volltreffer“.

Nur blieb der Zeiger fast ohne Ausnahme auf der Negativseite hängen. Manchmal schlich er aber doch zögernd weiter. Fast unmutig quälte er sich dann in den grünen Bereich, sodass Gerdi schon beim bloßen Nachspüren die Lust verließ.

Warum suchen eigentlich so viele Männer eine Frau zum Pferdestehlen?

 

Trauen die sich alleine nicht?

Warum hält keiner ein Pferd bereit, um mit seiner Herzdame übers Land zu reiten?

Aber vielleicht gehört das ja auch zu den Dingen, die ich nicht verstehe … zu wörtlich, zu ernst genommen … eindeutiger Verstoß gegen die Spielregeln!

Es gibt keine Ritter, keine hingebungsvollen Helden, einfach nur: Er sucht Sie!

Ist das so schwer zu kapieren, Gerdi?

Ach nein, danke! Nicht noch mehr Halbheiten!

Sie legte den Anzeigenteil zusammen und versuchte, das Zeitungschaos halbwegs zu ordnen. Es war Sonntagmorgen, Zeit noch ein wenig zu dösen. Vom Stall her drang durch das gekippte Fenster gedämpft der tiefe kehlige Ruf einer Kuh, die vor kurzem als letzte aus der Mutterkuhherde gekalbt hatte und jetzt nach ihrem Nachwuchs rief.

Ausgestreckt auf ihrem Bett fixierte Gerdi die Maserung der Holzdecke über sich. Schläfrig schlüpften ihre Gedanken hinauf zu den alten Balken und Bohlen. Sie verloren sich in den Spalten, verschwanden in den Rissen.

Auf wie viele Bewohner hatte diese alte Decke eigentlich bereits herabgesehen? Wie viele Leben waren unter ihr geboren und gelebt worden? Wie viel Freude, wie viel Leid und Hoffnung sind im Blick der Augen zu ihr hinaufgewandert?

Vielleicht hatte die Last dieser verflossenen Geheimnisse sie mittlerweile müde gemacht, da sich die Decke zur Mitte des Zimmers hin merklich senkte. Vielleicht neigte sie sich aber auch den Menschen zu, tröstend und erstaunt über deren große und kleine Dummheiten, ihre Liebesnächte und verzweifelten Tränen. Und wäre es ihr möglich gewesen, sie hätte sicher ihren schweren, hölzernen Kopf geschüttelt über die Unrast, mit der die Menschen unter ihr lebten. Sie verstand die Menschen nicht. In ihrer jeweils eigenen Art waren sie einander zu fern, obwohl nur ein wenig Luft sie trennte.

Es war aber ein leises Ahnen in ihr, – tief drinnen zwischen ihren Holzfasern, dort wo die Langsamkeit der Zeit manchmal noch ein kurzes, trockenes Knacken hervorbrachte –, dass der Menschen Unruhe und Drang nach Veränderung der kurzen Verweildauer entspringen mochten, die ihnen auf dieser Erde gegeben war.

Sie hingegen hatte schon ein ganzes langes Leben gelebt, bevor sie in dieses Haus kam und bevor sie hier zu ihrer neuen Bestimmung fand.

Jetzt war auch das Haus schon alt geworden, sehr alt und noch immer war ihr Ende nicht in Sicht.

Aber ganz allmählich nagte die Zeit auch an ihr. Sie wurde noch ein bisschen dunkler, zerfalteter und geriet ein wenig aus den Fugen.

Das Alter formte sie – zärtlich, aber bestimmt.

„Gerdi!?“

Langsam drängte sich ihr Name ins dämmernde Bewusstsein.

„Gerdi, bisch du in dei’m Zimmer?“

Sie war eingeschlafen gewesen.

Paul stand unten im Hof und rief nach ihr. Er wollte fahren.

Gerdi sprang auf, lief noch etwas benommen vom Schlaf zum Fenster und rief hinunter:

„Ja, bin ich. Warte kurz, ich komme gleich!“

Sie rieb sich einen Rest Schläfrigkeit aus den Augen und zog den dicken grauen Pullover über. Es war ihr Arbeitspullover. Der hatte sie nun schon viele Jahre begleitet. Auf jedem Hof, auf jedem Acker war er dabei gewesen. Gute Wolle, fest gesponnen und doppelt verstrickt, sodass kein Wind durchpfiff, auch wenn er ihr oftmals heftig ins Gesicht blies.

Heute lockte draußen eine verführerische Sonne von einem blau weißen Himmel, aber es war noch recht kühl. Ein frischer Ostwind trieb die letzten Winterfetzen vor sich her, fegte sie spielend übers Land und hielt hier und da vereinzelte Schneewehen lebendig, die sich in schattigen Gräben festgesetzt hatten.

Paul saß bereits im Auto und wartete.

Gerdi zog die Haustüre hinter sich zu, sprang mit einem Satz die drei Stufen hinunter, lief zum Wagen und setzte sich neben Paul.

Die beiden fuhren entlang der Felder, die nahe am Hof lagen und weiter zu den entfernter gelegenen Äckern. Immer wieder hielt Paul an, sie stiegen aus, zogen junge Getreidepflanzen aus dem Boden, begutachteten deren Bestockung und prüften die Bodengare und Durchwurzelung.

Das Wintergetreide stand bereits recht ordentlich da, ein sattes Grün wechselte sich ab mit dem Braun fetter Erde.

Die schüchterne Wärme der Sonne an diesem frühen Apriltag zauberte einen milchig dunstigen Schleier über die Weite der Ebene, auf der die Felder in weitem Umkreis verteilt lagen und überzog die Landschaft mit sanften Pastelltönen. Altrosa, Zartgrün, Blassblau und Schlüsselblumengelb mischten sich zu einem perfekten, großartigen Bild. Aus der Ferne schimmerten silbrig hell die Weiden eines Auenwaldes herüber, den Horizont säumten entfernte Hügelketten.

Beim Anblick der Riedlandschaft, die reizvoll in ihrer Offenheit und Weite vor ihr lag, machte Gerdis Seele einen Sprung und flog hinter einer kleinen Schar früh zurückgekehrter Stare her, die mit ihrem glänzenden Gefieder durch das klare, kalte Blau segelten.

Mit den ersten Zugvögeln war auch ein wenig mehr Leichtigkeit in Gerdis Welt zurückgekehrt. Die schweigende Starre des langen Winters hatte dem lebendigen Treiben und Werben der gefiederten Gesellen Platz gemacht. Ihr aufgeregtes Gezwitscher durchzog die hellblaue Vorfrühlingsluft gleich den bunten Bändern, die bald wieder an den Maibäumen in den Dörfern flattern würden. Das geschäftige Hüpfen und Zirpen in jedem Busch weckte ihre eigene Lust auf Bewegung und die Freude darauf, wieder im Garten und auf dem Feld zu arbeiten.

Hey, da seid ihr ja wieder, ihr kleinen Vaterlandsverräter!

Die härteste Zeit im Jahr habt ihr uns hier selbst überlassen. Keine sehr feine Art, wenn auch verständlich.

Aber wo kommen wir denn hin, wenn jeder gleich die Flucht ergreift?

Sie atmete tief, als könne die Luft nicht nur ihre Lungen, sondern auch ihr Herz mit Zuversicht füllen.

In Momenten wie diesem glaubte sie, dass ihre Entscheidung, hier geblieben zu sein, richtig war. Sie schaute sich nach Paul um, drehte bei und setzte zur Landung an, mitten hinein in die Wirklichkeit und in die dicke Qualmwolke seiner Havanna.

Paul, ein großer Mann mit einem charmeurhaften Lächeln unter dem Dreitagebart, ließ gerade eine Handvoll feinkrümeliger Erde durch seine langen Finger rieseln und sah nachdenklich in den Himmel, nach Westen – dahin, wo für gewöhnlich das Wetter herkam.

„A baar trock’ne Dag no’ ond mer koa zum Hacken raus fahr’n, oder? Was moinsch’d?“, fragte er Gerdi.

„Mir soll’s recht sein. Besser, wir legen los, sobald es geht. Wer weiß, wie lang es noch gut bleibt.“

„Früh dran sin’ mer heuer. So war’s scho’ lang net mehr. ’s koannt’ sei, dass es net ganz schlecht wird …“

„Na ja, wir schauen mal, ob das Wetter mitspielt. Wegen mir kann es losgehen.“

Ja, das Wetter!

Es hatte sie während der gesamten Ernte im vergangenen Herbst nicht im Stich gelassen.

Ein langer goldener Herbst war es gewesen. Kaum ein Regentag hatte sich in die Erntezeit geschoben. Sie hatten das Wurzelgemüse und die Zwiebeln trocken und sauber ins Lager gebracht. Ein glücklicher Umstand war es gewesen, der während der Winterarbeiten im Gemüselager ihre Arbeit enorm erleichterte.

Noch sehr gut erinnerte sich Gerdi an ihr mulmiges Gefühl beim ersten Anblick der riesigen Erntemengen, die mit jeder weiteren Hängerladung Gemüse zu meterhohen langen Halden in der Lagerhalle aufgeschüttet wurden.

Sie konnte sich damals nur schwer vorstellen, dass diese gewaltigen Mengen Gemüse irgendwann einmal gewaschen, sortiert, abgepackt und verkauft sein würden. Nach vielen langen und kalten Wintertagen am Fließband und an der Waschanlage wusste sie es besser.

Die letzte Erntezeit war brechend voll gewesen mit Arbeit. Trotz allem aber waren es für Gerdi bessere Zeiten als heute. Damals gab es noch eine Liebe zwischen Paul und ihr, wenn auch eine ungewöhnliche.

Es war die Zeit, als Gerdi auf Pauls Hof gezogen war.

So wie heute, war es auch früher immer auf ihren Feldrundfahrten.

Die kleinen Gespräche über das Wetter, das Erwägen, wie sich Arbeit und Ernte entwickeln würden und Pauls vertrauter Ausspruch, dass es „net ganz schlecht sei“. Nicht ganz schlecht – das hieß immer: wir haben gemacht, was wir konnten, und wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Es hieß auch, sich kleine Fehler verzeihen zu können, Zugeständnisse an die eigene Unzulänglichkeit zu machen und mit dem Wettergott, dem unzuverlässigen Mitstreiter, seinen Frieden zu schließen.

Nicht ganz schlecht!

In diesen drei Worten steckte auch eine Hoffnung und hinter der Hoffnung verborgen saß die Angst – eine alte menschliche Angst vor Not, vor Armut und Verlust.

Nicht, dass sich Pauls Angst in den Vordergrund gedrängt hätte, nein, sie war vielmehr ein Teil des Motors, um weiterzumachen, um täglich das komplexe Hofgefüge mit all der Arbeit und Verantwortung, die daran hing, zu stemmen und weiter zu entwickeln. Für Paul war die Angst gewissermaßen eine seiner Antriebsfedern, mit deren Zugkraft er den Hof zu dem gemacht hatte, was er heute war.

Ihr gemeinsamer Austausch über den Zustand von Getreide und Gemüse, über die Entwicklung der Kartoffeln, der Zwischenfrucht und Grünbrache, über die Beschaffenheit und Pflege des Bodens war ihnen beiden wichtig.

Paul war Bauer mit Leib und Seele. Er war immer bestrebt, seinen Betrieb und den Erfolg seiner Arbeit zu optimieren. Es machte ihm Spaß, Neues auszuprobieren. Und umso wichtiger war es, genau hinzuschauen, was sinnvoll war oder was er verändern musste, wie Arbeitszeit eingespart und Arbeitsabläufe erleichtert werden konnten.

Ihre vielen kleinen Gespräche brachten neue Erkenntnisse und warfen Fragen auf.

Die Fragen halfen Paul, seine Erfahrungen zu sortieren und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Ihre Gespräche waren ein Teil ihrer gemeinsamen Arbeit – der Arbeit, die Gerdi und Paul noch immer miteinander verband.

Paul hatte Gerdi vom ersten Tag ihres Kennenlernens an in seine Arbeit eingebunden.