Von diesem Sommer bis zum nächsten

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Fünftes Kapitel

Jetzt schob Gerdi die Erinnerung an diese erste Begegnung mit Paul beiseite.

Sie war fast angekommen in ihrer alten Heimat und in der kurzen Zeit, die ihr hier blieb, wollte sie ganz da sein.

Als sie die Türe aufschloss, schlug ihr laute Hip-Hop-Musik entgegen. Oder war es Rap? Den Unterschied hatte sie nie wirklich verstanden, obwohl Leon es ihr schon öfter und ausführlich erklärt hatte. Aber das war ihr jetzt egal. Auf jeden Fall signalisierte die Begrüßungsmusik, dass Leon zuhause war. Und sie freute sich, wieder bei ihm zu sein.

„Hi, mein Schatz, wie geht’s dir? Komm, lass dich drücken!“

„Joooah, alles klar, passt schon. Und bei dir?“

„Na ja, ganz gut …“

Ein kurzer Blick in die Augen und beide wussten, dass es nicht stimmte – nicht bei Leon und nicht bei Gerdi.

„Du, sei so lieb und mach mir einen Getreidekaffee, mit viel Milch, du weißt schon. Und bitte, mach die Musik leiser, so können wir uns unmöglich unterhalten.“

„Aber die ist doch schon ganz leise!“

„Ja, ja, natürlich, aber nur für deine Ohren, also bitte …“

Das gedehnte Grummeln aus dem Hintergrund und ein kaum wahrnehmbares Absenken des Geräuschpegels ließen Gerdi vermuten, dass Leon ihrer Bitte nachgekommen war.

Diese kleinen Streitereien!

Früher, als Gerdi und Leon noch zusammen gelebt hatten, gingen sie ihr ziemlich auf den Geist. Sie zogen ihr oft den letzten Tropfen Energie ab, den sie nach einem langen und harten Arbeitstag noch in sich hatte. Streitereien – um was eigentlich?

Um die nicht erledigten Arbeiten im Haushalt, um sein unordentliches Zimmer, um die Kleidung, die ganz bestimmt nicht zum Wetter draußen passte, um das Essen, das mal wieder nicht schmeckte, um die schlampig oder gar nicht erledigten Hausaufgaben … geschenkt! Im Grunde nichts Ernstes. Es war wohl eher normal, zeitgemäß sozusagen.

Leon war sechzehn und steckte irgendwo inmitten der Blütezeit seiner Pubertät fest.

Seit Gerdi zu Paul gezogen war, lebte Leon mit seinem Vater zusammen.

Leon war nicht bereit gewesen, seine Freunde und die gewohnte Umgebung zu verlassen und Gerdi wollte nicht bleiben. So hatte sich Leons Vater entschlossen, für sich und seinen Sohn eine Wohnung anzumieten, damit Leon weiterhin an dem Ort leben konnte, an dem er bleiben wollte und hatte somit Gerdi den Weg einer freien Entscheidung ermöglicht.

Jetzt musste Gerdi in sich hinein grinsen, wenn sie an die täglichen kleinen Querelen mit Leon zurückdachte. Und irgendwie fehlten sie ihr sogar. Dem Schlagabtausch ihrer Konflikte haftete eine Lebendigkeit an.

Es war Leons Suchen und Ringen um seine Wirklichkeit, seinen Weg, seine Persönlichkeit, seine Stärken und Schwächen und gleichzeitig auch ihr eigenes Bemühen, ihn nicht gänzlich einer Welt zu überlassen, deren Ziele und Wertmassstäbe sie unerträglich fand. Im Grunde waren es kleine Kämpfe, in denen sie sich sagten:

Schau her, das bin ich! So denke ich und so sehe ich die Welt!

„Du, sag mal“, fragte Gerdi, „wie läuft’s eigentlich in der Schule? Kommst du klar?“

„Na ja, geht so. Hab in Mathe eine Vier Minus geschrieben – Kurvendiskussion …“

„Und warum? Hast Du nicht gelernt oder hast du es nicht verstanden?“

„Ja, doch, schon. Aber irgendwie … im Übrigen war’s genau der Klassendurchschnitt. Die anderen war’n auch nicht besser.“

„Doch, Leon, das glaube ich aber schon! Ganz sicher waren Einige besser und Andere waren dafür eben noch schlechter. Und ich glaube, das weißt du ganz genau! Wahrscheinlich hast du wieder am Abend vor der Arbeit angefangen zu lernen.“

„Ja, kann sein … ich hab einfach keinen Bock mehr! Im Übrigen ist der Lehrer blöd.“

„Bitte?“

„Ja, er ist blöd und ich mag ihn auch nicht.“

„Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn. Vermutlich ist dein Lehrer nicht halb so blöde, wie du annimmst. Und selbst wenn er es wäre – das spielt doch überhaupt keine Rolle. Auch ob du ihn magst oder nicht, ist völlig uninteressant. Hier geht es einzig um dich, um deine Ausbildung, um deine Zukunft.“

„Hey, weißt du was – es nervt langsam. Lass mich einfach in Ruhe damit!“

„Kann sein, dass es dich nervt, Leon. Aber was erwartest du eigentlich von mir? Dass ich deine Null-Bock-Haltung akzeptiere? Ich bin deine Mutter und du bist mir nicht egal. Warum kapierst du nicht endlich, worum es geht?“

„ …“

Schweigen.

Leon hippelte mit beiden Beinen auf dem Boden und fixierte äußerst konzentriert die Zimmerdecke. Er hatte sich mittlerweile in seine „Ich-bin-nicht-da-Welt“ gebeamt und somit das Gespräch beendet.

Na klasse – das hab ich doch mal wieder geschickt hingekriegt!

Kaum bin ich hier, liegen wir uns schon wieder in den Haaren.

Ob sich eigentlich so eine Spannungskurve, die eben steil nach oben schoss, wohl auch mit einer Kurvendiskussion berechnen lässt?

Wäre doch sicher ganz spannend, mal herauszufinden. Vielleicht mit den entsprechenden Koordinaten und einer mathematischen Formel: Also wenn z. B. der Erwartungsdruck der Mutter X wäre und im Verhältnis stünde zum Befindlichkeitswert Y des Sohnes, dann ließe sich unter Einbeziehung weiterer Werte und Schnittstellen vielleicht der Zeitpunkt im Voraus berechnen, wann die Spannungskurve steil ansteigt. Ich könnte dann in Zukunft ja kurz vorher auf die Toilette gehen oder zum Bäcker. Das wäre vielleicht ein Erfolg versprechender pädagogischer Ansatz!

Vermutlich aber nur für Herrn Einstein und ähnlich lichte Geister praktikabel.

Ich werde es wahrscheinlich doch anders lösen müssen.

„Hey, Leon“, lenkte sie schließlich ein, „wollen wir uns nicht wieder vertragen?

Um zu grummeln ist unsere Zeit eigentlich zu schade. Es tut mir Leid wegen vorhin. Ich weiß, dass es kein Weg ist, so miteinander zu reden. Komm, erzähl mir lieber, was du gerade so machst und denkst.“

„Schon in Ordnung, kein Ding.“

Leon machte eine abwehrende Bewegung. Auch er wollte keinen Streit mit seiner Mutter und wechselte das Thema.

„Ich kann dir ja mal meine neue CD vorspielen. Hab ich die ganze Woche schon laufen lassen, hör mal! Gefällt’s dir?“

Leon schob eine CD in die Anlage und spielte Gerdi seine Lieblingssongs daraus vor. Sie hatte es sich auf Leons Bett bequem gemacht und hörte zu. „Und“, fragte Leon, „wie findest du’s?“

Gerdi schwieg einen Moment, bevor sie Leon antwortete:

„Naja, also, die Musik find ich nicht schlecht. Der Part mit der Klaviermusik im Hintergrund gefällt mir sogar ganz gut. Aber weißt du, Leon, dieser rohe und verachtende Text, der manchmal so abartig brutal rüberkommt, ist einfach heftig. Was soll sich denn daraus an Veränderung ergeben? Und wohin soll das führen, wenn nicht zu Hass und Gewalt?“

Leon verdrehte die Augen.

„Okay, du verstehst es einfach nicht!“, entgegnete er genervt.

„Oh, Mann! Es geht doch nicht darum, Hass und Gewalt zu erzeugen, sondern zu zeigen, dass genau das die Situation von vielen Jugendlichen ist. Dass es eben scheiße ist, so wie’s läuft. Dass vielleicht schon die Alten keine Arbeit haben und die Kids eben auch keinen Job kriegen, weil sie unter völlig miesen Bedingungen leben. Und Viele haben einfach keine andere Chance, als sich mit Dealen ihre Kohle zu verdienen oder indem sie irgendwelche Dinger drehen.“

„Ja, ja, ja, ist ja gut“, entgegnete Gerdi, „einesteils mag es vielleicht stimmen, was du da sagst. Aber andernteils stimme ich dir überhaupt nicht zu. Denn das, was du beschreibst, ist in gewisser Weise auch ein Klischee, das hier bedient wird.

Armut und Elend gab es doch schon immer und überall! Und trotzdem reagieren nicht alle Menschen gleich. Jeder Mensch bestimmt in jeder Situation, wie er sich entscheidet und wie er handelt, ob bewusst oder unbewusst, ob klug oder dumm, das sei mal dahingestellt. Aber er trifft seine eigene Entscheidung!

Und was ich bei dem, was du mir erzählst, vermisse, ist die eigene Haltung, die in eine andere Richtung weist.

Verstehst du, Leon, wenn ich Drogen verchecke und mich einen Dreck drum schere, dass ich andere damit ins Elend reiße, reagiere ich doch nach den gleichen Mustern, die andererseits aber angeprangert werden.“

Leon schüttelte den Kopf und sah seine Mutter an.

„Welche Muster? Ich versteh überhaupt nicht wovon du redest?“

Es war wie so oft – ihre Worte liefen aneinander vorbei.

Es war mühsam, eine Sprache zu finden, in der sie einander verstehen konnten. Für beide schien es so zu sein. Dabei war gerade die Musik oft ihr gemeinsamer Anknüpfungspunkt. Ihre wirklich guten Gespräche entstanden meist, wenn sie zusammen Musik hörten, – Leons Musik –, auf der Fahrt zur Schule oder wenn Gerdi, genervt über Leons Unordnung, in sein Zimmer polterte. Fast immer waren es kleine belanglose Alltagssituationen, die durch die Musik und ihre Auseinandersetzung darüber eine Bedeutung bekamen.

Hip Hop, Rap, „Gangsta“-Musik – manchmal stellten sich Gerdis Nackenhaare auf, wenn stumpfer Hass und ein verachtender Sexismus sie in dieser widerlich verrohten Sprache ansprangen. Dann zog sie schon auch mal ohne Diskussion das Kabel aus der Steckdose.

Aber neben all dem gab es auch noch etwas anderes, was bei diesen obercoolen Jungs mit dem finsteren Outfit mitschwang. Sie wusste, dass es falsch wäre, nicht hinzuhören, welche Aussage sich hinter ihrer Ghetto-Sprache verbarg. Diese Jungs waren schließlich Kinder unserer Zeit – Kinder einer Gesellschaft, deren Spiegelbild sie auf ihre Art und Weise zurückwarfen.

 

Und nichts anderes tat Leon.

Gerdi dachte zurück an die Zeit vor einem Jahr, als kaum ein Tag vergangen war, an dem nicht stundenlang die finstersten Rap-Songs aus den Lautsprechern dröhnten und bleischwere Videoclips über den Bildschirm flimmerten.

Fast war es ein schizophrenes Bild, in dem sich Gerdi mit ihrem Sohn gefangen sah. Vor dem Fenster schönste Landschaft, in der zufrieden im Zeitlupentempo Kühe auf der Weide grasten. Idylle pur!

Und drinnen im Zimmer tobte der Krieg im Dschungel der urbanen Vororte über die Mattscheibe. Aufgegebene Viertel, unkontrollierbare Zonen, heruntergekommene Blocks und Straßenzüge, trostlose Betonkästen. Paris, Detroit, Lyon, Berlin-Marzahn … wie auch immer sie heißen mochten und wo auch immer sie lagen, es spielte keine Rolle.

Hier zählten nicht die Grenzen zwischen Staaten und Kulturen. Hier zählte nur eine Grenze – nämlich die zwischen Oben und Unten.

Und eigentlich spielten auch die Ghettos keine Rolle.

Sie waren nur der Ausdruck einer zu Stein gewordenen Menschenfeindlichkeit. Sie waren lediglich Hülle und perfekte Kulisse für einen wahnsinnigen Film, den das echte Leben spielte. Die Hauptrollen darin waren verteilt auf die Menschen, die hinter den verwahrlosten und abweisenden Mauern lebten.

Auf Kinder, die in verdreckten, nach Urin stinkenden Hinterhöfen spielten, auf halbwüchsige Jungs, die im besten Fall ihre Energie mit dem Basketball im vergitterten Areal zwischen zwei Blöcken verspielten und auf minderjährige Mädels, die im Hauseingang darauf warteten, dass ihr Leben für einen kurzen Traum noch weiter in den Dreck getreten wurde.

Die weniger spektakulären Rollen gingen an die Alten, die hinter ihren Fenstern hockten und auf eine Welt starrten, die sie ausgesondert hatte und an die, denen nur noch vollgestopfte Plastiktüten und Heizungsschächte blieben.

Die Dramaturgie hatte System, war simpel und perfide und überall gleich:

Verpatzte Integration, Ausgrenzung und Gewalt; Profitgier, Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg; Perspektivlosigkeit, Kriminalität und Drogen; Entfremdung und soziale Verrohung … in unterschiedlicher Konstellation ergab sich daraus der Stoff für ein Horrorszenario in Endlosfolgen, das reichen würde bis in die nächste Ewigkeit.

Es war die Welt der ungeliebten und ausgespuckten Schmuddelkinder, die aus dem Bildschirm in Gerdis Seele kroch und mit ihr die Angst um Leon. Sein Kopf war voll davon.

Er sah nicht aus dem Fenster. Er ging nicht hinaus. Er sah keine Kuh und sah kein Grün und wenn, dann interessierte es ihn nicht.

Leon tauchte ab in eine Schattenwelt, die immer mehr Raum in ihm füllte.

Gerdi schätzte sein Interesse an sozialen Themen, aber sie fühlte die Unausgewogenheit seiner Wahrnehmung und dass etwas in ihm in bedenkliche Schieflage geraten war und zu kippen drohte.

„Warum, Leon?“

Gerdi stöhnte entnervt auf und schaltete das DVD-Gerät aus.

Es war nicht mehr zum Aushalten, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Warum dröhnst du dich den ganzen Tag mit dieser Musik zu? Siehst du nicht, dass die Welt noch aus etwas anderem besteht, als nur aus Dreck und Gewalt? Das ist nicht deine Welt! So habe ich dich nicht erzogen!“

„Woher willst du wissen, dass es nicht auch meine Welt ist?“

„Du bist nicht zwischen Müll und Betonwänden aufgewachsen, du hast diese Gewalt nicht erfahren! Was zieht dich da so an?“

„Verdammt, lass mich in Ruhe!“, schrie Leon sie an.

„Du hast doch nur deine scheiß Bauernhofwelt im Kopf, als wäre da irgendwas besser gelaufen! Schau doch mal hin, was aus deinem Leben geworden ist! Was gibt es denn da außer Arbeit und Stress?“

Okay! Der erste Treffer geht an dich, Leon.

Du hast einen empfindlichen Punkt erwischt.

Aber es geht mir nicht um einen Schlagabtausch, mein Kind! Ich will wissen, wonach du suchst. Du hast kaum noch Freunde, gehst nicht raus, wirst immer schweigsamer. Ich hab Angst um dich, hab Angst, dass du schlechte Wege gehst, hab Angst, dich zu verlieren, dich nicht mehr zu erreichen.

Und jetzt, Gerdi, pass auf, was du sagst! Halt dich zurück, auch wenn du bereits ahnst, dass es vielleicht gleich ungemütlich werden könnte für dich.

Worum geht es dir? Wahrheiten auszublenden oder deinen Sohn zurück zu gewinnen?

Sie setzte sich neben Leon.

„Was verbindet dich mit dieser Welt? Was hat sie mit deinem Leben zu tun?“

Leon schwieg.

„Leon, bitte, antworte mir!“

Er starrte geradeaus, an Gerdi vorbei, trostlos, mit einem blassen Gesicht. Und was sie daran erschreckte, waren seine Augen. Sie fand keine Freude darin, keinen Glanz. Kein Funkeln, das mit Mühe die Kraft und Lebensfreude in Zaum hielt, die sich eigentlich in seinem Alter dahinter hätte verbergen müssen.

Leon war groß, schlank, fünfzehn Jahre alt und auf seinem Gesicht zeigten sich, ungeachtet der in Abständen wiederkehrenden Kuschelattacken auf seine Mutter, zunehmend markantere Züge.

Als sie eine Antwort auf ihre Frage schon fast abgeschrieben hatte, wandte Leon seiner Mutter ganz unvermittelt sein Gesicht zu und begann zu sprechen:

„Willst du die Antwort wirklich hören?“, fragte er leise.

„Ja, Leon, freilich. Ich will dich verstehen können.“

„Weißt du, ich glaube es fing an, als wir letztes Jahr von Mattes’ Hof weggezogen sind. Vielleicht war’s auch schon davor … ich weiß es nicht mehr.

Diese drückende Stimmung, bevor du und Mattes euch getrennt habt, war ätzend.

Dir ging es nicht gut, du hast ständig geheult und fingst auch noch an, nichts mehr zu essen. Ich konnte nichts machen, wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte.

Aber das war alles nichts gegen die Zeit, die dann kam.

Als wir tatsächlich weggezogen sind. Als wir in diesem kleinen Holzhaus neben dem Bauernhof gewohnt haben, zusammen mit dem polnischen Landarbeiter und ich schon wieder auf einem scheiß Hof festsaß, im allerletzten Kaff, am Ende der Welt. Genau da, wo ich nie hin wollte.“

„Leon, ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Ich hatte keine Arbeit mehr und wir brauchten ein Dach über dem Kopf.“

Er sah sie etwas schief von der Seite her an.

„Ja, vielleicht war es so. Vielleicht war’s aber auch anders. Vielleicht wolltest du ja auch nur dein Ding durchziehen und einen Traum nicht loslassen, der längst verloren war. Und mich hast du mitgeschleppt, wieder weg von dem Ort, an dem ich mich endlich mal zu Hause gefühlt hab.“

In Gerdis Hals breitete sich zunehmend ein würgendes Gefühl aus. Das Bauchbarometer schickte Warnsignale nach oben.

Achtung, Sie verlassen jetzt die Sicherheitszone! Treten Sie zurück vom ungesicherten Randbereich! Achtung, Sie verlassen jetzt …

Es gab keinen anderen Weg, sie musste weitergehen. Schritt für Schritt und langsam, ganz langsam, um dabei den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Es ging um Leon, das war sie ihm schuldig.

Ihre Finger verhakten sich ineinander, als suchten sie nach einem Halt. Nach Irgendetwas, an das sie sich klammern konnte, um nicht abzustürzen.

„Du hast Recht, Leon. Mit einem Teil hast du Recht. Ich wollte einen Fuß in der Landwirtschaft behalten und versuchen, wieder auf beiden Beinen zu stehen. Ja, daran hing mein Herzblut! Es war meine Freiheit und Überzeugung. Das wollte und durfte ich nicht verlieren! Der andere Teil der Wirklichkeit ist, dass ich nicht weiß, ob ich … ob ich überlebt hätte in einem Zwei-Zimmer-Wohn-Klo mit Glasbausteinchen im Treppenaufgang, ohne Perspektive, ohne Ziel, ohne Aufgabe, ohne Arbeit.

Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder geschafft hätte, meinen Blick nach vorn zu richten ohne die Motivation, an meinem Traum festzuhalten, um ihn wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Das Loch, in das ich gefallen war, als wir von Mattes und dem Hof weggingen, war bodenlos. Und ich hatte noch nicht einmal den Grund erreicht, der Fall ging immer noch weiter. Ich wusste nicht, wo und wie er enden würde.“

Gerdis Stimme stockte. Sie hatte Angst, weiter zu sprechen. Mit jedem Wort, mit jedem Satz, den sie sich weiter wagte, drängten Bilder aus ihrer dunkelsten Zeit an die Oberfläche.

Gerdi sah Leon an.

Hinter der Staumauer in ihrem Innern schlugen die Tränen brodelnd gegen die Wand und drohten, den Damm zu durchbrechen.

Nein, bitte, ich will nicht!

Ich will nicht wieder weggespült werden von Tränen, die sich nicht mehr aufhalten lassen. Nicht wieder versinken in diesem unendlich tiefen Loch.

Ich will nicht! Ich will nicht!

Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, sich herunterzuzählen und mit dem Atem die Spannung, die sich schon gegen ihre Schädeldecke presste und sich in einer Explosion zu entladen drohte, aus ihrem Körper zu entlassen.

Als sie spürte, wie ganz allmählich der Druck nachließ, zwang sie sich, weiter zu sprechen:

„Wie oft hab ich damals im Auto gesessen, schreiend vor Angst, vor Wut und Scham, in einer wahnsinnigen Fahrt durch die engen Täler. Tausendmal gedacht: der nächste Baum gehört dir, Gerdi, den nimmst du mit! Brüllend über meine vermeintliche Blödheit und Unfähigkeit, dieses eine Leben, das ich hatte, ins Gute zu wenden. Ich fühlte mich, als wäre ich ein widerliches Monster. Ein Monster, dem es Recht geschah, hinausgeworfen zu werden.

Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich eine Frau, die es nicht wert war, geliebt zu werden. Mein Selbsthass war so groß, dass ich mich zerstören wollte. Deshalb hab ich nichts mehr gegessen. Diesen feigen letzten Notausgang wollte ich mir offen halten.

Ich weiß, dass ich dir all das gar nicht sagen dürfte und dass du das nicht wirklich verstehen kannst, Leon. Das ist auch nicht deine Aufgabe. Aber für mich gab es damals keinen anderen Weg, als dorthin zu gehen, wo ich mein Gemüse wieder anbauen konnte und wo sich mir die Bedingungen boten, den Verkauf wieder aufzunehmen, um davon zu leben. Ich habe damals keinen anderen Weg gesehen.“

Während Gerdi sprach, war sie ruhiger geworden. Der Damm hatte gehalten.

Aber aus Leon brach es jetzt heraus:

„Meinst du, ich bin total verblödet, dass ich nicht gemerkt hätte, was mit dir los war?

Aber hast du dich auch mal gefragt, wie’s mir damit ging? Wenigstens ein einziges Mal?

Du willst wissen, was ich mit diesen Ghetto-Kids zu tun habe? Warum ich mir diese Musik reinziehe und was ich da suche?

Diese Musik, die dich manchmal so ankotzt, ist mir sauwichtig!

Sie hat mir geholfen, weil ich da gesehen hab, dass es außer mir auch noch andere gab, denen es ebenso beschissen oder noch übler ging. Dass es andere gab, die auch so ein Leben hatten.

Weißt du, wie ich mich damals gefühlt habe?

Alle anderen in meiner Klasse und beim Fußball, die hatten ein normales Zuhause, eine schöne Wohnung. Die sind auch mal in Urlaub gefahren. Deren Eltern hatten eine normale Arbeit. Nicht so wie du, du hast ja eigentlich immer nur gearbeitet. Nie war Schluss, nie war Zeit für was anderes. Und trotz der vielen Arbeit hatten wir kein Geld, bis du dann eben auch noch nicht mal mehr eine Arbeit hattest! Zufälligerweise war das auch noch die Zeit, als mein Vater nicht wusste, ob er seine Arbeit behalten würde. Nee, klar, war echt super! Vielleicht auch noch beide Eltern arbeitslos und beiden ging’s beschissen!

Bei meinen Freunden waren die Mütter daheim oder wenigstens jemand Anderer aus der Familie. Meine Mutter war dann auch irgendwann mal zuhause, aber dummerweise wollte sie dann nicht mehr leben.

Und eine eigene Wohnung gab’s auch nicht mehr. Dafür hatte ich ein düsteres Zimmer im Kellergeschoss. Da hat man ganz besonders viel Lust, Freunde einzuladen!

Ich weiß nicht, aber damals, da ist einfach was zerbrochen in mir. Und – ich hab dort meinen Halt gesucht, wo’s anderen genauso ging.

Kapierst du das endlich?“

Plötzlich war eine tiefe Stille im Raum.

Eine Ruhe wie nach einem Sturm, wenn die aufgewühlten Elemente, die alles durcheinander gewirbelt hatten, sich beruhigten. Es gab jetzt nichts zu sagen. Leons Worte und die Botschaft, die sie enthielten, waren klar.

Gerdi suchte seinen Blick.

Vorsichtig nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, strich ihm die Haare aus der Stirn, küsste ihn und hielt ihn, fest und lange, und ihre Gedanken tauchten ein in die Kreise, die Leon um sich gezogen hatte.

 

Ich weiß, mein Kind, ich hab dich nicht schützen können.

Es wäre aber meine Aufgabe gewesen, das zu tun. Meine Angst hat auch dich mitgerissen. Mein Chaos wurde zu deinem.

Es tut mir verdammt weh, dich hier so sitzen zu sehen, umfangen von einer Welt, die nur eine Seite des Lebens zeigt, die Dunkle, die versteckt wird, solange es geht. Aber glaub mir Leon, du schaust am Leben vorbei.

Welche Sprache sprechen deine Lieder? Was zeigen dir die Filme? – Worte und Bilder!

Was machst du daraus? – Dir deine Wirklichkeit zurechtschustern!

Aber was ist ein Wort – und was ein Bild, mein Kind?

Es ist immer nur ein kleiner Teil der Wahrheit und zugleich ein Teil der Lüge; ein winziger Stein im unendlichen Baukasten menschlicher Imagination, ein Spot, auf den sich zufällig einen Atemzug lang der Lichtkegel richtet, ein Pixel im Gefüge der Welt, manipulierbar, dienstbar einer jeden Haltung und Nutzung.

Ja, schau nur in deinen Bildschirm!

Ich frage dich nochmal: Was siehst du wirklich? Eine heruntergekommene Wohngegend, okay. Asphalt, Beton und Zäune, okay. Junge Männer, die sich zusammenrotten, Messer in den Händen, hasserfüllte Gesichter, die dir ihren Frust vermischt mit den harten Beats um die Ohren hauen.

Ist das alles? Ist das wirklich alles?

Wie armselig!

Es erinnert mich an die Katze im Versuchslabor, die nie eine andere Form sah, als den schwarz-weiß gestreiften rechteckigen Kasten, in dem sie gehalten wurde. Sie konnte den kreisförmigen Ausgang in der Wand, der ihr plötzlich den Weg nach draußen eröffnete, nicht sehen, weil ihre Wahrnehmung ein Leben lang auf Geradlinigkeit ausgerichtet war.

Du hast aber in deiner Entwicklung andere Rezeptoren erworben.

Erinnere dich!

Erinnere dich an den Garten, der dich durch deine Kindheit begleitete; an das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach der kleinen Hütte, auf das du so gerne gelauscht hast! Und an unseren Ausflug in die Dunkelheit der Nacht, auf dem wir mit einer Laterne die kleine Welt zu unseren Füßen beleuchteten und die dir plötzlich wie ein Wunder erschien.

Erinnere dich an die Spiele mit deiner Schwester Luisa im Wald, an die langen Abende am Feuer mit dem duftenden warmen Stockbrot, von dem die Butter tropfte.

Erinnere dich, dass die Welt und die Form des Lebens, das dich umgibt, rund ist und dass im vermeintlichen Ende der Neubeginn bereits enthalten ist. Du brauchst gar nichts dazu zu tun. Es ist alles schon da.

Du musst nur wieder lernen, wach zu sein und deine Seele offen zu halten für das, was dir tagtäglich begegnet. Lerne, deinen Blick wieder auf die kleinen Wunder des Lebens zu richten.

Es ist nicht unmöglich, du konntest es mal. „Spielend“ einfach ist dir diese Welt der Wunder zugefallen. Geh ein Stück den Weg in dir zurück und hol sie dir wieder!

Vielleicht kannst du dann wahrnehmen, was auf dem Bild noch zu sehen ist.

Pass auf, ich sage dir, was ich darin sehe:

Unten, im rechten Bildrand zwischen der Hauswand und dem Stiefel des jungen Mannes, der ganz außen steht, ist der Gehsteigbelag aufgebrochen. Daraus wächst ein Busch hervor. Den hat keiner dahin gepflanzt. Der ist dort einfach gewachsen. Unter den miesesten Bedingungen hat er sich seinen Lebensraum erobert und wahrscheinlich war genau dieser Lebensraum seine Chance, überhaupt wachsen zu können.

Stell dir vor, der Wind hätte den Samen, aus dem er einmal entstanden war, einen Stadtteil weiter in den glatt rasierten und zurechtgestutzten Vorgarten von Familie Mayer geweht. Was glaubst du wohl, wäre dort mit ihm geschehen?

Okay, der Busch hatte keine wirklich guten Bedingungen, um sich zu entwickeln, vielleicht hat er dafür auch sehr lange gebraucht. Und klar, es gibt andere, die hatten es einfacher. Aber wichtig ist doch, dass er lebt, dass ihm Blätter und Früchte wachsen, wie all den anderen seiner Art.

So, wie er ist, und da, wo er wuchs, war er seine eigene Chance. Und – er hat sie genutzt!

„Leon“, begann sie leise, „ich bin unendlich dankbar, dass es dich und Luisa gibt. Mein Leben hat gehalten, so grade noch an einem einzigen dünnen Faden. Es hielt, weil es euch beide gibt. Was geschehen ist, tut mir sehr leid. Ich war verzweifelt darüber, ich habe oft geweint und mir Vorwürfe gemacht. Ich habe nicht nur um mich, sondern auch um euch geweint.

Leon, ich glaube, was in dir zerbrochen ist, ist das unbedingte Vertrauen ins Leben, das zur Kindheit gehört, wie die Sonne zum Tag. Und leider ist es viel zu früh passiert. Es wird Zeit, das Zerbrochene wieder zusammen zu fügen.“

Gerdi stand auf, machte die DVD, die sie zuvor abgewürgt hatte, wieder an und sagte:

„Komm, setz dich zu mir aufs Sofa. Lass uns das Stück von vorhin nochmal zusammen anschauen.

Ich hab mir ein paar Gedanken dazu gemacht. Pass auf, ich sage dir, was ich darin sehe: Unten, im rechten Bildrand, zwischen der Hauswand und dem Stiefel des jungen Mannes, der ganz außen steht, ist der Gehsteigbelag aufgebrochen …

Dieses Gespräch lag jetzt über ein Jahr zurück.

Der Boden, auf dem Leon und Gerdi sich allmählich aufeinander zu bewegten, war dünn, aber er hielt und hat sie beide getragen.

Leon hörte noch immer die gleiche Musik, sah dieselben Clips, chattete wild durchs Internet, votete für diesen und jenen Rapper … es war nach wie vor seine Welt.

Aber jetzt war sie mehr in seinem Bewusstsein angelangt.

Leon begann zunehmend, einen Blick auf die Welt zu richten, die ihn umgab. Er machte es auf seine Weise und mit seinen Mitteln. Er hatte einen weitaus deutlicheren Blick auf die Zustände der Gesellschaft, in der er lebte, als andere in seinem Alter und hatte sich vermutlich zum Ziel gesetzt, die Integration notfalls im Alleingang zu verwirklichen.

Seine Freunde kamen mittlerweile aus aller Herren Länder, und Leon fühlte sich zugehörig und verstanden im Babylon der Neuzeit.

Ich versteh dich, Leon.

Du bist sechzehn und du rebellierst, weil du spürst, dass etwas in der Welt gewaltig schief läuft. Du reagierst auf das, was dich direkt umgibt, ohne Vorwarnung und ohne Schere im Kopf. Du hast das Recht der Jugend für dich gepachtet, in dem es ein klares Schwarz und Weiß gibt.

Um die Erkenntnis der vielen Nuancen, die verbindend dazwischen liegen und auch ein Teil der Wahrheit sind, wirst du erst noch ringen müssen.

Manchmal auch mit deiner Mutter.