„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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Nach der Beerdigung gingen die Trauergäste in den Ratskeller, der sich auf dem Großen Markt befand. Opa sagte, das tue man, um „das Fell zu versaufen“. Meine Tante Gerda, die den Verlust ihrer Mutter nicht begreifen konnte, wollte lieber mit Monika und Christiane allein sein und nicht wie die übrige Verwandtschaft feucht-fröhlich feiern. Meiner Mutter machte der Tod ihrer Stiefmutter nichts aus und sie nahm mich gleich mit nach Hause. Dort begann sie sofort damit, unser Zimmer umzugestalten. Sie sagte zu mir: „Von jetzt an wirst du mit deinem Opa zusammen in Omas Bett schlafen. Da hast du viel mehr Platz als auf dem engen Sofa.“ Mir war es zu einen egal, zum anderen würde ich dann in Zukunft nicht mehr jedes Mal wach werden, wenn Mutter in der Nacht vom Tanzen heimkam.

Opa kam an diesem Tag erst spät am Abend nach Hause. Er war ganz schön angetüddelt, und was den Alkohol betraf, war er gewiss kein Kostverächter. Opa hatte nichts dagegen, dass ich jetzt neben ihm schlief.

Ich fand es so traurig, dass unsere Oma nicht mehr da war. Oft weinte ich mich in den Schlaf, denn jetzt hatte ich nur noch Tante Gerda, die lieb zu mir war. Außerdem war Oma eine Koryphäe in der Haushaltführung gewesen, was nach dem Krieg ganz gewiss nicht einfach gewesen war.

Ab sofort war es Mutters Aufgabe, den Haushalt zu führen und dafür zu sorgen, dass das Mittagessen auf dem Tisch stand, wenn ich aus der Schule kam und wenn Opa am Abend von unserem Laden oder vom Feld zurückkehrte. Ein großes Problem war es, dass Mutter jetzt in der Waschküche stand und für saubere Wäsche zu sorgen hatte. Sie beklagte sich über das Waschbrett und meinte, unter dem ewigen Rubbeln würden ihre schönen Hände leiden. Wegen ihres mangelnden Interesses am Kochen bestand sie darauf, dass ich ihr half. Das machte mir natürlich mehr Spaß, als für die Schule zu lernen. Aber das mit dem Kochen war so eine Sache, vor allem weil es für die Bevölkerung kaum genug Fleisch zu kaufen gab. Die Russen waren die größten Konsumenten von Fleisch und Wurst und auf dem Schlachthof wurde rund um die Uhr gearbeitet, damit sie sich auf unsere Kosten die Bäuche vollstopfen konnten. Unsere Befreier brauchten keine Lebensmittelkarten wie die arme Bevölkerung in unserer Region und die vielen Menschen, die Hunger litten. Nur an zwei Tagen in der Woche wurde für die Bevölkerung geschlachtet und immer noch gingen Menschen über Land hamstern und versetzten Gegenstände, die ihnen ans Herz gewachsen waren. Mutters Schwester Elli erhielt in ihrer Eigenschaft als Sekretärin auf dem Schlachthof wöchentlich ein Extrabudget an Fleischwaren, das sie sich mit ihren Schwestern Salli und meiner Mutter teilte. Meistens handelte es sich um Schweineohren, Spitzbeine und Schweineschwänze. Tante Gerda, Monika und Christiane kamen jeden Tag zu uns, weil ihre Versorgung über die Lebensmittelmarken nicht ausreichend war. Umso besser schmeckte ihnen das Essen, das Mutter und ich auf den Tisch zauberten.

Nun war Oma Hertha schon ein Jahr tot und unser Leben pendelte sich allmählich wieder ein. Mutter hatte jetzt ein sturmfreies Zimmer, in dem sich auch ihre Freundinnen sehr wohlfühlten. Eine von ihnen, Margot, hatte furchtbar dicke Waden und zog beim Sprechen immer eine Augenbraue hoch. Wahrscheinlich übte das auf Männer eine besondere Wirkung aus. Eine andere Freundin, Anneliese, hatte kaum Busen. Wenn sie tanzen ging, stopfte sie sich vorher Watte in ihren BH. Auch Mutter hatte ein Manko zu verzeichnen. Ihr fehlte vorne ein Zahn. So war sie auch schon in Perleberg angekommen, wir hatten es nur zunächst nicht bemerkt. Immer wenn es Essen gab, hatte sich Mutter ein Taschentuch vor den Mund gehalten und etwas darin eingewickelt. Nach dem Essen war sie aufgestanden, hatte das unbekannte Etwas wieder ausgewickelt und es sich in den Mund gesteckt. Natürlich hatte das meine Neugierde geweckt, weshalb ich sie darauf ansprach und erfuhr, dass sie vorne in ihrem Oberkiefer einen Zahn rausnehmen konnte. Ich zog an meinen Zähnen und stellte fest, dass sie sich nicht rausnehmen ließen. Meine Mutter erklärte mir, ihr fehle ein Zahn und sie hätte sich deshalb einen Ersatzzahn aus Wachs geformt. Diesen müsse sie aber beim Essen rausnehmen, um ihn nicht aus Versehen zu verschlucken. Weich werden durfte er natürlich auch nicht, indem er mit heißen Speisen in Berührung kam. Für einen neuen Zähne hatte Mutter leider kein Geld. Ich fand das spannend und fragte Mutter, wie man Zähne aus Wachs formen konnte. „Komm, wir gehen in mein Zimmer, dann zeige ich es dir!“

Als wir beide in ihrem Zimmer waren, holte sie eine kleine Schachtel aus ihrem Nachschränkchen, in dem noch einige Zähne mehr lagen. „Also, ich nehme etwas Watte und eine weiße Kerze, stecke diese an und träufle einige Tropfen Wachs darauf. Wie du sehen kannst, lasse ich das Wachs etwas fest werden, nehme alles zwischen meine Finger und forme mir daraus eine kleine Kugel. Die stecke ich mir in die Zahnlücke und modelliere den passenden Zahn. Nun brauche ich nur noch zu warten, bis der künstliche Zahn fest geworden ist.“ Sie sah mich abwartend an. „Und, Doris, was sagst du dazu?“

„Mutti, das ist einfach toll!“, sprudelte es aus mir heraus.

Sie war der Meinung, dass wir beide jetzt ein Geheimnis hätten.

„Ja, stimmt, ich erzähle es keinem Menschen, Ehrenwort!“

Der alte Zahn kam in das kleine Schächtelchen. So hatte Mutter immer einen Ersatzzahn, wenn sie doch mal einen verschlucken sollte. Ich fand das sehr lustig.

Opa Max hatte sich nach dem Tod von Oma Hertha allmählich wieder erholt. Er fand es gut, dass Mutters Freundinnen bei uns ein und aus gingen. Er war nie ein Kostverächter in Bezug auf Frauen gewesen, und so griff er ihnen ständig an den Hintern, was Mutters Freundinnen wiederum unverschämt fanden. Irgendwann beschwerten sie sich bei Mutter, die daraufhin zu Opa ging und ihn aufforderte, so etwas in Zukunft zu unterlassen. „Die Weiber sollten sich nicht so anstellen!“, antwortete er. „Was ist denn schon dabei?“

In der Schule mussten wir jetzt auch noch Russisch lernen, und das nur, weil unsere Besatzer bei uns in Perleberg lebten. Ich drückte mich vor allem, worauf ich keine Lust verspürte. Dazu zählte auch der Konfirmandenunterricht. Der Herr Pfarrer kam höchstpersönlich zu uns nach Hause, um meine Familie zu ermahnen, ich möge doch bitte am Unterricht teilnehmen, ansonsten würde Gott mich bestraffen und ich würde nicht eingesegnet werden.

Opa gefiel das gar nicht. „Doris, ab sofort bringe ich dich zum Konfirmandenunterricht“, sagte er.

„Nein, Opa, ich gehe da nicht hin! Der Herr Pfarrer hat gelogen, als er sagte, dass Oma in den Himmel kommen würde. Stattdessen ist sie in ein tiefes, schwarzes Loch gekommen. Sie fehlt mir so sehr, keiner hat mich mehr lieb!“

Er tätschelte meine Wange und erwiderte: „Wir haben dich doch alle lieb, meine Kleine!“

Doch was ich nicht wollte, dazu konnte man mich nicht zwingen. Also büxte ich einfach aus und erfand die unglaublichsten Geschichten.

Im Sommer fuhren wir mit der Schule aufs Land, um Kartoffelkäfer zu sammeln. Ich fand die kleinen gestreiften Käfer niedlich und konnte nicht verstehen, dass es Schädlinge waren, die unsere Kartoffelernte vernichteten. Immerhin gab es für jeden Käfer, den wir in ein Glas hatten, einen Pfennig. Inzwischen waren in meiner Spardose drei Mark und fünfundneunzig Pfennige.

Eigentlich hatte ich, egal wie man es betrachtete, bisher eine glückliche Kindheit gehabt. Doch wenn es Abend wurde und Mutter mich allein ließ, weil sie sich lieber mit ihren Freundinnen traf, kam ich mir verlassen vor und hatte unruhige Nächte. Einmal vernahm ich seltsame Geräusche und vermutete, meine Mutter sei endlich heimgekommen. Tatsächlich hörte ich ihre Stimme. Aber sie war nicht allein. Sie unterhielt sich mit einem Mann. Das weckte meine Neugierde. Leise richtete ich mich auf und stieg aus dem Bett. Das Licht wollte ich nicht anmachen, damit Opa nicht wach wurde. Ich tastete mich bis zur Tür, um nachzusehen, wer der Mann war, mit dem Mutter sprach. Dumm war nur, dass die Zimmertür abgeschlossen und die Scheibe in der Tür zugehängt war. So blieb mir nur das Schlüsselloch. Als ich hindurchspähte, erstarrte ich. Was ich sah, erschien mir unvorstellbar. Mutter und der Mann lagen nackt auf dem Sofa. Mutter hatte ihre Beine gespreizt und der Mann lag auf ihr drauf und machte komische Bewegungen. Beide schienen Spaß zu haben, denn ich hörte sie lachen. Als der Mann von Mutter runterging, wurden meine Augen immer größer, denn er hatte unten etwas Dickes, Langes zu hängen. Ich wusste, dass die Jungs und Opa Max in der Nacht in den Nachttopf, der unter unserem Bett stand, Pipi machten. Auch bei ihnen hatte ich unten herum schon so etwas Komisches hängen sehen. Aber was man noch damit machen konnte außer Pipi, davon hatte ich keine Ahnung. Ich war inzwischen ein Mädchen von zehn Jahren und wusste, dass das, was ich sah, nicht richtig sein konnte. Ratlos ging ich wieder zu Bett.

Als Mutter mich am Morgen weckte, war der Mann nicht mehr da. Voller Abscheu sah ich sie an. Natürlich erzählte ich ihr nicht, was ich durch das Schlüsselloch beobachtet hatte. In der Küche stand eine große Kiste aus Holz, die an diesem Morgen furchtbar stank. Ich fragte meine Mutter, was sich in der Kiste befinde. „Das sind geräucherte Bücklinge“, antwortete sie. „Eine Delikatesse, die es nur im Westen gibt.“

„Und woher hast du die?“, wollte ich wissen.

„Du weißt doch, Doris, dass die Fernfahrer, die aus dem Westen kommen und nach Hamburg fahren, durch Perleberg müssen. Sie machen auf dem Großen Markt Halt, um sich bis zum Morgen auszuruhen. Manchmal gehen sie auch tanzen und amüsieren sich.“ Sie verriet mir, dass einer dieser Männer ihr die Kiste geschenkt hätte. Ich schämte mich für meine Mutter und aß nichts von den Bücklingen. Umso lieber griffen Opa Max und die restliche Verwandtschaft zu, um sich an dem außergewöhnlichen Gaumenschmaus zu erfreuen. Ich fand, dass der Fisch bis zum Himmel stank, und stellte fest, dass ich mich nicht nur vor den Bücklingen ekelte, sondern auch vor meiner eigenen Mutter.

 

Dieses ungewöhnliche Erlebnis löste in mir etwas aus. Von nun an wartete ich jede Nacht, bis Mutter nach Hause kam. Meist war sie in Begleitung eines Mannes. Rasch nahm ich meinen Platz am Schlüsselloch wieder ein. In meinem Kopf und in meiner Seele fand eine Revolution statt. Ich sah Dinge, die für mich als Kind unvorstellbar waren. Das führte dazu, dass ich gegenüber meiner Mutter frech und aufmüpfig wurde. Manchmal drohte sie mir Schläge an. In diesen Momenten warf ich den Kopf in den Nacken und sagte: „Das tust du ja doch nicht!“

Wenn ich aus der Schule kam, sagte meine Mutter: „Du kannst gleich von meinem Teller essen.“

„Nein“, erwiderte ich, „ich möchte einen sauberen Teller haben und nicht von deinem essen.“

Meine Mutter sah mich fragend an. „Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Du hast doch bisher immer von meinem Teller gegessen.“

„Aber jetzt nicht mehr!“, konterte ich. Dabei blieb es auch.

Diese Ereignisse führten dazu, dass ich mein Herz verschloss. Den nächtlichen Platz am Schlüsselloch nahm ich vorerst nicht mehr ein.

Wenn Muttis Freundinnen zu Besuch waren, gab es nur ein Thema: Männer und wer sich mal wieder den schönsten von ihnen geangelt hatte. Und jetzt waren es eben die Russen in ihren braunen und grauen Uniformen. Natürlich gab sich meine Mutter nicht mit Muschkoten ab, es mussten im Rang höhergestellte Russen sein. Einmal spürte ich im Schlaf Hände, die meinen Körper streichelten und mich zu sich heranzogen, und irgendetwas Hartes wurde mir zwischen die Beine geschoben. In diesem Moment drehte ich mich um und stieß mit der Faust in die betreffende Richtung. Am nächsten Morgen hatte ich den Traum wieder vergessen.

Wie jeden Morgen weckte mich eines Tages meine Mutter, damit ich pünktlich zur Schule aufbrach. Eine Schüssel mit warmem Wasser stand auf einem Schemel vor dem Kachelofen, damit ich mich waschen konnte. Es war kalt in der Küche. Der Kachelofen war über Nacht ausgegangen, an manchen Tagen glomm morgens die Kohle noch schwach. Mutter kontrollierte natürlich meine Ohren und meinen Hals, um nachzusehen, ob ich mich richtig gewaschen hatte. Sie hatte mir meine warme Winterbekleidung schon zurechtgelegt. Mein warmes Unterhemd und das Leibchen mit Gummistrapsen für meine dicken Wollstrümpfe. Mein Kleid, das mir immer noch passte. Die Pudelmütze mit einer langen bunten Bommel und meine Fäustlinge, die Oma Hertha noch gestrickt hatte. Meinen Mantel hatte eine Freundin aus einer alten, mollig warmen Decke genäht. Wenn ich aus meinen Sachen rausgewachsen war, wurden sie von Christiane oder Monika getragen. In der Küche lag auf einem Holzbrett mein Marmeladenbrot, daneben stand mein heißer Tee, den ich im Winter trinken musste. Für die Pause hatte mir Mutter eine Stulle vorbereitet. Ein warmes Mittagessen gab es ja als Schulspeisung.

Als Opa Max am Abend nach Hause kam, ging er gleich auf den Hof, um die Kaninchen zu füttern. Ich folgte ihm und fragte, ob ich ihm dabei helfen dürfe. Er wandte mir den Rücken zu, und als er sich zu mir umdrehte und mich ansah, bekam ich einen großen Schreck. Opa hatte ein blaues Auge! Ich wollte wissen, was passiert war und ob es wehtat. Opa versicherte mir, es sei nichts Schlimmes, er hätte sich im Laden gestoßen. Seine Antwort war nachvollziehbar. Gemeinsam fütterten wir die Hasen, die inzwischen sehr groß geworden waren. Monikas und mein kleines Kaninchen waren von den anderen nicht mehr zu unterscheiden. Wir versorgten sie mit Heu und Stroh und hängten im Winter ihren Stall mit Säcken zu. Wieder einmal sagte Opa, dass er sich schon auf den Braten an Weihnachten freue.

In diesem Jahr herrschte eine Eiseskälte, die Perleberg über Nacht in eine weiße Winterlandschaft verwandelte. Wie von Geisterhand hatten sich an den Fensterscheiben Eisblumen gebildet. Sie sahen wie gemalt aus und waren wunderschön. Leider waren die Eisblumen verschwunden, wenn ich nach der Schule nach Hause kam, dafür hatten unsere warmen Kachelöfen gesorgt.

Wir Kinder erfreuten uns an Schneeballschlachten und mit unseren Schuhen aus Plastik ließ es sich besonders gut schlittern. Am Wochenende fuhren meine Freundinnen und ich zum Schlittenfahren in den Stadtpark. Was für ein Vergnügen! Wir waren außer Rand und Band und unsere Gesichter waren gut durchblutet. Wenn die Stepenitz zugefroren war, liefen wir Schlittschuh. Nicht jedes der Kinder besaß richtige Schlittschuhe. Stattdessen hatten manche von uns so komische Dinger, die man mit einem Schlüssel an den Schuhen festmachte, die aber meistens nicht an den Plastiksohlen hielten. Doch das hinderte uns nicht daran, uns zu vergnügen. Natürlich durfte der große Schneemann, den wir gemeinsam bauten, wenn es geschneit hatte, nicht fehlen. Am Abend fielen wir dann erschöpft in unsere Betten und schliefen vermutlich traumlos.

Weihnachten rückte immer näher! Opa Max hatte darauf bestanden, dass alle seine Kinder den ersten Weihnachtstag bei ihm verbrachten. So war es immer gewesen, als Oma Hertha noch lebte. Obwohl die Wohnung viel zu klein war, machte er sich keinerlei Gedanken, wo wir alle sitzen würden. Auch in diesem Jahr war Opa wieder ins Erzgebirge gefahren, um Spielsachen zu kaufen. Weil wir Kinder das mitbekommen hatten, sehnten wir den Heiligabend herbei. Da wir Weihnachtsferien hatten, tobten wir bis zum Abend auf der Straße und vergaßen darüber Gott und die Welt. Vor dem Haus von Bäcker Valentin standen die Russen mit ihren großen Lastwagen und wir erbettelten frisches Russenbrot. Meine Freundinnen und ich teilten uns im Hagen das frische Brot und stopften es in uns hinein. Die Enten, die am Ufer der zugefrorenen Stepenitz hockten, schnappten gierig nach jeder Brotkrume, die wir ihnen zuwarfen. Zwischen ihnen entfachte sich ein regelrechter Machtkampf.

Endlich stand Weihnachten kurz bevor. Opa war schon einen Tag vor Heiligabend in der Früh mit seinem Handwagen in den Wald aufgebrochen, um uns einen Tannenbaum zu holen. Er kehrte mit einer schönen Kiefer zurück, die er zurechtsägte, damit der Stamm in unseren Baumständer passte. Anschließend wollten Tante Gerda, Monika, Christiane und ich den Baum schmücken. Für gewöhnlich war in solchen Momenten die Aufregung groß, doch in diesem Jahr lag Traurigkeit auf unseren Seelen, weil Oma Hertha nicht mehr bei uns war. Die vielen Kisten mit Weihnachtsschmuck bewahrte Opa im Keller auf. Dabei handelte es sich um bunte Vögel, wunderschöne Kugeln in allen Farben, Sterne aus Stroh, geflochtene Eiszapfen aus Glas und reichlich Lametta sowie Engelshaar. Wir hatten lange zu tun und schmückten mit Begeisterung unseren Baum, was wie jedes Jahr nicht ohne Diskussionen zwischen uns Kindern ablief. Schließlich fehlte obenauf noch die schöne Spitze. Dafür benötigte Tante Gerda die große Leiter. Zuletzt drehte Opa die langen Kerzenhalter in den Baum und steckte weiße Kerzen hinein. Ein großer Eimer mit Wasser stand neben den Baum für den Fall, dass der Baum Feuer fing. Damals gab es ja nichts anderes als Wachskerzen, und die waren nicht ganz ungefährlich. Monika, Christiane und ich waren glücklich und wir freuten uns auf das, was kommen würde. Klar war, dass wir auch in diesem Jahr 1949 den schönsten geschmückten Weihnachtsbaum der Welt hatten. Nur einmal noch schlafen, dann gab es Geschenke für uns alle.

Als der Baum fertig geschmückt war, saßen wir zusammen in der Küche und aßen Erbsensuppe mit Speck – Gott sei Dank nicht mit Backpflaumen! Wie immer wurde gebetet. Anschließend half Tante Gerda meiner Mutter beim Abwaschen. Nebenbei pafften sie eine Zigarette nach der anderen. Wir Kinder spielten währenddessen am Küchentisch Käsekästchen. Opa war in sein Zimmer gegangen, um sein Mittagsschläfchen zu halten. Als dann auch Tante Gerda, Monika und Christiane nach Hause gingen, fragte ich meine Mutter, ob ich zu Irmgart gehen dürfe. „Ja, aber um 18 Uhr bist du mir wieder zu Hause!“ Ich zog mir meine dicke Jacke an und flitzte über die Straße. Die Haustür stand offen. Ich rannte die zwei Treppen nach oben und klingelte. Als die Tür aufging, stand Irmgarts Bruder Reinhart vor mir. Ich begrüßte ihn und er fragte mich, was ich wolle. „Ich möchte Irmgart besuchen“, antwortete ich. „Ist sie nicht zu Hause?“

„Komm rein, meine Schwester ist in der Küche, sie hilft Oma beim Plätzchenbacken.“

Ich zog mir die Jacke aus und setzte mich etwas schüchtern an den großen Tisch im Wohnzimmer, in dem es herrlich nach Plätzchen duftete. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass es hier viel sauberer war als bei uns zu Hause. Kein Wunder, denn Opa Max machte nie seine Schuhe sauber, wenn er von draußen hereinkam. Da war es verständlich, dass Mutter ihn ständig anmeckerte.

Endlich kam meine Freundin, die ein Jahr älter war als ich. Sie freute sich, mich zu sehen. Ihre Oma Luise fragte mich, was es bei uns zum Weihnachtsfest zu essen gebe, und ich erzählte von unseren armen Kaninchen, die ich bestimmt nicht essen würde. Irmgart sagte, bei ihnen gebe es eingelegtes Herz, sie würde aber viel lieber Kaninchen essen. Da kam mir eine Idee: „Soll ich Mutter fragen, ob du zu uns zum Essen kommen kannst?“

Sie schüttelte den Kopf. „Bloß nicht! Das würde meine Oma nie zulassen, und mein Bruder Reinhart schon gar nicht. Er sagt immer, wir seien arme Leute, aber man dürfe sich das nie anmerken lassen.“

Mit meinen zehn Jahren wusste ich nicht, was das alles für eine Bedeutung hatte. Ich betrachtete mich nicht als armes Kind und wahrscheinlich hatten wir mehr als andere Leute.

Irmgart und ich tranken heißen Pfefferminztee und Oma Luise stellte uns einen Teller mit Weihnachtsplätzchen auf den Tisch. Das war natürlich was für mich! Ich weiß nicht, worüber wir uns als Kinder unterhielten, aber wenn ich heute mit Irmgart telefoniere, heißt es meistens: „Weiß du noch?“ Oder: „Kannst du dich noch daran erinnern?“ Meine Freundin hatte als Jugendliche hochgesteckte Ziele, sie wollte unbedingt Kapitän auf einem großen Schiff werden. Natürlich kam alles ganz anders. Sie studierte in Ostberlin und wurde Lehrerin. Das erfuhr ich aber erst Jahrzehnte später.

Pünktlich um 18 Uhr war ich zum Abendbrot zu Hause. Es gab Schmalzstullen mit Harzer Käse, einen roten Winterapfel aus unserem Garten und heiße Milch. Opa Max tunkte sein Brot in die Milch, da er nicht mehr alle Zähne besaß. Nach dem Essen spielte ich noch mit meinen Puppen, während Mutter in der Küche saß, rauchte und in einem der alten Liebesromane las, die sie von ihrer Schwester Salli bekam, wenn sie diese ausgelesen hatte. Am Abend wurde ich von Mutter in der Küche gewaschen und ins Bett gebracht. Ich fragte sie, ob ich nicht mal wieder bei ihr schlafen dürfe. „Nein, das geht nicht“, antwortete sie mir. „Ich muss noch mal weggehen.“ Opa Max saß am warmen Kachelofen und las seine Zeitung. Unter meiner Bettdecke heulte ich mich leise in den Schlaf.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Bett neben mir leer. Opa musste bereits aufgestanden sein. Schlaftrunken ging ich hinüber in Mutters Zimmer, wo sie noch fest schlief. Ich fasste sie am Arm – keine Reaktion. Jetzt schüttelte ich sie und sagte: „Du musst aufstehen, wir haben Hunger!“

Sie rieb sich die Augen. „Was ist denn? Kann man nicht mal ausschlafen?“ Allmählich kam sie zu sich. „Ach, Kind, du bist es!“

„Ja, Mutter, Opa ist längst aufgestanden, aber ich kann ihn nicht finden.“

„Er wird in der Waschküche sein und ein Bad nehmen“, erwiderte meine Mutter. „Geh schon mal in die Küche und stell den Schemel vor den Ofen. Ich ziehe mich schnell an und mache nur Katzenwäsche.“

In der Küche trat ich ans Fenster und sah, dass die Kaninchen schon abgedeckt waren. Endlich kam Mutter, sie hatte sich ihre Kittelschürze übergezogen. „So, es kann losgehen!“ Während ich mir das Nachthemd auszog, goss Mutter warmes Wasser aus dem Kessel in die Schüssel. Mit Seiflappen und Kernseife wusch sie mich von oben bis unten. Irgendwann sagte sie: „Mach deine Beine auseinander, ich muss dich dort auch waschen.“ Ich machte mich stocksteif, weil ich sofort wieder vor Augen hatte, was ich in Mutters Zimmer gesehen hatte. „Nun mach schon!“, forderte sie mich auf. „Was ist denn in letzter Zeit mit dir los?“

Ich antwortete, ich sei schon groß und könne mich selbst waschen, wie meine Freundin Irmgart es tat. Oder ich könne in die Badeanstalt gehen wie sonst immer mit Oma Hertha.

„Oma lebt nicht mehr und du tust, was ich dir sage! Hast du mich verstanden?“ Mutter machten den Eindruck, als sei sie ungeduldig.

 

Mit genervtem Ton antwortete ich: „Ich bin doch nicht schwerhörig.“

„Sei nicht so frech, sonst bekommst du eine von mir, auch wenn wir heute Heiligabend haben.“ Als sie mich gewaschen hatte, legte sie den Seiflappen zur Seite und sah mich an. „Und nun zieh dich an, dann können wir frühstücken. Und geh Opa suchen!“

Opa war längst in seinem Zimmer und legte Holz im Ofen nach. „Guten Morgen, Opa“, begrüßte ich ihn. „Wo warst du?“

„Guten Morgen, Doris. Ich war in der Waschküche und habe gebadet. Ist das Frühstück fertig?“

„Ja, Mutter sagte, dass wir frühstücken können.“ Sie hatte inzwischen den Muckefuck aufgebrüht und Marmeladenbrote geschmiert. Opa aß lieber den schwarzen Honig aus Zuckerrüben, den er selbst hergestellt hatte und der fürchterlich an den Fingern klebte, weil er schneller vom Brot lief als in den Mund.

Nach dem Frühstück kam auch schon meine Tante Gerda, um Mutter bei der Zubereitung für das Abendessen zu helfen. Opa und ich gingen währenddessen zu den Kaninchenställen. Er fütterte die Tiere und nahm zwei von ihnen aus dem Stall. Mit der einen Hand hielt er sie an ihren langen Ohren fest und mit der anderen schlug er die Kaninchen einfach tot. Ich fand es schrecklich und weinte. Opa schickte mich ins Haus. „Das musst du dir nicht ansehen“, meinte er.

„Ich bleibe hier!“, protestiere ich.

„Hör zu“, fuhr Opa fort, „es ist kein schöner Anblick, wenn ich den Kaninchen das Fell über die Ohren ziehe. Ich lasse es gerben, denn es ist schön warm und heilt meine Rückenschmerzen.“

Ich schwieg und rührte mich nicht von der Stelle. Opa wickelte Strippen um die Pfoten und schließlich jede einzelne um einen der vier Nägel, die er zuvor an die Schuppentür genagelt hatte. Mit einem scharfen Messer schnitt er den armen Kaninchen den Bauch auf. Fluchtartig stürzte ich zu Mutter in die Küche und erzählte ihr, was Opa gerade machte. Mutter sagte, sie werde sowieso keinen Kaninchenbraten essen. Dafür werde sich unsere Verwandtschaft am ersten Feiertag umso mehr auf den Braten freuen. Wieder fragte ich mich, wie es Opa gelingen würde, uns in der kleinen Wohnung alle an einen Tisch zu bekommen. Aber Mutter und Tante Gerda würden das schon irgendwie hinbekommen.

Ich ging in die Stube, setzte mich an den warmen Kachelofen und las in „Max und Moritz“. Mutter verbrachte zusammen mit ihrer Stiefschwester Gerda, die mehr Erfahrung und Lust hatte, was das Kochen anging, den halben Tag in der Küche. Am heutigen Heiligabend würde es Kartoffelsalat und Pferdewürstchen geben und zum Nachtisch Mohnpielen. Den Mohn hatte Opa im Garten angebaut und Bäcker Valentin hatte ihn gemahlen. Wir Kinder aßen gerne reifen Mohn, allerdings war Opa der Meinung, zu viel Mohn mache doof. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich in der Schule keine Leuchte war. Die Kaninchen wurden mit Speck gespickt und bis zum ersten Weihnachtstag in die Speisekammer gelegt.

Den Rotkohl, den wir auch aus unserem Garten hatten, hatte Mutter schon gestern zubereitet, sodass er zwischendurch nur noch aufgekocht werden musste. Mutter sagte, umso besser würde er schmecken. Dazu sollte es Grüne Klöße geben, wie Oma Hertha sie immer zubereitet hatte.

Opa kam mit einer Kippe in die Küche und brachte gehacktes Holz für den Kochherd. Mutter wetterte sogleich los: „Kannst du dir nicht die Schuhe sauber machen, bevor du reinkommst? Du bringst uns den ganzen Schneematsch ins Haus!“. Und was tat Opa? Er schüttete die Kippe mit dem Holz mitten in der Küche aus und sagte: „Dann kannst du jetzt ja richtig sauber machen.“ Und weg war er. Mutter war sprachlos und ich freute mich insgeheim über Opas Reaktion.

Mutter hatte einen großen Topf mit Kartoffeln aufgesetzt, und als sie gar waren, pellten wir sie gemeinsam. Die Schalen bekamen unsere Kaninchen zu fressen. Ich durfte beim Kleinschneiden der Kartoffeln helfen und lauschte gespannt, worüber sich Mutter und Tante Gerda unterhielten. Es ging um einen Maskenball, der im „Deutschen Kaiser“, stattfinden sollte und den sie und ihre Freundinnen besuchen wollten. Das Zwiebelpellen lehnte ich ab, weil ich dabei immer weinen musste und mir die Augen brannten. Das Ergebnis unserer Vorbereitungen war eine große Schüssel Salat nach Oma Herthas Rezept. Als nichts mehr zu tun war, ging Tante Gerda nach Hause. Gegen 19 Uhr wollte sie mit Monika und Christiane wiederkommen. Bis dahin waren es noch Stunden, die mir viel zu lang vorkamen. Mutter machte sauber und ich ging mit Opa in den Laden, denn seit Kurzem befanden sich in dem Terrarium, das er dort aufgestellt hatte, weiße Mäuse, die er am Schwanz fasste und auf seinen Arm setzte. Daraufhin ließ er die Biester an sich hochkrabbeln. Ich mochte keine Mäuse, und Ratten schon gar nicht. Bei uns zu Hause hatte sich einmal eine Ratte in der Toilette versteckt. Als Oma Hertha auf die Toilette gehen wollte und die Tür aufmachte, saß die Ratte auf dem Spülkasten und sprang sie an. Oma schrie so laut, dass Herr Müller von oben angerannt kam und fragte, ob etwas passiert sei. Sie erzählte ihm, was sie mit der Ratte erlebt hatte. „Frau Lange“, sagte er, „als wir hier einzogen, hatte ich sogar Ratten in der Küche, die sich vom Keller bis zu uns in die Küche nach oben gefressen haben. In der Nacht hörten wir immer so komische Geräusche, und dann entdeckte ich das Loch hinter dem Kochherd. Ich habe es mit Glasscherben vollgestopft und eine Falle aufgestellt. Aber Ratten sind ja schlaue Biester, die haben den Braten wohl gerochen. Jedenfalls sind sie seitdem verschwunden.“ Herr Müller erzählte weiter, dass es jetzt nach dem Krieg überall Ratten gebe, meistens kämen sie aus zerbombten Häusern. Oma hatte nach ihrem Erlebnis jedes Mal Angst gehabt, wenn sie auf die Toilette musste. Sobald ich Opas weiße Mäuse sah, musste ich daran denken. Für Opa waren die Nager eine Sensation, um Kunden anzulocken. Viele Kinder kamen extra in den Laden, um sich die Mäuse aus der Nähe anzusehen. Opa nahm sie dann aus dem Terrarium und gab sie den Kindern in die Hand. Die meisten fanden sie total süß und streichelten sie. Opa führte dann gerne seine Kunststücke mit den Mäusen vor. Dazu ließ er sie in sein Hosenbein krabbeln und wenig später schauten die Mäuse an seinem Halsausschnitt heraus. Ich fand das überhaupt nicht lustig.

Während des Weihnachtsgeschäfts hatte Opa viele Spielsachen verkauft, darunter auch die Gehpuppen mit ihren Schlafaugen, die Monika, Christiane und ich so gerne gehabt hätten. Im Laden war es die ganze Zeit über sehr kalt gewesen, da es dort keinen Ofen gab. Warm angezogen half ich Opa, die Spielsachen aus den Kisten in die Regale zu stellen. Dabei zog ich alles auf, was sich bewegen ließ. Eine Spieluhr aus Lack hatte es mir besonders angetan. Wenn ich sie mit dem Schlüssel aufzog, öffnete sich der Deckel und eine kleine Tänzerin drehte sich nach der Musik und tanzte. Ein bunter Brummkreisel flitzte über den Fußboden und ein großer Teddy brachte meine Augen zum Leuchten. „Opa, so einen Teddy hätte ich auch gerne! Den würde ich mit in mein Bett nehmen, dann wäre ich nicht mehr so alleine. Mutter kommt ja immer spät nach Hause. Es war so schön, als Oma noch lebte, und jetzt ist alles so doof.“

„Ja, Doris, ich bin auch sehr traurig, dass sie nun im Himmel wohnt.“

„Opa, das stimmt doch gar nicht!“ Zornig stampfte ich mit dem Fuß auf. „Der Herr Pfarrer ist ein Lügner!“