„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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An den Abenden gingen meine Mutter und ihre Stiefschwester wieder ihren alten Gewohnheiten nach. Sie kannten sich ja bestens aus mit dem, womit sie sich vor dem Krieg vergnügt hatten. Nur das jetzt Mutters Mann mit von der Partie war und mehr trank, als er vertrug.

Durch den Krieg waren viele der schönen Fachwerkhäuser beschädigt worden. Das große Rathaus und die St. Jakobi Kirche hatten kaum etwas abbekommen, nur zwei der schönen bunten Kirchenfenster waren zu Bruch gegangen. Das Hotel Deutscher Kaiser mit seinem Ballsaal existierte noch. Hier hatte angeblich der deutsche Kaiser übernachtet. Seine Büste auf einem Sockel steht vorne im Empfang. Und im Ballsaal hängt immer noch der große Lüster aus einer anderen Epoche. 1945 war das Hotel von Otto Brinker übernommen worden und nannte sich seitdem „Hotel Brinker“. Auch das Hotel Stadt Magdeburg mit seiner bunten, gläsernen Tanzfläche hatte den Krieg überlebt.

Meine Mutter besaß die schönsten Kleider, die auch ihrer Stiefschwester passten. Wir Kinder sahen ihnen interessiert zu, wenn sie sich für den Tanzboden zurechtmachten. Für die Augenbrauen benutzten sie abgebrannte Streichhölzer und die Wimpern wurden mit Spucke und schwarzer Farbe getuscht. Wenn sie sich die Haare gewaschen hatten, drehten sie sich diese mit Zuckerwasser ein, da es zu der Zeit noch kein Haarspray gab. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen!

Mutter trug Unterwäsche aus Fallschirmseide. Ihre Handtaschen und das Portemonnaie waren aus Schlangenleder. Ich fragte mich, wieso es ihr und Gerhard so gut ging. Woher hatten sie das viele Geld, wo es doch anderen Menschen so schlecht ging. Opa Max und Oma Hertha arbeiteten schwer, um uns alle zu versorgen. Wenn er nicht im Garten arbeitete, sammelte Opa im Wald Holz und Borke und ging wie jeder in Perleberg Stubben roden für unseren großen Kochherd und die Kachelöfen. Dann gab es Bratäpfel, die lecker schmeckten.

Opa kehrte von der Straße Pferdeäpfel auf, die es wegen der berittenen russischen Soldaten in der Stadt reichlich gab, und verwendete sie als Dünger. Dafür wurden wir mit dem größten Gemüse – Kürbis, Kohl und Gurken – und dicken Kartoffeln belohnt. Wie gut, dass wir Selbstversorger waren!

Fleisch war auch nach dem Krieg noch für alle eine Rarität. Stundenlang standen wir an, wenn es hieß, dass der Schlachthof an einem bestimmten Tag in der Woche Wellfleisch verkaufte. Tante Elli arbeitete ja im Schlachthof als Sekretärin und informierte uns jedes Mal vorab, damit uns die Gelegenheit nicht entging. Für alle Lebensmittel benötigte man seit dem 28. August 1939 – das war vier Tage vor Beginn des Krieges – Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Benzin und Kohlen. Auf Zuckerkarten gab es Brot, Fleisch, Fett und Marmelade. Darauf war genau festgelegt, was jeder Familie zustand. Wer beim Fleisch Selbstversorger war, bekam eine geringere Menge zugeteilt.

Gerhard konnte oder wollte sich offenbar mit unserem Lebensumständen nicht abfinden. Eines Tages gab er vor, nach Bad Reichenhall zurückzumüssen, weil dort wichtige Geschäfte auf ihn warteten. Meiner Mutter schien das nichts auszumachen, da ihr Visum ja noch einige Wochen gültig war. Sie rechnete fest damit, dass Gerhard rechtzeitig zurückkam, um sie und mich abzuholen. Meine Mutter hatte sich sehr schnell an das Leben bei uns in Perleberg gewöhnt und sich einen neuen Freundeskreis gesucht, mit dem sie sich prächtig verstand. Dazu gehörte die Tochter der Familie Kirsch aus der ersten Etage. Sie war die erste Freundin meiner Mutter, die sich zum Tanzen ein Kleid von ihr auslieh. Und so wanderten die Sachen von der einen zu der anderen, denn so schicke Kleidung besaß nach dem Krieg kaum eine Frau.

Wir Kinder lebten unbeschwert, aber seitdem meine Mutter wieder in Perleberg war, verhielten sich einige ihrer Freundinnen von früher sehr eigenartig. Sie hatten sich von ihr abgewandt, denn mit einer, die im KZ gewesen war, wo Hunderttausende unschuldiger Menschen ihr Leben gelassen hatten, und die jetzt auch noch so elegant daherkam, wollten sie nichts zu tun haben. Auch ihren Bruder Karl und ihre Schwester Elli durften wir nur besuchen, wenn unser Onkel nicht zu Hause war. Aber was hatten wir Kinder mit all dem zu tun? Waren Monika und ich nicht die Leidtragenden in der ganzen Geschichte? Jahrelang hatten wir ohne Mütter auskommen müssen, was zudem auch noch unsere gesamte Verwandtschaft belastet hatte.

Unseren Cousinen Helma, Karin und Silvia und unsere Cousins Hermi, Hansi und Henri durften wir nur noch besuchen, wenn deren Vater nicht zu Hause war. Einmal hätte er uns fast erwischt, weil wir nicht bemerkt hatten, dass er bereits im Flur stand. Wir flüchteten dann durch das Fenster auf die Straße. Zum Glück war das möglich, da die Familie zu ebener Erde wohnte. So verhielt sich Onkel Hermann erst, seit meine Mutter wieder zu Hause war. „Die Langes kommen nicht mehr in unsere Wohnung!“, hatte er gesagt. Monika und ich verstanden das nicht und unseren Müttern schien es nichts auszumachen. Auch Opa und Oma hatten sich mit der Situation abgefunden. Natürlich waren sie glücklich, dass ihre Tochter nach so vielen Jahren endlich wieder zu Hause war.

Neugierig, wie ich war, machte ich lange Ohren, wenn sich Erwachsene unterhielten. Und es gab viel zu erfahren, was meine Mutter betraf. Das Wort „KZ“ fiel immer wieder. Deshalb fragte ich Oma eines Tages, was es damit auf sich hatte. Oma erklärte es mir mit einfachen Worten: „Ein KZ ist ein Haus, in dem deine Mutter arbeiten musste.“ Diese Antwort stellte mich zufrieden.

Ich weiß bis heute nicht, wie lange Tante Gerda im Jugendkonzentrationslager in der Uckermark war, darüber konnte ich mit meinen Nachforschungen nichts herausfinden. Mir wurde lediglich mitgeteilt, dass die meisten Unterlagen im Krieg durch Brand vernichtet wurden. Als Monika nach dem Krieg aus dem Kinderheim nach Hause geholt wurde, hatte sie ja eine Mutter, daher war ihr Verhalten auch anders als meins. Hinzu kommt, dass sie erst zwei Jahre alt war, als sie in das Kinderheim nach Wittenberge kam.

Die Wochen vergingen und meine Mutter wurde immer unruhiger. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Mein Opa hatte darauf bestanden, dass sie sich endlich um eine Arbeitsstelle bemühte, da sie offenbar nicht die Absicht hatte, nach Bad Reichenhall zurückzugehen. Vergeblich hatte sie darauf gewartet, dass ihr Mann sie und mich abholte. Mir konnte das nur recht sein.

Mutter meldete sich als Heimkehrerin in den Osten an und erhielt dementsprechend ihre Lebensmittelkarten von der Stadt. So konnte sie etwas zu unserem gemeinsamen Leben beitragen. Mit ihr hatten Oma und Opa eine Arbeitskraft mehr, wenn es um die Ernte von Johannisbeeren und das Kirschenpflücken im Garten ging. Wenigstens tagsüber solle sie endlich ihre feine Kleidung ablegen und sich vernünftige Schuhe anziehen, nicht diese „hohen Stelzen“, wie Opa zu ihren Schuhen sagte. Meiner Mutter passte es gar nicht, dass sie jetzt arbeiten sollte. Viel lieber ging sie zu ihrer Freundin Erika und ließ sich die Karten legen. Die vorausgesagte Zukunft fiel wohl zu Mutters Bedauern nicht gerade befriedigend aus. Es soll ja Menschen geben, die an Außerirdisches, Mystisches oder Spirituelles glauben. Kartenlegen war jedenfalls damals in Mode. Meine Oma Hertha verfügte ebenfalls über eine besondere Gabe, wie mir meine Mutter später erzählte. Sie hatte als Kind ein paar Warzen an ihrer Hand gehabt. Als es eines Abends dunkel geworden war, war Oma mit Mutter nach draußen gegangen, hatte ihre Hand gestreichelt und etwas Unverständliches gesagt. Nach etwa zwei Wochen waren Mutters Warzen wie von Geisterhand verschwunden. Der Mond hatte dabei angeblich eine ganz besondere Rolle gespielt.

Endlich erklärte sich Mutter bereit, sich mit ihrer Arbeitskraft einzubringen. Als Erstes entfernte sie den roten Lack von ihren Fingernägeln. Dann kaufte sie sich bequeme Schuhe, in denen sie tagsüber gut laufen konnte. Mal half sie Opa im Garten, mal löste sie Oma im Geschäft ab. Schnell war klar, dass es nicht ihre Welt war, auf diese Weise zu unserem Lebensunterhalt beizutragen. Nach etwas mehr als einem Jahr teilte sie uns mit, dass sie bei den Russen auf dem Flughafen im Casino arbeiten wolle. Ich war zu klein, um ihren Wunsch nachvollziehen zu können, wo doch mein Vater dort sein Leben gelassen hatte. Meine Mutter schien sich aber mit ihrer Entscheidung wohlzufühlen, schwärmte sie doch regelecht, was es für hübsche Russen gebe. Jeden Tag, den sie im Casino arbeitete, brachte sie für uns etwas zu essen mit, zum Beispiel so eine komische rote Kohlsuppe, die angeblich eine Spezialität sein sollte und die sich Kapustasuppe nannte. Die schmeckte mir gar nicht mal schlecht. Mutter hatte jetzt immer Bohnenkaffee zur Verfügung. Und vor allem Zigaretten – Papirossa genannt – mit dem langen Mundstück. Das war ihre Welt, in der sie sich wohlfühlte.

Im Sommer musste sie mit ins Russenlager fahren, das sich in Zechlin befand. Das bedeutete, dass ich für drei Monate wieder keine Mutter hatte, was mich allerdings nicht störte, denn ich hatte ja Oma Hertha und Tante Gerda, die ich beide über alles liebte.

Nach dem Schulunterricht besuchten Monika und ich so manches Mal unsere liebe Oma im Laden. Oma schloss den Laden dann für eine Weile zu und ging mit uns ins Stadtcafé schräg gegenüber, wo es leckeren Kuchen gab. Meiner Mutter gefiel das nicht. Sie meinte, Oma Hertha würde uns noch pleite machen, weil der Kuchen zu viele Zuckermarken und Geld kostete.

Allmählich kehrte jetzt nach dem Krieg wieder so etwas wie Normalität ein – wenn man überhaupt von Normalität sprechen konnte. Ich fand, dass sich die Menschen notgedrungen der Situation anpassen mussten. Meine Mutter sprach nicht mehr von Bad Reichenhall und sie fühlte sich offenbar in ihrer aktuellen Lebenssituation sehr wohl – frei wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen war und der den tiefen Sturz – ihren Aufenthalt im KZ – gut verkraftet hatte.

 

Mir gelang es mal gut und mal weniger gut, mein früheres Leben aus dem Gedächtnis zu verbannen. Wenn ich an manchen Tagen Mütterchen auf der Straße sah, wie sie mit den Kindern an der Hand spazieren ging, blieb ich stehen und schaute ihnen nach.

Seit meinem Aufenthalt im Heim waren zwei Jahre vergangen. Es war Winter geworden und es herrschte Eiseskälte. Sogar die Stepenitz war zugefroren, was uns Kindern großes Vergnügen bereitete. Monika und ich lernten Schlittschuhlaufen. Einmal brach ich ins Eis ein, weil ich mal wieder meinen eigenen Kopf durchsetzen wollte und nicht auf die Warnung meiner Cousine Helma hörte, die der Meinung war, dass die betreffende Stelle der Stepenitz noch nicht dick genug war, um darauf Schlittschuh zu laufen. Bis zu den Hüften steckte ich im eiskalten Wasser. Durchgefroren und mit vereisten Strümpfen stand ich wenig später zitternd vor meiner Familie. Das Donnerwetter kann man sich ja wohl vorstellen. Ich wurde sofort ausgezogen und trocken gerubbelt. Ein warmer Ziegelstein, der immer in der Ofenröhre lag, sollte mich im Bett wärmen. Das Zittern nahm gar kein Ende. Oma Hertha brachte mir heißen Kamillentee, den ich in kleinen Schlucken trinken musste. Natürlich hatte ich mir eine dicke Erkältung zugezogen und musste ständig zur Toilette. Oma bereitete mir kalte Wadenwickel, damit das Fieber runterging. Natürlich konnte ich für ein paar Tage die Schule nicht besuchen, was ich klasse fand.

Ansonsten lebten wir Kinder unbeschwert und genossen jede Jahreszeit. Wenn es im Sommer ordentlich regnete, falteten wir Papierboote und ließen sie im Rinnstein die Straße hinunterschwimmen. Überhaupt gehörten die Straßen in Perleberg uns Kindern. Da es kaum Autos gab, war Völkerball auf der Straße für uns eine sichere Angelegenheit. Opa Max, der sehr erfinderisch war, zimmerte Stelzen aus Bäumen, allerdings war es gar nicht so einfach, damit zu laufen. Es gab noch vieles mehr, was uns die Zeit vertrieb. Wir waren Kinder, denen es nie langweilig wurde und die sich auf den Straßen und in den kleinen romantischen Gässchen wohlfühlten.

Das Schwimmen lernte ich in der Stepenitz. Als wäre ich eine bleierne Ente, ließ ich zur Sicherheit und weil ich Angst hatte, mich nicht über Wasser halten zu können, die ganze Zeit ein Bein auf dem Grund, zumal das Flüsschen nicht tief war. Als mich Peter einen Feigling schimpfte, weil er und die anderen Kinder schon schwimmen konnten, wollte ich das natürlich nicht auf mir sitzen lassen. Also nahm ich auch das zweite Bein hoch und stellte fest, dass ich tatsächlich schwimmen konnte. In bestimmten Dingen war ich sehr vorsichtig, auch wenn ich eine große Klappe hatte.

Oma Hertha klagte jetzt immer öfter über Rückenschmerzen. Ich fragte sie, warum sie nicht zu einem Doktor ging. Oma meinte daraufhin, er könne ihr auch nicht helfen. Stattdessen gab sie ein weißes Pulver in ein Glas Wasser und trank es leer. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, fällt mir auf, dass ich Oma nie lachend gesehen habe. Das beweist auch das kleine Foto, das ich von ihr besitze und das ich immer bei mir trage.

Als meine Mutter schon ein Jahr bei uns in Perleberg lebte, sagte Opa Max eines Tages, er könne die Miete nicht mehr bezahlen und wir würden in eine Zweizimmerwohnung umziehen. Er hatte sich die Wohnung bereits angesehen. Sie befand sich in der Schuhstraße Nr. 2 in der Nähe vom Hagen.

Das Haus, das den Krieg überstanden hatte, war grau verputzt und an den Fenstern blätterte die weiße Farbe ab. Unsere Wohnung lag im Hochparterre und es gab nur noch eine Etage über uns. Dort wohnte eine Familie mit einem behinderten Kind, dessen Vater als Postbote arbeitete. Die Toilette befand sich auf dem Flur und wurde von allen genutzt, die in dem Haus lebten. Mein Schulweg bis zur Beguinenwiese war länger als der vorherige.

Das Schönste an unserem neuen Zuhause war, dass nebenan das Rolandkino war. Opa nannte es auch das Pantoffelkino. Der Haupteingang befand sich auf den Großen Markt, auf dem der Roland stand – ein großer Mann aus Stein, der ein Schild und ein Schwert trug. Wenn der Film zu Ende war, konnten wir den hinteren Ausgang nehmen und standen schon fast vor unserer Haustür. Neben dem Kino befand sich auch der Hinterhof der Firma Steinke, ein Geschäft für Eisenwaren und Werkzeuge.

Unsere beiden Zimmer wurden von Opa Max so aufgeteilt, dass Mutter und ich das hintere Zimmer mit Ausblick auf den Hof bekamen. Meine Großeltern bezogen das andere Zimmer, das zur Straßenseite zeigte. Es gab eine große Küche, in der wir auch essen konnten. Die Waschküche befand sich im Keller und war ausgestattet mit einem großen Kessel, in dem die Wäsche gekocht werden konnte.

Der Umzug fand innerhalb von nur wenigen Tagen statt. Jeder aus unserer großen Familie musste mit anpacken. Unsere Cousins und Cousinen halfen, die Kisten mit Inventar vollzupacken. Das Mobiliar wurde mit dem Handwagen oder einer großen Karre transportiert und in der neuen Wohnung gleich wieder aufgestellt. Wir Kinder fanden es sehr aufregend, dass wir umzogen, denn der Bäcker Valentin, der für die Russen Brot backen musste, befand sich nur ein paar Häuser von unserer neuen Wohnung entfernt. Schon nach kurzer Zeit lernte ich Christa, die Tochter vom Bäcker Valentin, kennen. Sie war genauso alt wie ich.

Meine Familie, vor allem aber meine Mutter, gestaltete unser Zimmer gemütlich mit unseren alten Möbeln. Die Zimmertür, in der sich Scheiben befanden, hängte Mutter mit buntem Stoff zu, sodass von nebenan niemand hineinsehen konnte. In jedem Zimmer stand ein Kachelofen, der im Winter viel Holz und Kohle erforderte, die es nur auf Bezugschein gab. Zur damaligen Zeit gab es nur Kachelöfen mit einer Bank davor und ich liebte es, mich im Winter an die warmen Kacheln zu lehnen. Meine Mutter und ich schliefen jetzt gemeinsam in einem Bett was ziemlich eng war. Oma und Opa hatten immerhin ihre Ehebetten. Den Rest an Möbeln, die wir nicht unterbringen konnten, erhielt Tante Gerda für ihre Einzimmerwohnung. Sie war schon einige Wochen zuvor in die Bäckerstraße umgezogen.

Opa Max baute auf dem Hof Karnickel- und Hühnerställe. Ein Freund von ihm besaß eine Zucht und verkaufte ihm einige kleine Kaninchen. Deren Ställe wurden mit Heu und Stroh ausgelegt, damit sie es schön weich hatten. Monika und ich suchten uns je eins der Kaninchen aus, das Opa uns schließlich in den Arm legte. Wir streichelten deren Fell, das sich wunderbar seidig anfühlte. Die Kleinen bewegten ihre Nasen so putzig, dass sie einfach süß aussahen. Wir halfen beim Füttern mit Gras aus dem Garten und gingen im Sommer mit in den Hagen, um Butterblumen auszustechen. Angeblich war das die Lieblingsspeise der Kaninchen. Im Winter bekamen sie Getreide und Möhren zu fressen.

Auch die zahlreichen weißen Hühner und ein bunter Hahn hatten reichlich Platz in ihrem Gehege. Die Hühner legten Eier. Oma Hertha wusste jedes Mal schon vorher, wie viele Eier wir suchen mussten. Sie hatte nämlich den Hühnern einen Finger ins Poloch gesteckt und gefühlt, ob sich ein Ei darin befand.

Eines Tages verkündete Opa, an Weihnachten gebe es Kaninchenbraten. Monika und ich bettelten, er solle unsere beiden Lieblinge nicht totmachen, die seien doch so niedlich. Ungerührt sagte er: „Die Kaninchen gehören auf den Teller!“ Es gab nämlich viel zu wenig Fleisch auf den Lebensmittelkarten.

Meine Mutter und ich lebten nun räumlich noch enger zusammen. Trotzdem konnte ich keine rechte Beziehung zu ihr aufbauen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals das Bedürfnis verspürte, mich an sie zu kuscheln, wie ich es mit meiner Tante Gerda und mit Oma Hertha erlebte. Meine Mutter sah das nicht gerne, denn sie sah in Oma die böse Stiefmutter.

Aus Wollresten strickte Oma für uns Pullover und Socken. Manchmal räufelte sie auch alte Pullover auf und verwendete das Garn für neue. Wie oft musste ich meine Hände hochhalten, und sie wickelte die Wolle darum, bis sich ein Knäuel gebildet hatte. Auch unsere Puppenkinder bekamen aus den Wollresten neue Kleider.

Eines Tages kam Opa mit einer großen Überraschung für Monika, Christiane und mich. Er schenkte jedem von uns einen aus Korb geflochtenen Puppenwagen. Opa hatte sie bei einem Freund bestellt, der in Perleberg eine Korbflechterei betrieb. Vor Freude fielen wir Opa um den Hals und er freute sich mit uns. Stolz fuhren wir Mädchen von nun an unsere Puppen auf der Straße spazieren. Opa überraschte uns immer wieder. Mal war es eine Zither, die er mitbrachte, und mal eine Art Akkordeon – ich glaube, dass es eine alte Quetsche war. Ach wie glücklich waren wir Kinder, so einen Opa und eine so liebe Oma zu haben! Opa konnte übrigens wunderbar Mundharmonika spielen.

Mit unserer neuen Lebenssituation in der viel zu kleinen Wohnung hatten wir uns nach einiger Zeit mehr oder weniger abgefunden. Da wir Kinder uns nach der Schule und dem Erledigen der Schularbeiten sowieso meistens im Freien aufhielten, war die beengte Wohnung zumindest für uns kein Problem. Oder wir besuchten unsere Tante Salli am Hohen Ende und verbrachten dort mit unseren Cousinen und Cousins glückliche Stunden.

In dieser Zeit lernte ich Irmgart und ihren Bruder Reinhart kennen. Sie waren einige Monate später als wir in die Schuhstraße gezogen und bewohnten das Haus, das unserem gegenüberlag. Die beiden lebten mit ihrer Oma Luise zusammen, da ihre Eltern schon früh verstorben waren. Wie Irmgart mir erzählte, war ihr Vater nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und ihre Mutter war 1946 an einer Gallenoperation gestorben. Wir wurden richtige Freundinnen und puppten zusammen im Hinterhof auf den Treppen, die zur Waschküche führten. Ich fühlte mich bei Irmgart zu Hause sehr wohl, denn es war alles so friedlich und keiner meckerte mit mir herum. Wir saßen gemeinsam am Tisch und sangen schöne, manchmal auch traurige Lieder. Reinhart, der in Karl-Marx-Stadt zur Schule ging, kam nur am Wochenende nach Hause. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, machte ich meine Schularbeiten, soweit ich überhaupt Lust hatte, nur flüchtig. Meine Mutter bekam das nicht mit, da sie ja auf dem Flughafen arbeitete. Alles das, was ich nicht wusste, würde ich vor Beginn des Unterrichts von meiner Freundin Edelgard abschreiben. Bisher hatte das immer wunderbar geklappt. Nur einmal hatte ich offenbar den gleichen Fehler gemacht wie meine Schulfreundin. Da wusste Frau Lehrerin, dass die Uhr dreizehn geschlagen hatte. Das Donnerwetter höre ich heute noch. Als Erstes setzte uns die Lehrerin auseinander. Warum war ich bloß so besessen davon, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen, anstatt zu lernen? Meine Cousinen und Cousins fanden die Schule wunderbar. Silvia zum Beispiel konnte sehr gut zeichnen und beabsichtigte, Modezeichnerin zu werden. Helma war im Rechnen so schlau wie Albert Einstein, und wer es nicht weiß, dem sei gesagt, dass aus ihm ein Genie wurde, obwohl er Legastheniker war. Immerhin konnte ich gut singen und zeigte großes Interesse am Kochen. Wenn Oma Hertha in der Küche stand und unser Essen zubereitete, bestand ich fast immer darauf, ihr zu helfen. Vor allem wenn es einmal in der Woche bei Fleischer Langner Lungenwurst zu kaufen gab. Dann gab es unser Traditionsessen aus der Prignitz: Quetschkartoffel Lungenwurst und süßsaure Soße. Die Soße war eher wie eine dicke Pampe mit vielen Klümpchen darin. Wenn es dieses Essen gab, bestand ich jedes Mal darauf, dass Oma für mich die Soße durch ein Sieb rührte. Ich stand daneben und passte genau auf, dass sie es auch sorgfältig machte. In dieser Hinsicht hat sich bis heute nichts geändert – ich hasse Mehlsoßen!

Die ersten Schuljahre überstand ich gerade mal so. Obwohl ich mehr schlechte als gute Noten bekam, wurde ich versetzt. Stolz zeigte ich meiner Familie mein Zeugnis. Mutter wetterte gleich los. Ihrer Meinung nach sah es für meine Zukunft schlecht aus, wenn ich auch weiterhin keine Lust zum Lernen hätte. Was wusste ich schon von der Zukunft?

In den Sommerferien fuhren wir Kinder mit Tante Gerda aufs Land, um Kartoffeln zu sammeln. Das kleine Dörfchen Düpow war nicht weit von Perleberg entfernt. Bei einem Bauern erhielten wir Unterkunft und Verpflegung für zwei Wochen. Natürlich ging es Tante Gerda vor allem um das Geld, das sie verdienen würde. Die erste Nacht war grauenhaft! Wir schliefen in alten Betten, in denen die Unterlagen aus Heu und Stroh bestanden, und über uns tanzten die Mäuse jede Nacht Samba. Aber was taten wir nicht alles, um in den Genuss zu kommen, am Morgen an einem reich gedeckten Tisch zu sitzen. Die Hitze auf dem Feld war für uns drei Kinder unerträglich. Wir tranken viel Wasser, das an einer Pumpe in große Kanister abgefüllt wurde und vom Bauern mit seinem Pferdewagen aufs Feld gefahren wurde. Das Mittagessen brachte uns die Bäuerin auf ihrem Handwagen. Wir ruhten uns unter einem großen Baum aus und wären vor Erschöpfung beinahe eingeschlafen. Meistens gab es Eintopf, den ich normalerweise gerne aß. An Erbseneintopf mit Backpflaumen konnte ich mich allerdings nicht gewöhnen, die Pflaumen blieben mir regelrecht im Halse stecken. Dafür entschädigte mich das Abendbrot, das wir gemeinsam mit den Bauersleuten einnahmen. Die große Pfanne mit den dampfenden Bratkartoffeln stand mitten auf den Tisch und insbesondere die eingelegten Heringe hatten es mir angetan. Es gab Schinken und Wurst von selbst geschlachteten Schweinen und frisches Brot, das die Bäuerin gebacken hatte. Schon dafür hatte es sich gelohnt, bei der Kartoffelernte zu helfen, auch wenn uns der Rücken von Tag zu Tag mehr wehtat.

 

Auch diese Zeit ging vorbei und es war offensichtlich, dass ich einige Pfunde zugenommen hatte. Dies machte sich vor allem an meinen Brüsten bemerkbar. Der Bauer brachte uns mit seinem Pferdewagen nach Hause und hoffte auf unsere erneute Hilfe im kommenden Jahr.

Zu Hause gab mir Tante Gerda Geld, damit ich mir für den nächsten Winter ein Paar Stiefel kaufen konnte. Das Geld steckte ich vorerst in meine Spardose. Wie ich schon einmal erwähnte, fand ich es bereits als Kind wunderbar, wenn es in meiner Spardose so richtig klapperte. Dementsprechend war ich ein sparsames Mädchen.

Wir hatten immer noch Ferien und mussten Opa bei der Ernte der Johannisbeeren und beim Kirschenpflücken helfen. Seit dem Gründungsjahr der DDR, genauer gesagt seit dem 7. Oktober 1949, war jeder verpflichtet, von seinen Besitztümern, und sei es nur Obst, einen Teil an den Staat abzugeben. Begeisterung löste das Ernten bei uns nicht gerade aus. Wir Kinder wären lieber mit Mutter und unseren Freundinnen nach Arendsee zum Baden gefahren. Dort hatte Karl Gustaf Nagel im Jahr 1910 ein Seegrundstück gekauft und ein Sonnen- und Brausebad in einer Holzbaracke eingerichtet. Später baute er einen Tempel am See und sandte seine Tempelbotschaften aus. Der Mann war ein sonderbarer Heiliger, ein Höhlenbewohner, Naturheiler und Vegetarier, der seine eigenwillige, unangepasste Lebensweise bitter bezahlen musste. Im Jahre 1900 entmündigte ihn die Stadt, was die Leute nicht daran hinderte, in Scharen zu seinen Vorträgen zu kommen und seinen Naturgarten zu bewundern. Von 1902 bis 1903 wanderte er nach Jerusalem und kehrte 1904 über Konstantinopel nach Arendsee zurück. Weil er nach der Machtergreifung Hitlers gegen die Judenverfolgung und gegen den Krieg predigte, wurde er 1943 verhaftet und ins Konzentrationslager nach Dachau gebracht, von dort 1944 in die Nervenheilanstalt Uchtspringe bei Stendal. Sichtlich gezeichnet wurde er 1945 aus der Anstalt entlassen, er wurde aber nach fünf Jahren dort wieder eingewiesen. Karl Gustaf Nagel, der seltsame Dichter und Heilige, starb 1952 im Alter von achtundsiebzig Jahren in der Nervenheilanstalt Uchtspringe. Die Ruinen der Tempelanlagen waren zu meiner Kindheit noch vorhanden. Mit Begeisterung durchforsteten wir das alte Gemäuer. Diese Geschichte hatte uns meine Mutter erzählt, als wir eines Tages auf den Überresten der Anlage herumgeturnt waren.

Zurück zu Opa Max, der gegenüber uns Kindern knallhart war, indem er sagte: „Essen wollt ihr doch auch!“ Er könne in seinem Alter nicht mehr auf die Leiter steigen, um Kirschen zu pflücken. Wie recht er doch mit seinen neunundsechzig Jahren hatte!

Wenn die Blaubeeren im Wald reif waren, war ganz Perleberg unterwegs, doch das Pflücken war mühsam. Wir hatten eine Schnur um den Hals, an der eine Blechdose befestigt war. Da die Beeren sehr klein waren, dauerte es eine Ewigkeit, bis die Dose voll war – die meisten Beeren wanderten sowieso in unsere Münder.

Wir lebten nun schon seit etwa einem Jahr in unserer neuen Wohnung und meiner lieben Oma Hertha ging es immer schlechter. Opa brachte sie zu einem Arzt, der Oma sofort in das Krankenhaus in der Bergstraße einwies. Dort praktizierte Dr. med. Hermann Henneberg, ein vierundvierzigjähriger Chirurg, der gleichzeitig Chefarzt war. Er hatte die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion überstanden und anschließend für das Gesundheitswesen in Perleberg viel getan, was ihm zahlreiche Auszeichnungen eingebracht hatte. Bei ihm und seinem Team war Oma Hertha in guten Händen. Nach einer eingehenden Untersuchung waren die Ärzte der Ansicht, Oma müsse sofort operiert werden. Einen Tag vor der Operation besuchten wir sie. Oma sah so weiß aus und ihre Augen blickten ins Leere. Tante Gerda saß bei ihr, hielt ihr die Hand und tröstete sie mit den Worten: „Alles ist gut, Mutter!“ Oma Hertha erzählte uns, in der Nacht hätte eine Krähe geschrien und das sei ein schlechtes Zeichen. Die Krähe sei gekommen, um sie zu holen. Wir Kinder verstanden nicht, was Oma uns damit sagen wollte. Als wir uns an diesem Tag von ihr verabschiedeten, küssten wir sie. An der Tür drehte ich mich noch einmal zu ihr um und sie winkte mir zu. Am liebsten wäre ich zu ihr ins Bett gekrochen und hätte mich an sie gekuschelt.

Das war das letzte Mal, dass wir unsere Oma sahen. Opa erzählte uns später, die Ärzte hätten sie aufgeschnitten und gleich darauf wieder zugemacht. Oma hatte einen großen, inoperablen Tumor an der Wirbelsäule, deshalb auch ihr ständiges Klagen über Rückenschmerzen. Einfach so ging Oma mit ihren siebenundfünfzig Jahren von uns. Für die Familie war das unfassbar. Nur meine Mutter hatte damit kein Problem.

Nach Omas Tod musste Mutter ihre Stellung auf dem Flughafen aufgeben, darauf bestand ihr Vater. Es gab einen Riesenkrach zwischen den beiden, denn Mutter wollte nicht einsehen, dass sie jetzt an der Reihe war, die Verantwortung für unsere Familie zu übernehmen. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen, denn ansonsten, so Opas Worte, könne sie dorthin zurückgehen, woher sie hergekommen sei.

Omas Trauerfeier fand einige Wochen später in der St. Jakobi-Kirche statt. All unsere Verwandten waren gekommen. Opa Max und Tante Gerda saßen ganz vorne in der ersten Reihe. Ich saß neben meiner Mutter und weinte. Sie fragte mich: „Warum weinst du? Deine richtige Oma ist schon lange tot.“ Ich sah meine Mutter verständnislos an. Nie zuvor hatte mir jemand erzählt, dass Oma Hertha nicht meine richtige Oma war. Ich kannte sie ja nur als „Oma Hertha“, die uns Kinder geliebt und uns Zärtlichkeiten geschenkt hatte. Der große Sarg war mit vielen schönen Blumen geschmückt worden und in der Kirche brannten unzählige Kerzen. Einige Kränze, an denen Schleifen hingen, lagen vor dem Sarg. Ich konnte nicht begreifen, dass meine liebe Oma in dieser Holzkiste lag und für immer schlief. Der Pfarrer hielt von der Kanzel aus eine lange Rede. Er sprach tröstende Worte über Gott und den Himmel, wo Oma Hertha jetzt in Ruhe wohnen würde. Monika und ich falteten die Hände, als ein Lied angestimmt wurde: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich.“ Als die Trauerfeier zu Ende war, wurde der Sarg in ein Auto geladen, in dem Opa Max und der Pfarrer mitfahren durften. Alle anderen folgten dem Wagen zu Fuß zum Friedhof, auf dem bereits ein tiefes Loch gegraben worden war. Die Männer ließen den Sarg an dicken Seilen in das Loch hinunter. Und wieder sprach der Pfarrer und machte drei Kreuze. Am Ende bewarfen alle Trauergäste Oma mit Sand. Ich fand die ganze Zeremonie schrecklich, weil ich gedacht hatte, dass Oma in den Himmel käme und nicht in ein tiefes, schwarzes Loch. Opa weinte so sehr und erweckte damit den Eindruck, als wäre er am liebsten mit Oma zusammen beerdigt worden. Ich sagte zu meiner Mutter, der Herr Pfarrer hätte gelogen, Oma wäre ja gar nicht in den Himmel gekommen. Mutter winkte ab und meinte, das würde ich nicht verstehen.