„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein

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In der großen Wohnküche, in der Tante Gerda das Mittagessen zubereitet hatte, befand sich auch die Toilette. Ich setzte mich brav an den großen Tisch, der bereits gedeckt war. Dann stellte Tante Gerda einen Topf auf den Tisch, in dem Grießsuppe war, dazu gab es trockenes Brot. Als alle Platz genommen hatten und die Teller bis zum Rand gefüllt waren, wünschte Opa Max uns einen guten Appetit. Ich hatte meine Hände gefaltet und wollte beten, wie ich es im Kinderheim gelernt hatte. Opa sah das und sagte: „Wir beten immer erst nach dem Essen.“

Während ich still dasaß und aß, redeten die anderen ohne Unterlass. So etwas hatte man uns im Kinderheim nicht erlaubt, weil es sich angeblich nicht gehörte, mit vollem Mund zu sprechen. Anstand und Sitte, das hatten uns die Nonnen beigebracht. Dennoch fand ich es, wie ich es in meinem neuen Zuhause erlebte, viel schöner. Ich konnte mit meiner Cousine und den Erwachsenen am Tisch sprechen und lachen, wie es mir gefiel. Ich weiß heute nicht mehr, was an meinem ersten Tag gesprochen wurde und worüber die anderen mich ausfragten. Aber eines weiß ich noch ganz genau: dass ich nämlich schon immer ein neugieriges Kind gewesen war und lange Ohren machte, wenn sich Erwachsene unterhielten.

Nach dem Essen kündigte Opa an, dass es an der Zeit sei zu beten. Ich faltete meine kleinen Hände, und alle sprachen nach, was Opa in seiner unnachahmlichen Art vorbetete: „Lieber Gott, wir danken dir, dass es uns wieder geschmackes hat. Amen!“

Ich integrierte mich rasch in meine neue Familie. Das erste Mal in meinem Leben spürte ich Liebe und Zärtlichkeit. Ich fühlte mich geborgen und es war, als ob ich schon immer im Kreise dieser Menschen gelebt hatte.

Meine Verwandtschaft wurde immer größer. Da waren noch die drei Cousinen Helma, Karin und Silvia und die drei Cousins Hermi, Hansi und Henri. Alle sechs waren die Kinder von meiner Tante Sally und ihren Mann Hermann Olbrich, der als Zauberkünstler sein Geld verdiente. Die Familie wohnte am Hohen Ende. Dort gab es eine Pferdeschwemme, in der die Bauern ihre Tiere tränkten und wuschen. Die sechs Kinder waren größer als ich und gingen alle schon zur Schule.

In der Franz-Grunik-Straße wohnten Tante Elli und mein Onkel Werner Köpp, der in einer Bank als Bücherrevisor arbeitete und sich zur Oberschicht der Gesellschaft zählte. Tante Elli war Sekretärin im größten und einzigen Schlachthof in Perleberg und der Prignitz. Den Perleberger Schlachthof gab es seit 1893. Gemeinsam mit dem Schlachthof in Wittenberge und dem in Pritzwalk hatte er die Bevölkerung der Westprignitz zu versorgen.

Schließlich gab es noch meinen Onkel Karl Gottlieb Lange, der als Drucker in einer Druckerei sein Geld verdiente und mit Grete Köpp verheiratet war.

Ich war glücklich, wenn ich zusammen mit Monika auf dem großen Hof spielen durfte. Wir spielten mit dem Ball oder „Vater, Mutter und Kind“ mit unseren Puppen. Auch Hopse und Seilspringen waren beliebte Beschäftigungsmöglichkeiten.

Wenn mich Oma Hertha abends zu Bett brachte, gab es ein Problem: Ich hatte Angst und weinte, weil ich es nicht gewohnt war, allein zu schlafen. Also legte sie sich neben mich, bis ich eingeschlafen war. Damit sie bei mir blieb, fasste ich ihr ans Ohrläppchen. Wenn Oma nach einer Weile annahm, dass ich fest schlief, versuchte sie vorsichtig aufzustehen. Doch ich bemerkte es und verstärkte meinen Griff.

Ich fühlte mich besonders von meiner Tante Gerda geliebt und es ging mir richtig gut. Monika sagte zu ihr „Mutti“. Warum sollte ich dann „Tante Gerda“ zu ihr sagen? Dafür fand ich keine Erklärung und deshalb sagte ich ebenfalls „Mutti“ zu meiner Tante – ich wollte schließlich auch eine Mutti haben. Monika protestierte, es sei ihre Mutti und nicht meine! Daraufhin versicherten mir Tante Gerda und Oma Hertha, ich hätte auch eine richtige Mutti und sie komme bald. Ich wollte wissen, warum sie nicht bei mir sei. Wie konnte sie mich so lange allein lassen, wenn ich doch ihre Tochter war? Darauf konnten oder wollten mir meine Tante und meine Oma keine plausible Antwort geben. Es sollten noch zwei Jahre vergehen, bis ich meine Mutter schließlich kennenlernte.

Ich fand mich als Kind sehr schnell mit meiner neuen Lebenssituation ab. Plötzlich hatte ich Menschen um mich, die mir Liebe schenkten. Dass Monika es nicht gut fand, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf einmal mit mir teilen musste, habe ich ja schon erwähnt. Die Eifersucht hatte aber auch Gründe. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Monika von ihrer Mutter Schläge bekam und sie sich daraufhin vor lauter Wut in die Ecke setzte und sich die Haare rausriss und weinte. Ich hingegen wurde ständig gelobt und mir gegenüber fiel kein böses Wort. Ich bekam auch mit, dass Tante Gerda des Öfteren „Du Aas!“ zu ihrer Tochter sagte. Natürlich verstand ich nicht, was das bedeutete, Monika tat mir nicht einmal leid. Ich fand es sogar toll, wenn Kinder weinten. Ob das etwas mit meiner Vergangenheit im Kinderheim zu tun hatte? Ich wusste es nicht.

„Am schönsten war es für uns Kinder, wenn wir zusammen mit Opa Max, der den Handwagen zog, in den Garten gehen durften. Dort fühlten Monika und ich uns am wohlsten. Der Weg dorthin war beschwerlich: immer die Feldstraße geradeaus und am Tonkital vorbei bis zur Wiesenstraße. Die vielen Äpfel und die dunklen Kirschen an den Bäumen sahen sehr verlockend aus. Leider waren es Schattenmorellen und keine Süßkirschen, die uns bestimmt besser geschmeckt hätten. Wir durften Opa zur Hand gehen, wenn er die großen Kürbisse und die Gurken erntete und sie in den Handwagen legte. Es gab schöne Blumen in allen Farben, die herrlich dufteten. Die roten Erdbeeren hatten es uns besonders angetan. Während wir sie pflückten, wanderten die meisten in unsere Münder und nicht in den Korb, wie es uns Opa befohlen hatte. Opa schimpfte, als er es bemerkte, denn er hatte die Absicht, die Beeren auf dem Großen Markt zu verkaufen.

Das Essen nach dem Krieg war knapp und aus allem Möglichen wurden unsere Mahlzeiten zubereitet. Beispielsweise gab es Nährflocken, die in einer Pfanne mit Wasser zubereitet wurden. Wurden den Flocken Gewürze zugesetzt, schmeckten sie auf Brot gar nicht mal schlecht. Aus dicken Bohnen wurde ein Mus gekocht, das Oma Hertha durch ein Sieb strich und mit Fett – wenn wir denn welches hatten – und Kräutern verfeinerte. Gott sei Dank hatten wir ausreichend Gemüse und Früchte. Aus Johannisbeeren kochte Oma Hertha Marmelade, die so sauer war, dass es mich schüttelte, wenn ich davon probierte. Zucker und alle anderen Nahrungsmittel gab es nur auf Lebensmittelkarten und wurden den Familien zugeteilt. Natürlich reichte das kaum aus. Wenn wir Weißkohl geerntet hatten, saß die Familie in der Küche am Tisch und schnitt den Kohl in feine Streifen, die wiederum in einem großen Holzfass als Sauerkraut eingelegt wurden. Ein anderes Mal ernteten wir Gurken und legten sie ein. Aus Zuckerrüben wurde so ein schwarzer Honig gekocht. Auch Kartoffeln ernteten wir reichlich. Oft gab es Kartoffelpuffer, die beim Braten in der Pfanne nach irgendeinem Fett stanken – es könnte Lebertran gewesen sein. Das Apfelmus, das wir zu den Kartoffelpuffern aßen, übertünchte den ekligen Geschmack. Das Kartoffelkraut wurde auf einen großen Haufen gelegt, und wenn es trocken war, steckte Opa es an und wir warfen Kartoffeln hinein. Diese waren anschließend rabenschwarz, schmeckten aber köstlich, nachdem wir die schwarze Pelle entfernt hatten. Dank unseres Gartens waren wir zum Teil Selbstversorger und litten keinen Hunger. Ich weiß allerdings nicht, was meine Familie im Krieg durchmachen musste.

An bestimmten Tagen gab es beim Fleischer Wurstbrühe. In langen Schlangen standen die Menschen mit einer Milchkanne oder einem Topf vor der Fleischerei. Auch meine Verwandten standen stundenlang an, um in den Genuss zu kommen, aus der Brühe ein kräftiges Essen zu kochen.

Wir Kinder hatten mit unseren Befreiern, die inzwischen ganz Perleberg eingenommen hatten, keine Probleme. Die Männer in ihren Uniformen schenkten uns Bonbons oder Schokolade, wenn wir draußen rumtobten. Und auf dem Großen Markt bei Bäcker Valentin standen die Russen mit ihren großen Lastwagen, um das sogenannte Russenbrot abzuholen, das die Bäckerei für die Befreier Tag und Nacht backen musste. Sie schenkten uns Kindern dann ein warmes Brot, das wir stolz nach Hause brachten. Es schmeckte einfach besser als das aus Maismehl, das Oma Hertha backte.

Die vielen Schäden, die der Krieg angerichtet hatte, wurden beinahe zur Normalität. Ganz Perleberg war auf den Beinen, um zu retten, was von dem Hab und Gut der Bewohner übrig geblieben war. Aufgrund der Besetzung durch die Russen war es natürlich ein Problem, diese alle unterzubringen, und täglich wurden es mehr! Tagsüber ebenso wie nachts marschierten sie in Perleberg ein und ihre Panzer richteten in der Stadt erhebliche Schäden an.

Der Kommandant, „Major Wasiljew“ traf die Entscheidung, dass Bewohner, die über zu viel Wohnraum verfügten, Russen aufzunehmen hatten. So traf es auch unsere Familie. Es hieß, es sei nur vorübergehend, bis genügend Unterkünfte geschaffen worden seien. Die Russen beschlagnahmten unser drittes Zimmer. Unsere Möbel, die darin standen, brachten wir in den anderen beiden Räumen unter. Opa Max zeigte den Russen die übrigen Räumlichkeiten. Da er kein Russisch sprach, zeigte er ihnen, wie die Toilette funktionierte, indem er an der Kette zog, um zu spülen. Einige der Russen liefen weg, andere schauten in das Becken hinein und konnten es nicht fassen, wo das Wasser abgeblieben war. Jetzt betätigten auch sie die Klospülung. Mein Opa meinte, die Russen würden bei sich zu Hause noch in ein Loch scheißen. In ihrem Zimmer wurde Stroh auf dem Fußboden ausgelegt, und so schliefen sie in der Nacht, während sie die Tage auf dem Flughafen verbrachten, der wieder funktionsfähig aufgebaut werden musste.

 

Unsere Familie lebte ziemlich beengt, seit wir uns auf zwei Zimmer beschränken mussten. Positiv war, dass die Russen eine Kuh mitgebracht hatten, die auf dem Hof stand und uns Milch einbrachte – ein Segen für uns Hausbewohner. In der ersten Etage wohnte eine Familie Kirsch mit einem Kleinkind. Sie hatten einen großen Sack Würfelzucker mitgebracht, der uns das Leben versüßte, indem wir daraus Karamellbonbons in der Pfanne machten.

Am Ende unserer Straße befand sich ein freies Gelände, auf dem ein Haus stand, das unsere Besatzer in Beschlag genommen hatten. Darin hatten sie vorübergehend die Kommandantur eingerichtet. Meine Oma Hertha wurde verpflichtet, für die Russen zu kochen. Von dem Tag an brachte sie jeden Tag Fleisch, Butter, fetten Speck und Brot mit nach Hause. Auf einmal hatten wir alles, wovon andere Menschen nur träumen konnten.

Auf dem größten Schlachthof in der Prignitz wurden jetzt täglich Schweine, Rinder und alles, was vier Beine hatte, geschlachtet. Die Bauern in den umliegenden Dörfern mussten ihr Vieh an die Russen abgeben.

Meine Mutti – Tante Gerda – versteckte sich bei meiner Tante Sally, die in der Straße Am Hohen Ende wohnte. Sie hatte Angst, von den Russen vergewaltigt zu werden. So war es vielen anderen Frauen bereits ergangen. Beim ihrem Einmarsch hatten die Russen die Erlaubnis bekommen, an drei Tagen jede Frau, die ihnen in die Finger kam, zu vergewaltigen. Danach war eine solche Tat bei Strafe verboten. In einer uns bekannten Familie, die zwei Töchter im Erwachsenenalter hatten, wurde eine der beiden von den Russen zehn Mal hintereinander vergewaltigt. Die junge Frau wurde davon irre und musste in eine Nervenheilanstalt, die sie erst zehn Jahre später wieder verlassen konnte. Während ihre Mutter nicht da war, schlief Monika mit in unserem Bett.

Opa Max eröffnete nach dem Krieg am Schuhmarkt/Ecke Wollweberstraße ein Spielzeuggeschäft. Sein Zigarrengeschäft war inzwischen pleitegegangen. Woher er die ganzen Spielsachen hatte, wusste außer ihm niemand; sie waren einfach da, als ob sie vom Himmel gefallen wären. In seinem Geschäft gab es alles, was Kinderaugen zum Strahlen brachte. So schöne Spielsachen hatten Monika und ich noch nie gesehen. Gelegentlich fuhr Opa nach Berlin auf den Schwarzmarkt und brachte immer neue Überraschungen mit, die er dann zum Verkauf anbot. Der Schwarzmarkt blühte, seit der Krieg vorbei war. Man nannte meinen Opa auch Schieber-Maxe und er war in Perleberg bekannt wie ein bunter Hund. Diesen Spitznamen riefen ihm die Kinder hinterher, um ihn zu ärgern. Mein Opa war jedoch clever und zudem ein Schelm. Wenn sich die Kinder vor Begeisterung ihre Nasen an der Fensterscheibe plattdrückten, sagte Opa scheinheilig: „Kommt doch rein und schaut euch die schönen Spielsachen an!“ Natürlich trauten sie ihm nicht über den Weg, was auch besser war. Wenn er nämlich einen der Lästerer erwischte hatte, steckte er ihm Juckpulver in den Kragen, was gewiss kein Vergnügen für denjenigen war.

In Opas Geschäft gab es große Puppen, die laufen konnten, wenn man sie an die Hand nahm, bunte Brummkreisel, die wunderbar tanzten, nachdem man sie aufgezogen hatte, und nicht zuletzt Puppenstuben mit richtigen Möbeln. Das Schöne war, wir durften mit allem spielen! Wenn Opa in Berlin war oder im Garten arbeiten musste, war Oma Hertha im Laden.

Die Tanzlokale wie „Stadt Berlin“, der Bürgergarten und „Stadt Magdeburg“ öffneten wieder, um die Menschen nach dem Krieg auf andere Gedanken zu bringen. Einst waren es unsere deutschen Soldaten gewesen, die sich dort vergnügt hatten, die im Krieg ihr Leben für Volk und Vaterland eingesetzt und in Gefangenschaft in Russland – und nicht nur dort – vor sich hin vegetiert hatten und gestorben waren. Und jetzt vergnügten sich hier unsere Befreier, die Russen, was für uns Kinder und die Bevölkerung mit der Zeit zum Stadtbild dazugehörte. Opa Max war abends, wenn im „Stadt Berlin“, getanzt wurde, dort als Toilettenmann tätig. Auf dem Weg zum Tanzlokal trug er stets einen weißen Kittel und unter dem Arm einen Schuhputzkasten. Die Wegstrecke, die er zu Fuß bewältigte, war weit. Nur wenige Menschen konnten sich zu der Zeit ein Auto leisten, und wenn sie eins besaßen, nahmen die Russen es ihnen kurzerhand weg. So verdiente sich mein Opa unterwegs mit Schuheputzen einen „Pinkelgroschen“ für unseren Lebensunterhalt hinzu. Und das war nicht wenig! Wenn der Erlös am Morgen gezählt wurde, war ich dabei und steckte mir so manchen Groschen in die eigene Tasche. Bestimmt bemerkte Opa das, aber er ließ mich gewähren. Ich liebte diese Groschen und steckte sie in meine Spardose.

Inzwischen betrachteten unsere Befreier unser romantisches Städtchen als ihr Eigentum. Auf Gedeih und Verderb beanspruchten die Russen alles, was ihnen in die Finger kam. Ihr Domizil war der Flughafen. Hier fanden sie all jenes, was von den deutschen Fliegern und den Militärs zurückgelassen worden war. In der Franz-Grunik-Straße, in der meine Tante Elli und mein Onkel Werner wohnten, errichteten die Russen einen Schlagbaum mit zwei Kontrollhäusern. Die Umgebung am Bayernteich nutzten sie für ihre privaten Unterkünfte. Für unsere Besatzer wurden nicht nur neue Häuser errichtet, sie besetzten auch alles, was nach dem Krieg noch stand, sodass die Menschen hier am Ort ihre Häuser verlassen mussten.

Dank meiner Cousinen und Cousins, die Monika und mich nie fragten, wo wir so lange gewesen waren, kannte ich inzwischen fast jeden Winkel und jedes Gässchen in Perleberg. Auch Tante Salli und Onkel Hermann sprachen uns nie darauf an, wenn wir mal wieder etwas länger weg gewesen waren. Sie sagten auch nicht: „Schön, dass ihr wieder zu Hause seid!“ Wahrscheinlich weil wir noch Kinder waren, die es sowieso nicht verstanden, was damals geschah.

Inzwischen war ich sechs Jahre alt. Der Schulbetrieb begann wieder am 1. Oktober 1945. Nun war es auch für mich so weit, dass ich zur Schule kam. In meinem Ranzen befand sich eine Schiefertafel, an der ein Band mit einem Schwamm befestigt war, der wiederum aus meinen Ranzen heraushing. Ob ich zu meiner Einschulung eine Schultüte bekam, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass so etwas nach dem Krieg überhaupt möglich war, wo doch die Bevölkerung Tag für Tag um das nackte Überleben kämpfte.

Der erste Tag in der Schule war die Hölle für mich. Als Erstes wurden wir Kinder geimpft. Dazu führte man uns in einen Raum, in dem sich ein Mann und drei Frauen befanden. In ihren weißen Kitteln befahlen sie uns, den rechten Ärmel hochzukrempeln. Ich vernahm Schreie und das Wimmern einiger Kinder, was mich regelrecht in Panik versetzte. Dann war ich an der Reihe. Als ich die lange Nadel sah, wollte ich fluchtartig den Raum verlassen, doch die Frauen hielten mich fest. Ich schlug um mich und setzte sogar meine Beine ein, um mich zu wehren, aber es nützte mir nichts. Der böse Mann schrie mich an und haute mir die Nadel besonders tief in den Oberarm. Das war ein Schock für mein weiteres Leben, denn bis heute mache ich Theater, wenn ich zur Blutabnahme muss, und frage vorsichtshalber, ob es wehtun wird und ob die Arzthelferin über ausreichend Erfahrung verfügt.

In der damaligen Zeit lernten wir ja noch das ABC und hatten die Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen, Erdkunde und Singen. Mit großem Interesse sang ich eifrig alles nach, was uns unsere Lehrerin vorsang. Meine Stimme war glockenklar. Ich sang wie eine Nachtigall und hatte mir in den Kopf gesetzt, dass ich Sängerin werden wollte. Vom Musikunterricht einmal abgesehen, fand ich die Schule doof und fragte mich, warum ich das alles lernen sollte. Viel lieber spielte ich mit Monika und den anderen Kindern auf der Straße Hopse, Verstecken, Ball und mit unseren Puppen. Ich fand, ich war ein schlaues Kind, schließlich konnte ich schon bis hundert zählen. Das Einzige, was mir neben dem Singen in der Schule gefiel, war die Pause, in der wir auf dem Schulhof herumtoben konnten. Und weil es meine Art war, den Ton anzugeben, mussten die anderen Kinder nach meiner Pfeife tanzen.

Die leckere Schulspeisung, die es jeden Tag gab, machte einiges wieder wett. Ich war ein guter Futterverwerter und aß gerne – allein schon dafür lohnte es sich, zur Schule zu gehen. Das Stillsitzen fiel mir besonders schwer und zu allem Überfluss sollte ich mich auch noch mit sämtlichen Mitschülern gut verstehen. Aber ich habe ja schon erzählt, dass ich meinen eigenen Kopf hatte, was mir so manchen Tadel einhandelte. Deshalb gehörte die Ecke im Klassenzimmer meistens mir. Meine Mitschüler hatten ihren Spaß und bewarfen mich mit Papierröllchen. Postwendend streckte ich ihnen die Zunge raus und zeigte Peter meine kleine Faust, was im Anschluss an die Schulstunde in eine Prügelei auf dem Schulhof ausartete.

Unsere Lehrerin, Frau Meier, so eine Alte mit einer dicken, schwarzen Hornbrille, teilte meinem Opa Max mit, was ich doch für ein aufsässiges Kind sei und dass ich laufend den Unterricht störe. Opa bat mich daraufhin, brav zu sein, sonst käme ich in eine Schule für schwer erziehbare Kinder. Weil mich die Vorstellung ängstigte, nahm ich mich in der Folgezeit etwas zurück.

Lust zum Lernen hatte ich nur selten, weil ich dachte, alles das, was ich von Opa Max gelernt hatte, würde völlig ausreichen. Mein Opa war schließlich mein Lieferant für die Dinge, die für mich im Leben wichtig waren. Natürlich sah die Realität anders aus.

Ich kannte dank meines Opas fast jeden Baum. Im Herbst sammelten wir Kinder bunte Blätter und legten diese in ein Heft, um sie zu pressen. Das verstärkte mein Interesse für die Natur. Zudem brachte Opa mir im Garten so allerlei bei, weil er der Meinung war, ich würde mich für das Veredeln von Bäumen interessieren. Ich fand es toll, wenn Äpfel und Birnen an ein und demselben Baum wuchsen. Nur mit dem Lesen haperte es bei mir gewaltig. Nicht dass ich nicht lesen konnte, oh nein, ich konnte nur nicht laut vorlesen wie meine Mitschüler. Stattdessen zitterte ich, wenn ich an der Reihe war, einen kleinen Absatz aus meinem Schulheft vorzulesen. Für meine Mitschüler bedeuteten diese Momente einen Heidenspaß. Irgendwann gab ich mir einen Ruck und brachte mir das Vorlesen im stillen Kämmerlein selbst bei.

Die Russen hatten unsere Wohnung nach einem Jahr wieder verlassen, denn inzwischen waren am Bayernring neue Häuser und Kasernen erbaut worden. Das Lyzeum nutzten sie auch weiterhin als Kaserne. Meine Tante Gerda hatte im Krieg einen Franzosen kennengelernt und ihn bald darauf geheiratet. Von da an hieß sie nicht mehr Gerda Palm, sondern Gerda Chevalier. Bald darauf wurde sie schwanger und brachte im Alter von vierundzwanzig Jahren Christiane zur Welt, ein süßes Baby, das ich stolz im Kinderwagen spazieren fuhr. Die Heirat sollte Tante Gerda noch sehr viel Ärger einbringen, denn ihr Mann wurde gesucht. Angeblich war er bei der Waffen-SS gewesen. Er musste Freunde gehabt haben, die ihn warnten, denn eines Nachts machte er sich aus dem Staub. Wieder ein Schock für die Familie! Damit waren wir drei Kinder, die keine Väter zum Anfassen hatten.

Es war im Sommer des Jahres 1947, als für mich als Kind von fast acht Jahren ein gravierender Lebensabschnitt begann. Eines Morgens – wir schliefen noch alle – klopfte es draußen an unsere Fensterläden. Oma Hertha, die davon wach wurde, fragte energisch: „Wer ist da?“


Meine schöne Mutter 1947

„Ich bin es, Anna!“, lautete die Antwort.

Oma weckte mich mit den Worten: „Doris, deine Mutti ist gekommen!“

Meine Mutter? Ich konnte nicht glauben, dass sie doch noch zu mir gekommen war. Meine Familie war aufgeregter als ich. Im Nachthemd stürzte Oma förmlich an die Tür und öffnete sie. Alles, was ich sah, war eine junge, hübsche und elegant gekleidete Frau. Das Kleid, das sie trug, war so schön wie die Kleider, die ich aus Märchenbüchern kannte. An ihrer Seite war ein Mann namens Gerhard Neumann. Aus dem Standesamtsregister geht hervor, dass er am 18. Juli 1920 in Schneidemühl geboren wurde. Sein Vater war Johannes Wilhelm Neumann, Architekt in Berlin, verstorben im Jahre 1936. Seine Mutter, Hedwig Neumann, geborene Kellner, wurde in Deutschkrone, Westpreußen geboren. Sie starb im Jahre 1939 in Berlin.

Die Frau kam auf mich zu und sagte, sie sei meine Mutter und hätte mich so sehr vermisst. Sie nahm mich auf den Schoß. Ich trug ein rosa Nachthemd mit Blümchen auf dem Kragen. Sie küsste und herzte mich, drückte mich an sich. „Du siehst wie Fred aus, dein Vater. Der hatte auch so schöne blaue Augen.“

Ich sah sie nur groß an, denn Freude verspürte ich in diesem Moment nicht, schließlich kannte ich diese schöne, fremde Frau nicht.

 

Alles in mir sträubte sich gegen ihre Nähe. Ich hatte ja Tante Gerda, zu der ich mich hingezogen fühlte – sie und niemand anderes war meine Mutti!

An diesem Tag herrschte große Aufregung. Die Erwachsenen fielen sich um den Hals und weinten vor Freude. Nur in Opa Max’ Gesicht sah ich keine Regung. Er war inzwischen zweiundsechzig Jahre alt und hatte in seinem Leben sehr viel Leid erlebt. Im Krieg hatte er seinen Lieblingssohn Rudolf im Alter von zweiunddreißig Jahren verloren. Dieser starb am 7. Juni 1940 in Frankreich für Deutschlands Ehre und Freiheit. Sein Nachruf lautete:


„Treu seinem Fahneneid gab im Westen für Führer und Vaterland sein Leben der Telegraphenarbeiter Rudolf Lange, Unteroffizier in einem Pionier-Bataillon. Wir verlieren in ihm einen pflichtbewußten Kameraden, dem wir ein gutes Andenken bewahren werden. TELEGRAPHENBAUAMT POTSDAM UND GEFOLGSCHAFT (Müller, Oberpostrat)“

Diese Annonce vom 7. Juni 1940 stand in der West Prignitzer Zeitung, wie einer der nachfolgend aufgeführten Zeitungsausschnitte belegt.

Opas anderer Sohn Richard hatte sich aus Liebeskummer aufgehängt, weil seine große Liebe einen anderen Mann geheiratet hatte. Da war seine Tochter Anna wohl das kleinste Übel von allen und Freudentränen sah ich bei ihm nicht.

Mutter ging zu ihm, umarmte ihn und sagte: „Da bin ich wieder.“

„Es wurde auch Zeit“, erwiderte Opa. „Du bist inzwischen einunddreißig Jahre alt. Wo warst du so lange?“

„Ich komme direkt aus Bad Reichenhall, Vater, eine lange Geschichte. Ich hoffe, dass du anders über mich denken wirst, wenn ich sie dir erzählt habe.“

„Schau dir deine Tochter an! Wusstest du, dass sie Doris und Monika in ein Kinderheim gebracht haben, nachdem sie euch abgeholt hatten?“

„Nein, Vater, das wusste ich nicht. Woher auch?“

Ungerührt fuhr Opa fort: „Und Hertha wurde der Kuppelei bezichtigt. Außerdem hat man ihr vorgeworfen, ihre Aufsichtspflicht als Mutter verletzt zu haben. Sie wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Du hast an deiner Tochter so einiges wiedergutzumachen. Und denk mal darüber nach, was ihr uns alles angetan habt!“

Aus einiger Entfernung lauschte ich diesem Gespräch und wunderte mich, das mein Opa so böse auf diese Frau war. Meine neue Mutter erzählte, der Mann an ihrer Seite sei ihr Ehemann und sie hätten am 15. November 1945 in Bad Reichenhall geheiratet. Dort arbeite er als Oberkellner im Bad Luisenhotel, wo auch meine Mutter nach dem KZ als Küchenhilfe hatte arbeiten müssen. Gerhard Neumann sah gut aus. Er hatte schöne weiße Zähne, wirkte sehr gepflegt und roch nach Eau de Cologne. Das war also der Mann, der bei mir die Vaterstelle einnehmen sollte.

Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, wurden Koffer ausgepackt und es gab Geschenke im Übermaß für alle. Schöne Kleider für Monika und mich. Perlonstrümpfe, wie sie kaum eine Frau besaß. Und vor allem Schokolade, die unsere Kinderaugen zum Leuchten brachte. Zu diesem besonderen Anlass gab es richtigen Bohnenkaffee und nicht den sonst üblichen Muckefuck. Opa Max bekam teure Zigarren und die West Zigaretten gingen an diesem Tag nicht aus. Meine Mutter und ihr Mann kamen wohl aus dem Schlaraffenland angereist. Für uns alle war es unvorstellbar, was sich an diesem Tag bei uns abspielte. Die Erwachsenen führten scheinbar endlose Gespräche, deren Inhalt ich natürlich nicht verstand, obwohl ich genau zuhörte. Soviel ich mitbekam, sollte ich mein geliebtes Perleberg verlassen und zu meiner neuen Mutter und ihrem Mann nach Bad Reichenhall ziehen. Sie besaßen ein Visum für drei Monate. Ich sollte also meinen Opa, meine Oma Hertha, die immer lieb zu mir war, und auch meine Tante Gerda, zu der ich „Mutti“ sagte, verlassen. Ich sollte nicht mehr mit Christiane, die noch klein war, und Monika spielen. Meine neue Mutter malte mir den Umzug nach Bad Reichenhall in den buntesten Farben aus, als ob ich in Zukunft in einem Paradies leben sollte, in dem es hohe Berge gab. Ich wusste doch noch nicht einmal, wie Berge aussahen! Sogar ein eigenes schönes Zimmer würde ich bekommen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum sollte ich mein geliebtes Perleberg verlassen, wo ich doch jetzt so glücklich war. Warum sagte Opa Max nichts dazu? Er hatte schließlich die Vormundschaft für mich übernommen, als meine Mutter 1942 ins KZ Ravensbrück interniert wurde. Jetzt hatte ich auf einmal zwei Mütter und sah mich als Kind hin und her gerissen. Ich konnte doch nicht von jetzt auf gleich wieder „Tante Gerda“ statt „Mutti“ sagen!

All dieses Grübeln änderte nichts an der Tatsache: Ich musste mich dem, was längst beschlossen war, fügen. Auf einmal hatte ich eine Mutter, die über mich bestimmte. Ich musste pünktlich von der Schule nach Hause kommen. Dann kontrollierte sie meine Hausaufgaben. Stundenlang saß ich in der Küche und sollte lernen. Ich heulte, weil ich nicht, wie ich es gewohnt war, mit den anderen Kindern draußen spielen durfte. Am Abend legte sie mir schon die Kleidung für die Schule raus. Ich hatte ja von ihr Kleider, Röcke und schöne Blusen bekommen – Hosen kannten wir damals noch nicht. Wir trugen ein Leibchen und Strümpfe, an denen sich ein Knopf befand, an dem das Gummiband vom Leibchen befestigt wurde. Meine Mutter wusch mich, bevor ich zur Schule ging, und sagte: „Auf deinem Hals könnte man Petersilie aussäen, so dreckig ist der!“ Meine Oma hatte so etwas nie zu mir gesagt. Meine Mutter schnitt mir die Fingernägel. Aua, das tat weh! In der Schule mussten wir der Lehrerin unsere Hände zeigen und sie überprüfte, ob diese auch sauber waren. Wenn nicht, bekamen wir mit dem Deckel vom Griffelkasten einen kräftigen Schlag. Wie oft schimpfte ich sie insgeheim eine „blöde Kuh“!

Auch meine Haare kämmte meine Mutter, was höllisch ziepte, woraufhin ich Schmerzenslaute ausstieß und jedes Mal heulte. Vorher hatte ich meine Haare nur einmal in der Woche flüchtig durchgekämmt, weil ich meine Zöpfe nicht jeden Tag neu flechten wollte. Natürlich waren sie mit der Zeit verfilzt und ich erinnerte mich daran, dass Oma Hertha eines Tages gesagt hatte, die Zöpfe müssten abgeschnitten werden und es sei eine Quälerei, mit dem Kamm da durchzukommen. Ich hatte protestiert, denn ich wollte um jeden Preis meine langen Zöpfe behalten. Mal wurden diese zu Affenschaukeln gebunden, mal zu Schnecken gesteckt, was mir sehr gut gefiel. Oma Hertha hatte argumentiert, dass die meisten Kinder in der Schule Läuse hätten. Tatsächlich war auch Monika davon nicht verschont geblieben. Oma kämmte Monikas Haare jeden Tag mit einem Läusekamm aus, die auf einem weißen Stück Papier landeten, woraufhin Oma sie mit ihren Daumen totknackte. Bei diesem Anblick, daran erinnerte ich mich, hatte es gewaltig auf meinem Kopf gejuckt. Dann hatte Monika eine stinkende Flüssigkeit auf ihren Kopf bekommen und ihr Kopf war mit einem Handtuch umwickelt worden. Nach einigen Stunden war sie ihre Läuse los gewesen.

Wir wohnten während der Zeit, die Mutters Visum gültig war, zu acht in der viel zu kleinen Wohnung in Perleberg. So etwas war Mutters Ehemann Gerhard offenbar nicht gewohnt. Man muss sich mal vorstellen, wie das ist, wenn sich die Toilette in der Küche befindet und jedes Geräusch zu hören ist, egal ob gerade gefrühstückt wird oder was auch immer. Auch ein Badezimmer oder eine Dusche kannten wir nicht. Wenn wir reif für die Wanne waren, gingen wir mit Oma Hertha in die städtische Badeanstalt und mussten lange warten, bis wir endlich dran waren. Unsere Waschküche befand sich auf dem Hof, wo Oma Hertha unsere Wäsche in einem Kessel kochte, um sich anschließend die Finger auf einem Waschbrett blutig zu schrubben. Für uns gehörte das zur Normalität, da wir nichts anderes kannten. Aber so ein feiner Pinkel wie mein angehender Vater schwelgte ja in Bad Reichenhall im Wohlstand, da lag das Geld unter den Teppich versteckt. Stolz erzählte er, dass er Geschäfte mit den Juden gemacht hätte.