Lenesias letzte Reise

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Lenesias letzte Reise
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Für meine Eltern

1

Das Gewicht des Buchs auf ihren Oberschenkeln drückte sie tief in das türkisfarbene Sesselleder hinein. Magdalena versank in Meergrün. Was gab es ohne sie zu bereden? Sie kniff die Augen zusammen, so dass wütendes Wasser in den Tränensäcken anstieg, bis der Teppichboden vor den überschwemmten Linsen Wellen schlug. Kleine Tische schwammen wie Holzplanken um das Sesselboot herum. Der Wind trieb eine Wolke in Form eines Kamels über das Wasser. Gemächlich zog sich das Kamel in die Länge, dabei verlor es seinen Höcker. Ein buschiger Schwanz formte sich stattdessen, der nun über einem weißen Pferd auf den Wellen tanzte. Magdalena erkannte das Pferd von Kazimierz. Gewiss! Es war der Schimmel ihres Freundes Kazimierz! Das Tier wurde vom Wasser in einer gleichmäßig ruhigen Bewegung langsam fortgetragen. Magdalena sah ihm nach, hob dann ihren Blick. Am Himmel schwebte das Spiegelbild. Schützend hielt sie die Hand über ihre Augen. Sie sah über das Hafengelände auf das Meer hinaus. Viele Tischchen und Sessel waren an der Barriere gestrandet, hinter der Damen in jadefarbenen Uniformen saßen; vielleicht waren es Matrosinnen. Am Horizont zeigte sich undeutlich ein dunkler Punkt. Magdalena sprang auf und lehnte sich so weit sie konnte über das Geländer. Die harte Metallkante bohrte sich unter dem Rippenbogen in ihren Körper und schnitt ihr beinahe die Luft ab. Oder war es das Schiff in der Ferne, das ihr den Atem verschlug? Noch sah sie es als kleines Spielzeug weit draußen im Blau der See, aber je näher es kam, desto mehr gewann es an Überzeugungskraft, bis es zu einem mächtigen Koloss angewachsen war.

Als es dem Festland bedrohlich nahe war, tauchte sein Kielraum wie ein riesiger Walfischbauch feierlich aus der Gischt auf und taufte Magdalenas weiße Schühchen mit Meerwasser. Die Eisenbeschläge auf dem triefenden Holz strahlten gleißend in der Sonne. Enten schrien um ihr Leben und schwammen aufgeregt davon. Magdalena hörte Männerstimmen. Es hätte jede Sprache sein können, die dumpf und undeutlich an ihr Ohr drang. Oder waren es viele Sprachen gleichzeitig?

„Uwaga!“, schrie jemand.

„Dikkat!“, ein anderer.

Magdalena konzentrierte sich darauf, ob es auch Polnisch in dem Sprachenwirrwarr gab.

„Attention! Zjawa, Miss Magdalena Zjawa, please to number five!“

Der Schiffrumpf knarrte, das Falltor hob sich über die Wasserfläche hinaus. Dann wurde es mit lautem Gebrüll heruntergelassen. Magdalena lief zum Landungssteg dem Heer von gepanzerten Reitern entgegen, das das hölzerne Ungetüm wie ein riesiges Muttertier unter dem Kreischen kreisender Möwen gebar. Silberne Rüstungen blitzten in der Sonne auf, weiße Mäntel flatterten im Wind, und rote Kreuze trugen das Christentum an Land.

„Zjawa, Miss Magdalena Zjawa, please to number five!“, hatte eine der weiblichen Matrosen im Jadekostüm mit rosa Lippen vor einer halben Stunde aufs Meer hinausposaunt. Zur Bordmannschaft des berühmten Klinik-Dampfers, der US-amerikanischen Mayo-Clinic, gehörte auch ein Kinderherzchirurg. Vor wenigen Minuten hatte Magdalena seine Bekanntschaft gemacht. Er hatte sie untersucht, denn er wollte sie am Herzen operieren. Er hatte ihr gesagt, dass sie eine gute Chance habe, gesund zu werden. Zu achtzig Prozent würde die Operation gelingen. Ihre Lippen würden rosig werden, so wie die der Damen hinter der Anmeldung. Und sie würde dazu keinen Lippenstift auftragen müssen!

Denn deshalb hatten Magdalena und ihre Mutter den weiten Weg von Europa auf sich genommen.

Aber dann hatte die Mutter sie an der Hand genommen, sie vor die Tür gesetzt und war ohne sie wieder im Untersuchungszimmer verschwunden. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter erfuhr, warum der Operationstermin verschoben werden sollte. Magdalena versuchte, sich von unbestimmten Gedanken, die in ihr aufkeimen wollten, abzulenken, Gedanken, die sie wieder ins Meergrün hineindrückten, so dass sie Sorge hatte, darin zu ertrinken. Sie las in dem aufgeschlagenen Buch in ihrem Schoß.

Der Falkner war tief gefallen, der Aufprall war sein augenblicklicher Tod gewesen. Acht der neun Falken waren nach Hause gekehrt, ohne ihren Herrn, denn der war tot. Aber ihr Herr, Kazimierz´ Vater, war am Fuß der Felsen nirgends gefunden worden, es hatte keine Spuren im Schnee gegeben! Ganz so, als sei er davongeflogen.

Eine Trauerfeier hatte trotzdem stattgefunden, ohne Sarg.

Was gab es ohne sie zu besprechen? Magdalena wischte die Tränen aus ihren Augen, die die Buchstaben davonschwimmen ließen. Dass der Doktor nicht sofort wieder operieren wollte, nachdem ihm ein Kind im Operationssaal gestorben war, dass er eine Pause einlegen wollte, das musste man ihr nicht verschweigen! Sie hatte mehr verstanden, als man es einer neunjährigen kleinen Polin zutraute, auch wenn sie hier nur eine Ausländerin war und erst seit kurzem Englisch lernte. Aber ihre Mutter hätte es besser wissen müssen! Schließlich war auch sie Ausländerin und verstand trotzdem mehr als ihrem bisschen Englisch zuzumuten war! Und als es ihr lieb war. Magdalena hatte eine feine Beobachtungsgabe, was das Gesicht ihrer Mutter betraf. Sie konnte an der Tiefe der Falte zwischen ihren Augenbrauen ablesen, wie groß die Sorgen waren, und sie hatte die Wahrnehmungsfähigkeit, Unausgesprochenes zu hören. Sie hatte gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen; ihr Vokabelheft war dicht gefüllt mit Zeilen. Sie wunderte sich, warum sich ihre Mutter wieder einmal bemühte, sie vor gewissen Tatsachen des Lebens zu bewahren. Das Leben bestand aus Tatsachen, das der Erwachsenen wohl zu achtzig Prozent. Trotzdem war das Mädchen, das gestern operiert worden war, den anderen Prozenten zum Opfer gefallen, denen jenseits des Lebens. Der Doktor wollte eine kleine Pause einlegen. Magdalena starrte wieder angestrengt in das Buch, das sich von selbst auf die erste Seite zurückgeblättert hatte.

Es war ein bitterkalter Winter, der sich zwischen die Jahre 1240 und 1241 geschoben und die Zeit eingefroren hatte. Dünnes Tageslicht schimmerte auf dem Eis zugefrorener Seen, und tiefschwarze Nächte fraßen gierig an der hellen Schneedecke, die gestickt war aus zartem Kristall. Die Zeit, die Kazimierz sich von den ausgeblichenen knochenweißen Kalksteinfelsen und den weiten Auen seiner Heimat entfernt hatte, schien verlorengegangen. Die weiße makellose Landschaft, die sich bis weit über den Horizont hinaus vor Kazimierz ausstreckte, gab dem Jungen das Gefühl, nach Nirgendwo aufgebrochen zu sein.

Wieder verwehrten es ihr Tränen, die Buchstaben zu entziffern. Magdalena streifte mit den Füßen ihre Schuhe ab und holte ihre Beine zu sich in den Sessel. So war sie oft neben ihrer Babcia gesessen; die Großmutter in der Mitte, das dicke Buch im Schoß aufgeschlagen, Helene, schwarzes Engelchen, wie Babcia die Schwester immer nannte, auf der einen Seite und sie, blondes Engelchen, auf der anderen. Der Überwurf meist zu einem Knäuel hinter ihren Rücken verrutscht, und der dunkelgelbe raue Stoff der Couch kratzte an der Fußsohle. Sie hätte jetzt gerne ihre Zehen unter Babcia Annas warmes Hinterteil gebohrt. Was mochte seit ihrer Abreise alles geschehen sein? Magdalena und Mamusia hätten nicht alleine fortgehen dürfen! Es war im Winter gewesen. Zwischen Panzerpatrouillen und Knüppelschlägen war Weihnachten in Vergessenheit geraten, und die Zeit in Gefangenschaft. In einer stillen Nacht waren sie klammheimlich aus Polen geflohen. Nur sie beide, Mamusia und sie.

„Magdalena, zieh dich wieder an und bleib draußen im Wartebereich!“, hatte ihre Mutter vor einer viertel Stunde zu ihr gesagt. Was gab es ohne sie zu bereden? Magdalena war hinausgeschickt worden in das Meer von Sesseln und Tischen des Wartesaals.

„Kazimierz, wo bist du?“, flüsterte sie. Tränen überfluteten ihre Augen, so dass sich der Horizont auflöste und der breite Wasserstrom in den Himmel ausfloss. Zwei Schwäne schwammen in dem Zwischenbereich, wo die Luft dampfte und die Sonne die Schwäne in ein blaugrünes Lichtspiel verwandelte.

„Bist du da?“ Sie bohrte ihren linken Fuß unter den rechten Oberschenkel. Das Wasser umspielte ihr kleines meergrünes Boot.

2

„Skończymy!“ Plötzlich stand die Mutter vor Magdalena. Sie reichte ihr die Hand. „Für heute sind wir fertig hier. Morgen früh um acht müssen wir im St. Mary´s Hospital sein.“

„Warum?“, fragte Magdalena.

Ewa sagte ihrer Tochter nicht, dass ein Herzkatheter vor der Operation gemacht werden sollte. Sie wollte ihr nicht unnötig Angst machen, denn das letzte Mal hatte schreckliche Erinnerungen hinterlassen.

„Kochanie, jemy lody? Magst du ein Eis? Wir könnten am Wochenende einen Ausflug zum Mississippi unternehmen, was hältst du davon?“ Nein, es hatte gewiss nichts Gutes zu bedeuten, was in ihrer Abwesenheit besprochen worden war! „Pani Agnieszka hat gesagt, auf dem Weg dorthin kämen wir an einem Indianerreservat vorbei.“

Indianerreservat. Gut und schön, es gab hier Cowboys – Männer mit Cowboyhüten auf dem Kopf; breitbeinig und Kaugummi kauend waren sie im Chicagoer Flughafen in Scharen herumgelaufen –, dann gewiss auch Indianer, aber Magdalena durchschaute das Ablenkungsmanöver. Sie steckte trotzig ihren Kopf wieder zwischen die Seiten.

Kazimierz hatte sich die Zwiebel einer Gladiole um den Hals gebunden, die, wie jedermann wusste, nahezu unverwundbar machte, und hatte sich auf den Weg gemacht. Er wollte zum Meer im Norden. Zu den Kreuzfahrerschiffen, die in den legendären Osten fuhren. Denn vielleicht war der Vater von den Tataren entführt worden. Mongolen. Sie waren aus dem Osten gekommen, auf ihren kleinen wendigen Ponys durch Litauen geritten und brandschatzten nun die Herzogtümer Polens. Sogar das Königreich Ungarn war ihnen zum Opfer gefallen! So wurde jedenfalls gemunkelt.

 

„Wo ist jetzt Tatuś? Weißt du es?“

Die Mutter riss es aus ihren Gedanken. Vielleicht hatte auch sie gerade an Tatuś, den Vater ihrer Kinder, gedacht.

„Magdalena, proszę! Bitte quäle mich nicht immer mit denselben Fragen!“ Ewa Zjawa streifte sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht und reichte ihrer Tochter nochmals die Hand. „Nie wiem“, hauchte sie, „ich weiß es doch auch nicht.“ Sie hatte nicht die Kraft, ihr Kind auf die Beine zu ziehen.

„Wir müssen Gladiolenzwiebeln kaufen.“ Magdalena stieg vom Sessel hinunter in ihre Schuhe und gab ihrer Mutter das Buch, damit sie es wegstecken würde. In der Handtasche hatten sich sämtliche Zettel – Wegbeschreibungen, Kärtchen mit Telefonnummern, ärztliche Anweisungen, der Stadtplan von Rochester – ineinander verhakt, und Ewa zog den Packen Papiere heraus und ordnete ihn neu. Zuerst das Buch in die Tasche, es nahm den meisten Platz in Anspruch, dann den Stadtplan, die Flugtickets. Ewa kramte nervös in den hinteren Winkeln nach einem Taschentuch.

„Wir müssen telefonieren … Er wird kommen. Sie werden alle kommen, du wirst sehen, Andrzej und Helene und Tata und … Sie werden alle kommen …“

„Mamusia, gibt es in Amerika Gladiolen?“

„Bestimmt, Kochanie-Liebling. Wir werden Pani Agnieszka fragen.“

Agnieszka Nowak war die amerikanische Polin, die Dolmetscherin.

Im Aufzug drückte Ewa auf Subtown. Unter der Stadt gab es Geschäfte, Apotheken und Restaurants.

„Was magst du essen?“

„Lody! Hast du versprochen!“, erinnerte Magdalena.

„Ja, aber du musst heute noch was Richtiges essen.“ Ewa wusste, dass sie morgen früh vor der Herzkatheteruntersuchung nichts mehr zu essen bekäme.

„Mamusia, ich will keine Untersuchung mehr.“

Beinahe hätte Ewa geantwortet: Ich auch nicht.

„Du musst keine Angst haben, Kochanie. Es wird dir nichts passieren.“

Es gab für Magdalena himmelblaue Ice Cream mit einer Vanillewolke obenauf, später bei Maria, der Italienerin, die ihre Vermieterin war, Spaghetti mit Tomatensoße, in der Ananasstückchen schwammen. Ewa Zjawa hatte ein kleines Zweibettzimmer mit Bad und schmaler Küchenzeile gemietet, mit TV und einem Fensterspalt unter der Decke im Souterrain, wo die Zimmer billiger waren. Es war fraglich, wie lange das Geld reichen würde.

„Wir müssen telefonieren“, sagte Ewa noch einmal leise und drehte das Schloss der Tür herum, an der eine Zwei aus Metall angebracht war.

Magdalena schlüpfte aus Jacke und Schuhen und griff nach Mamusias Tasche. Sie zog das Buch heraus. Die Flugtickets fielen auf den Boden: Hin- und Rückflug für einen Erwachsenen und ein Kind, Nürnberg, BRD - Frankfurt am Main - Chicago, USA - Rochester, Minnesota.

„Mamusia, wann fliegen wir nach Polen zurück?“

Ewa konnte ihre Tochter nicht hören, sie war im Bad, der Wasserhahn plätscherte.

„Mamusia! Liest du mir vor?“ Magdalena warf sich aufs Bett.

Kazimierz wanderte durch den endlosen Krakau-Tschenstochauer Jura. Das Weiß des Kalksteins war vom Schnee verhangen, weiße Hügellandschaft führte ihn nordwärts in das angrenzende Großpolen. In den Dörfern machte er Rast und ersuchte die Menschen um Nahrung. An jeder Straßenkreuzung und an den Waldrändern, die seinen Weg säumten und die er nicht vermeiden konnte, faltete er seine Hände zum Gebet, um die Schutzheiligen anzurufen, und ging mit eingezogenem Kopf zügig voran. Es waren Gegenden, die besonders gerne von König Herle heimgesucht wurden, der darauf aus war, seine Heerschar stetig zu vergrößern.

Unwillkürlich faltete Magdalena ihre Hände unter der Brust, die man bald aufsägen würde. Die Rippen auseinanderbrechen, um an das Herz zu gelangen. Von diesen Details sollte das Mädchen eigentlich nichts wissen. Das Herz vom Kreislauf trennen und den Körper an eine Maschine anschließen. Je geringer die Angst, desto günstiger für den Verlauf. Aber Magdalena hatte bereits im Medizinmuseum der kleinen Stadt Rochester eine Herz-Lungen-Maschine betrachten können. Ewa hatte bereut, nicht erst nach der Operation das Museum aufgesucht zu haben.

Hier trieb er sich oft herum, lauerte einsamen Wanderern auf, der wilde Jäger, König der Toten und welche Namen man sonst noch für ihn gefunden hatte, der eine Horde von verdammten Rittern befahl und sämtliche Ausgeburten der Hölle um sich scharte.

Eine Hand streichelte über Magdalenas Haar.

„Soll ich dir vorlesen, Kochanie, mein Liebling?“

Er durfte keinesfalls einschlafen; die Winternacht würde sich anschleichen und seine Seele mitnehmen. Wahrscheinlich lauerte König Herle bereits auf seinen Tod.

Kazimierz schlief ein.

Magdalena griff nach Mamusias Hand, damit sie bei ihr bleiben würde.

Man hätte meinen können, er sei tot. Kazimierz´ Gesicht war blaugefroren, vor allem seine Lippen waren blau wie die Heidelbeeren im Sommer.

Magdalena änderte verlegen ihre Körperhaltung. Verstohlen sah sie zu Mamusia hoch. Ihre Mutter lächelte wie ein Engel und fuhr über ihr dunklen Lippen.

„Bald werden sie rot wie Erdbeeren sein.“

Oftmals glaubten die Leute auf der Straße, sie habe Blaubeeren gegessen, Leute, die sie gar nicht kannte. Manche fanden ihren Lippenstift nicht schön und meinten, es Magdalena sagen zu müssen. Nie hatte sie Lippenstift aufgetragen und ganz bestimmt keinen blauen! Im Sommer zog man sie regelmäßig aus dem See, weil man der Meinung war, sie sei schon zu lange im Wasser gewesen, den blauen Lippen nach zu urteilen. Dabei war ihr Badeanzug meistens kaum nass geworden. So jung und schon herzkrank? Die Leute konnten es nicht glauben und schimpften sie, wenn sie ihre kleine Schwester die Büchertasche tragen ließ, so dass Helene zwei zu schleppen hatte, während sie mit leeren Händen nebenher trottete. Sogar die Mutter wurde von Wildfremden zurechtgewiesen, wenn sie das Mädchen auf dem Arm trug.

„Du wirst sehen, nach der Operation wird Schluss damit sein!“

3

„Helene!“ Magdalena trat kräftig in die Pedale. Von Mal zu Mal ließen sie sich schwerer hinunterdrücken. „Helene! Fahr langsamer!“

Der Abstand zur Schwester wurde rasch größer. Helene ratterte auf ihrem roten Flitzer scheinbar mühelos über alle Unebenheiten und Hindernisse hinweg; ihr Fahrrad war schneller als Magdalenas gelber Drahtesel. Esel? Es war ein Pferd, ein gelbes, vielleicht ein Haflinger oder ein Shetlandpony. Jedenfalls war es ein Gimmel. Kein Fuchs wie bei Helene, kein Rappe oder Brauner, kein Schimmel. Für gelbe Pferde gab es keinen Fachbegriff. Also hatte Magdalena es kurzerhand Gimmel genannt.

Als der holprige Waldweg eine Biegung machte, verschwand Helene hinter den langen dünnen Baumstämmen und dem trockenen Gestrüpp, das sich an ihnen hochhangelte. Es war heiß und schwül; die Luft war sogar im Wald drückend. Jetzt ein paar Blaubeeren finden! Kleine, feuchte, süße Tropfen zwischen kratzendem und pieksendem Gesträuch am Boden. An der Kurve gab es welche, Magdalena wollte es wenigstens bis dorthin schaffen. Sie biss die Zähne zusammen. Trotz größter Willensanstrengung ließen sich die Pedale jetzt überhaupt nicht mehr nach unten bewegen. Magdalena sprang ab, bevor sie samt Rad umgekippt wäre. Sie musste nach Luft schnappen. Der wenige Sauerstoff entfachte das lodernde Züngeln in ihrer Brust zu einem ausgewachsenen Brand. Sie ließ das Fahrrad fallen und krallte ihre kleinen Finger in die Brust, als könne sie so das spuckende Feuerwerk erwürgen.

Helene tauchte an der Wegbiegung wieder auf, sie war umgekehrt, um zu sehen, wo Magdalena abgeblieben war.

„Helene, schau, mein Pferdchen ist umgekippt, es kann nicht mehr“, keuchte Magdalena. „Ich bringe es zum Großen Stein, damit es sich ausruhen kann.”

„Einverstanden!“ Helene wendete wieder, noch bevor sie die Schwester erreicht hatte und verschwand abermals hinter den ausgetrockneten Kiefern. Magdalena hob ihr Rad auf und schob es den Weg zurück, den sie gerade noch entlang geradelt war – zuerst ganz tüchtig, dann immer langsamer und mühsamer, schließlich nur noch mit allerletzter Kraft und zusammengebissenen Zähnen. Jetzt tat ihr das Zahnfleisch weh; es hatte sich in den aufschlagenden Flammen wie Speck in der Pfanne zusammengezurrt. Im Schneckentempo stieg sie über die Wurzeln, die die spröde Erde durchbohrten. Es hatte lange nicht mehr geregnet, und der Waldboden war trocken wie Staub, an manchen Stellen sogar wie alte rissige Haut aufgeplatzt. Die Spätsommersonne schoss weiße Pfeile durch die lichten Baumreihen. Magdalena setzte in einer unsäglich langsamen Bewegung ihre Füße auf den Boden, erst den einen, dann den anderen. Sie ging so langsam, dass es jedem anderen schwergefallen wäre, neben ihr herzugehen. Aber sie ging ja allein. Allmählich kam sie innerlich wieder zur Ruhe. Das Feuer zwischen den Rippen erlosch und ließ eine zarte Glut zurück, die sie nur dumpf an den Schmerz, die Schwäche und das Elend erinnerte, die noch vor wenigen Minuten in ihr getobt hatten. Zufriedenheit stieg in ihr auf, und sie genoss die Ruhe, die sich um sie herum ausgebreitet hatte. Die Vögel waren still geworden. Magdalena war nur noch wenige Zeitlupenschritte von ihrem Glück entfernt, dem Glück, ohne Schmerz und ohne Mühe atmen zu können. Das Atmen schlichtweg vergessen zu dürfen! Ihr gelbes Pferdchen hatte nichts gegen das Tempo einzuwenden; es war erschöpft und musste geschoben werden. Und Helene konnte endlich Gas geben! Magdalena wusste, dass sie für die wilde Helene manchmal ein Klotz am Bein war. Sie erreichte den Großen Stein, lehnte das Rad an den mannshohen Felsbrocken und kletterte hinauf. Zum Glück kam eine leichte Brise auf, denn die schwüle Luft setzte ihr zu. Es würde heute noch ein Gewitter geben, sie durften nicht zu lange wegbleiben, hatte die Mutter gesagt. Hoffentlich vergaß Helene das nicht! Die fuhr bestimmt schon in das tiefe Loch hinunter, das sich hinter der Wegbiegung zwischen eng beieinanderstehenden Nadelbäumen gegraben hatte. Das Loch klaffte im Unterholz wie eine große Wunde auf dem behaarten Rücken des Drachen Wawel, der seinen schweren Körper der Legende nach in einer Höhle bei den Kalksteinfelsen ausruhte. Ein Steinschlag hatte den Drachen verletzt, und ein Sternenschlag den Waldboden. Ein Meteorit war vor hunderten von Jahren hier eingeschlagen. So jedenfalls hatte es Andrzej erzählt. Die Bäume waren vor Schreck zur Seite gesprungen und hielten sich noch heute ängstlich aneinander geklammert. Mit ordentlichem Schwung musste man sich auf seinem Rad den sandigen Abhang hinabstürzen, um auf der anderen Seite so hoch wie möglich zu kommen. Magdalena stellte sich vor, wie sie selbst mit einem Affenzahn hinunterraste, an Helene vorbei. Die würde sich staunend die Hand vor den Mund halten. Dann würde Magdalena kräftig in die Pedale treten, ihr Gimmel würde sich aufbäumen und das Laub am tiefsten Punkt der Kuhle aufwirbeln – kein Gedanke daran, im Sand steckenzubleiben! Mit spielerischer Leichtigkeit würde sie die steile Wand hochschießen, bis sie über den Kraterrand hinweg springen und mit wehenden Haaren sicher landen würde. Das hatte bisher noch niemand geschafft! Nicht einmal Helene, die besser war als alle anderen Kinder in der Nachbarschaft. Helene fuhr oft hierher, um zu trainieren.

Magdalena lauschte dem Gezwitscher der Amsel, die über ihr auf einem Ast unvermittelt anhub zu singen. Andere Vogelstimmen mischten sich ein. Huhu hu. Auch den Ruf eines Käuzchens konnte Magdalena ausmachen. Die Vögel klangen aufgeregt. Sie spürten, dass ein Unwetter bevorstand und mahnten zur Heimkehr. Magdalena hörte ein Rascheln. Ein leises Wiehern. War das ihr Gimmel gewesen? Sie öffnete die Augen. Neben ihrem Fahrrad graste ein großes weißes Tier. Es war weiß wie Schnee und leuchtete in der Sonne. Ein Schimmel, es war ein echter Schimmel! Das Pferd konnte mit seinen weichen Lippen die Grashalme auf dem Fels erreichen, auf dem sich Magdalena ausruhte. Sie spürte den warmen Atem aus den aufgeblähten Nüstern an ihrer Hand. Magdalena hob vorsichtig ihren Kopf. Sie achtete darauf, ihre Hand nicht zu bewegen, die so nahe an dem Tier war, das womöglich Angst bekommen könnte. Oder war es umgekehrt? Hatte sie nicht vielmehr Angst vor dem Pferdemaul, das nur eine Handbreit von ihr am Moos rupfte? Sie sah das Tier mit stockendem Atem an. Ein reichverzierter Gurt lag um den kräftigen Körper, und ein hoher Sattel thronte auf einer weißen Decke, die bestickt war mit roten Kreuzen. Magdalena blickte sich vorsichtig um. Irgendwo musste doch der Besitzer sein! Vielleicht ein Räuber? Plötzlich riss das Pferd seinen Kopf hoch, wieherte scharf, trabte einige Meter auf dem Weg davon und bog in den Wald ab. Bis Magdalena von dem Fels hinunter geklettert war, war es im Unterholz verschwunden.

 

„Pferdchen, warte!“ Sie kämpfte sich durch Äste, Tannen- und Kiefernadeln. Dornen zerkratzten ihre Arme und Beine. Dabei bemerkte sie nicht, wie tief sie inzwischen in den Wald eingedrungen war. Erst als sie das kleine Holzhäuschen sah, das wie aus dem Erdboden geschossen vor ihr auftauchte, wurde ihr klar, dass sie bereits einen weiten Weg hinter sich gebracht hatte. In der Ferne hörte sie ein Grollen. Mit Schrecken wurde ihr bewusst, dass die Sonne ihre breiten Strahlen schon eine geraume Zeit aus dem Wald zurückgezogen hatte. Sie waren hinter dunklen Wolken verschwunden. Die Hütte lag verlassen da. Die Fenster waren verrammelt. Und trotzdem schien es, als würde das Häuschen genutzt. Es sah nicht unfreundlich aus und war zudem gut erhalten; keine heruntergebrochenen Latten, keine eingeschlagenen Scheiben. Andrzej hatte schon viel über die Hütte im Wald erzählt. Meist wollte er seinen beiden kleinen Schwestern Angst einjagen. Mal war sie der geheime Versammlungsort der oberen Anführer der Solidarność-Bewegung, mal war sie das Versteck von Schleusern für Diebesgut oder Flüchtlinge. Auch hatte sie in seinen Erzählungen als Trainingscamp für die ZOMO-Soldaten herhalten müssen. Es war ein Ort, vor dem er seine Schwestern immer wieder eindringlich warnte, vermutlich, um seine außerordentliche Tapferkeit herauszustreichen, weil er selbst dort spionierte. Er sprach aber nur von der Hütte, wenn die Mutter nicht in der Nähe war. Sie hatte es nicht so gern, wenn er den Mädchen Angst machte. Außerdem war Mamusia der Meinung, dass es eine Jagdhütte war, wo Geräte und Futter aufbewahrt wurden. Magdalena dachte jedoch in diesem Moment an Andrzejs Versionen. Sie lief zu ihrem Gimmel zurück. Nach Helene rufend fuhr sie ein Stück in Richtung Sandkuhle, und als Helene auftauchte, drehte sie schnell um, um den Vorsprung zu nutzen, den sie jetzt hatte. Es würde nicht lange dauern, bis die kleine Schwester sie eingeholt haben würde.