Lenesias letzte Reise

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6

„Lenesia“, Ewa streckte sich im Dunkeln zu dem zerzausten Blondschopf im oberen Stockbett hoch, der im Schlaf ans Fuß-ende gerollt war. „Lena, wach auf“, flüsterte sie und rüttelte Magdalena sanft an der Schulter, bis das Kind die Augen aufschlug. „Sei leise, damit Lene nicht aufwacht.“

Schlaftrunken und verwirrt schaute Magdalena auf den schwarzen Umriss ihrer Mutter. Ihr Blick wanderte zum Rollladen. Er war heruntergelassen, zwischen den Ritzen war es dunkel; es musste noch mitten in der Nacht sein. Die Mutter hatte kein Licht eingeschaltet. Helene lag unter ihr im Tiefschlaf. Magdalena lauschte auf den gleichmäßigen Atem ihrer Schwester.

„Bist du jetzt wach?“ Ewa kickte aus Versehen eine Zinnfigur gegen eine Porzellantasse, die am Abend am Bettrand vergessen worden war. Es hatte wie das Klirren von Schwertern geklungen. Magdalena wurde schlagartig hellwach. Waren die Russen einmarschiert? Gab es Krieg? Ein Schauer fuhr durch sie hindurch, der ihr genügend Schwung gab, ihre Beine über die Bettkante zu werfen. Sie stieg die Holzleiter hinunter und setzte ihren linken Fuß auf einen von Andrzejs kleinen Zinnsoldaten, den sie zum Modellstehen für ihr Bild, das sie malen wollte, aus dem Zimmer des Bruders entführt hatte. Auf einem weißen Blatt Papier stand er nun in bleistiftgrauer Uniform einem bewaffneten Ritter in der Tracht des Templerordens mit rotem Filzstiftkreuz gegenüber. Das Blatt lag neben dem gestürzten Soldaten, und beinahe hätte es Magdalena mit dem rechten Fuß zerknittert. Auf der untersten Sprosse innehaltend, um in der Dunkelheit erst einmal das Schlachtfeld zu sondieren, fiel ihr wieder ein, dass sie heute nach Warschau fahren wollten. Wegen der Medizin und wegen verschiedener anderer Dinge, die Tatuś zu regeln hatte. Er würde auch mitfahren! Ein Ausflug mit Tata und Mama nach Warschau! Tata und sie waren von ihren Verpflichtungen Arbeit und Schule abgemeldet, Helene und Andrzej dagegen durften dort nicht fehlen. Ohne Grund fehlen, das erlaubte Mamusia nicht.

Magdalena zog das Wollkleid an, das ihr Ciocia Donuta, die Tante, gestrickt hatte; beiden Mädchen hatte sie dasselbe Kleid gestrickt. Zwar kratzte es, aber das hübsche Rosa würde dieses kleine Unbehagen sicher aufwiegen, entschied Magdalena.

„Nein, Lena, das wird dir viel zu warm. Zieh die Sachen an, die ich dir über den Stuhl gelegt habe“, sagte die Mutter, als sie sich in der Küche stolz präsentierte.

„Aber ich muss doch schön sein für die Stadt.“

„Das bist du. Wir sitzen mindestens fünf Stunden im Auto. Zieh die Hose an, die ich dir rausgelegt habe. Und nicht im Zimmer, hörst du?“, rief Mamusia ihr mit gedämpfter Stimme nach. „Sonst weckst du noch Helene.“

Es war erst fünf Uhr. Die Geräusche des taufrischen Morgens, das Schlagen der Autotüren, die aufgeregte und gleichzeitig verhaltene Stimme, die fragt, ob der Korb mit den Eiern schon nach draußen getragen wurde, waren von der Stille des Schlafs, aus dem sie sich langsam schälten, wie umwoben.

„Ist die Decke schon im Auto?“

„Welche Decke? Ich sehe keine!“

„Die karierte!“

Magdalena wurde in die Decke gewickelt und auf die Rücksitzbank gesetzt.

„Das Buch, Mamusia! Hast du das Buch?“

„Nein. Wo soll es denn sein?“ Ewa schob den Korb mit den gekochten Eiern, Kaffee und einer Flasche Wasser unter Magdalenas Füße. Dann lief sie noch einmal ins Haus, um das Buch zu holen, warf einen Blick zu Andrzej und Anna ins Zimmer – Anna saß angekleidet auf ihrem Bett, legte einen Finger auf den Mund und gab Ewa ein Zeichen, damit sie beruhigt gehen konnte. Ewa zog die Haustür hinter sich zu und setzte sich auf den Beifahrersitz in den Wagen. Es war ein orangefarbener Fiat Polski, das Auto der Nachbarn Szerek. Marek öffnete die Motorhaube und überprüfte den Öl- und Wasserstand. Das Zuschlagen der Haube erreichte Magdalena nur noch fern, denn der Schlaf war dabei, sie wieder mit sich fortzutragen.

„Hast du den Wodka und die Zigaretten eingepackt? Und die Wurst? Marek, hast du an die Wurst gedacht? Ach, die ist bestimmt noch im Kühlschrank.“

Die Wurst! Seit Dienstag lag die feine teure Wurst im Kühlschrank. Niemand hatte sie anrühren dürfen.

Magdalena verschlief die ersten zweihundert Kilometer, eingewickelt in die Decke mit den großen Karos und geschaukelt von dem fahrenden Wagen über zahllose Schlaglöcher im Asphalt. Sie wachte etwa zu der Uhrzeit auf, als zuhause die Schulglocke zur ersten Stunde läutete.

„Ich fahre euch zum Krankenhaus und dann am besten gleich weiter zum Woidwodschaftsamt.“

„Marek!“ Ewas Stimme schwang gefährlich nach.

„Was ist?“, fragte Marek aggressiv.

„Ich will nicht, dass du ohne mich dahin gehst.“

„Ewa! Proszę!“, sagte er mit Betonung jeder einzelnen Silbe.

„Nein, ich will das nicht!“, rief Ewa und drückte ihre Knie fest aneinander. Mit finsterer Miene und tiefer Furche auf der Stirn wandte sie ihren Blick von ihrem Mann ab hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. „Sie werden dich nicht mehr gehen lassen.“

„Ewa, natürlich lassen sie mich wieder gehen.“

Magdalena fing die kurzen harten Blicke ihrer Eltern im Rückspiegel auf.

„Wir sollten hierbleiben.“ Ewa starrte mit zusammengekniffenen Lippen auf die Straße, die vom Wagen aufgefressen wurde. Der löchrige Asphalt verschwand unter dem Fiat, und das Scheinwerferlicht, das Marek vergessen hatte auszuschalten, obwohl es inzwischen hell geworden war, flackerte beinahe unsichtbar geworden gespenstisch wie ein Irrlicht vor ihnen her. Die grelle Vormittagssonne schien auf ein graues Band, das sich über eine Hügellandschaft schlängelte. Bäume, Sträucher und Strommasten warfen schwarze Schatten auf die immer wieder nachwachsende Straße. Helle und dunkle Flecken flohen unter ihnen hindurch.

„Doch nicht ausgerechnet nach Deutschland! Lieber wandere ich nach Amerika aus!“

„Ewa, bitte fang nicht wieder damit an! Siehst du nicht, was hier passiert? Sie gehen immer radikaler gegen die Solidarność vor! Wir gehen, bevor es zu spät ist.“

„Ganz Polen ist in der Solidarność! Was wollen sie da schon ausrichten!“

Sie schwiegen und holperten über die Löcher. Marek zündete sich eine Zigarette an.

„Nicht doch, Marek! Das Auto gehört uns nicht.“

Marek kurbelte die Scheibe des Seitenfensters hinunter und drückte verärgert aufs Gaspedal. Der Wind sauste durch schwarzes, braunes und blondes Haar.

„Marek!“

„Wie weit ist es noch?“, fragte eine Kinderstimme von hinten.

„Mach das Fenster wieder zu!“ Ewa drehte sich zu ihrer Tochter um. „Du kannst noch ein bisschen schlafen.“ Sie versuchte über die Rückenlehne hinweg die Decke bis zu Magdalenas Kinn hochzuziehen, aber ihr Arm war dazu nicht lang genug. Magdalena zog sie sich selbst bis zur Nasenspitze und drehte sich zum Fenster, in der Hoffnung, durch die Ritze etwas frische Luft zu ergattern. Kaum hatte der Vater die Scheibe wieder hochgekurbelt, war es stickig in dem kleinen abgeschlossenen Raum geworden.

Wiesen zogen draußen vorüber. Ein gottverlassenes Land, so schien es, und hinter der Hügelkette lagen sie auf der Lauer. Viele kleine Zinnsoldaten, in Reih und Glied zu einer undurchdringlichen grauen Wand aufgebaut, wie eine dichte Nebelbank, die am Horizont aufstieg. Magdalena konnte den vergifteten Pfeil spüren, der sie mitten ins Herz getroffen haben musste. Sie schossen wieder mit Pfeilen! Offenbar war sie schwer verletzt worden; sie malte sich aus, wie sie sich nur mit letzter Kraft im Sattel halten konnte, von einem strahlenden Schimmel über die Felder getragen. Magdalena vertraute auf den Instinkt des Tieres; es würde sie zu seinem Herrn bringen, einem Ritter in weißem Ordensmantel.

„In Deutschland gibt es bessere Krankenhäuser,“ sagte der Vater mit fester und überzeugter Stimme, der Ärger war aus ihr verschwunden.

„Was ist, wenn sie uns verraten? Du weißt nicht, was die Deutschen mit uns machen werden.“ Ewa zündete sich jetzt ebenfalls eine Zigarette an und öffnete einen Spalt breit das Fenster.

„Ich spreche von der BRD, West-Deutschland.“

„Auch Deutsche.“ Verächtlich stieß sie den Rauch durch den Fensterschlitz hinaus. Der Zigarettenqualm wurde von der Scheibe zurück ins Wageninnere gedrängt und verzog sich zu Magdalena auf die Rücksitzbank.

„Dort gibt es Medizin, vielleicht können sie Lena sogar operieren“, fuhr Marek fort.

Ewa fielen keine Widerworte ein. Wie lange würde man in Polen noch Magdalenas Tropfen bekommen können? Würde man das Medikament denn überhaupt noch kriegen? Besorgt wandte sie sich nach ihrer Tochter um, die aus dem Fenster schaute, so dass Ewa die blauen Lippen nicht sehen musste.

In Warschau schwollen die Spielzeugsoldaten zu Lebensgröße an. Die Zjawas wurden mit Polizeiaufgebot und Panzerdivisionen empfangen.

„He, Sie! Was soll das?“

Marek bremste vor dem Soldaten ab, der ihnen gestikulierend den Weg abschnitt.

„Was soll das werden? Ist Ihnen das noch nicht genug? Wollen Sie denen auch noch leuchten?“, rief er zum Fenster herein.

Marek verstand und schaltete die Scheinwerfer aus.

„Tut mir leid“, sagte er ohne aufzublicken.

„Hier können Sie jedenfalls nicht weiter. Drehen Sie um!“ Der schwerbewaffnete Mann zeigte auf die Absperrung und wandte sich dann wieder dem Demonstrationszug dahinter zu. Warschaus Einwohner waren der Regierung offensichtlich zu nervös geworden, sie mussten im Auge behalten werden. Eine große Unruhe trieb die Bürger auf die Straße, eine Unruhe, die nicht mehr geduldet wurde. Aber niemand konnte den Bürgern einen Spaziergang durch die Stadt verwehren! Und man traf sich wie zufällig bei einem Stadtbummel. Man redete. Immer lauter wurden die Stimmen. Die Wut auf die Misswirtschaft der Herrschenden und die Frustration über die langen Schlangen vor leeren Regalen, während selbst in Saus und Braus gelebt wurde, konnten nicht mehr unterdrückt werden. Die Warschauer hatten sich zu Menschenmassen zusammengerottet und hissten weiße Fahnen mit dem roten Schriftzug der Solidarność in die Höhe. Magdalenas Blicke verfolgten sie durch die Heckscheibe, bis sie verschwunden waren. Die Wächter des russischen Kommunismus waren alarmiert und riegelten sämtliche Straßen ab. Marek war verwirrt und kannte sich auf den übriggebliebenen Straßen zwischen Wohnsilos und kargen Spielplätzen nicht mehr aus. Einzigen Orientierungspunkt bot die Raketenspitze des Kulturpalastes.

 

„Da vorne ist er wieder! Fahr da lang!“ Ewa stach mit ihrem Zeigefinger beinahe durch die Windschutzscheibe.

„Ja und? Wir wollen aber zum Krankenhaus! Frag doch mal die Frau da.“ Marek drückte die Bremse tief hinunter, als er eine Frau mit Kinderwagen erblickte, und Ewa streckte ihren Haarschopf aus dem Seitenfenster.

Sie kurvten eine geschlagene Stunde durch die Großstadt. Magdalena hatte nach vorne die Aussicht auf Mamusias kastanienbraune Haarwellen und Tatuś´ schwarze. Hin und wieder drängte sich die Raketenspitze zwischen die elterlichen Frisuren. Häuser und Soldaten gab es rechts und links von ihr zu sehen, und sie versuchte sich vorzustellen, auf einem Schimmel im prächtigen Sattel durch die Straßen zu reiten, aber es funktionierte nicht. Ihr Traum vom weißen Pferd passte nicht zu den gepanzerten Männern, die sie draußen sah, und zu den wütenden Demonstranten.

„Mamusia, hast du mein Buch eingepackt?“

„Welches Buch? Marek, da vorne ist ein Schild!“

Endlich tauchten Hinweisschilder auf, und sie fanden das städtische Krankenhaus.

In einem großen Eingangsbereich saß eine ausladende blonde Frau mittleren Alters in einem Glaskasten. Ihr breites Gesicht war faltig, trotz oder wegen der starken Schminke war schwer zu beurteilen. Sie ließ Vater und Mutter mit Kind an der Hand vor der geschlossenen Scheibe warten und kritzelte etwas mit einem Kugelschreiber auf die Schreibunterlage. Marek wollte an das Glas klopfen, aber Ewa hielt seine Hand zurück. Das Schiebefenster öffnete sich langsam.

„Zu wem wollen Sie?“

Ewa fragte nach Doktor Dobroczyński, einem Pädiater, der Magdalena schon einmal untersucht hatte, als sie, zuletzt vor knapp einem Jahr, wieder einmal auf der Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit auf Odyssee quer durch Polen gewesen waren.

„Haben Sie einen Termin?“

„Es ist ein Notfall.“

„Ein Notfall? Wer? Das Kind?“ Die Frau betrachtete mit herabgezogenen Mundwinkeln Magdalena, die an der Hand der Mutter hing. „Warum kann sie dann gehen?“

Marek nahm Magdalena auf den Arm.

„Wir müssen sofort mit einem Kardiologen sprechen!“

„Einem Kardiologen? Ich dachte, es geht um das Kind.“

„Proszę, dann eben mit einem Kinderkardiologen.“

„So etwas gibt es? Was wollen Sie denn jetzt genau?“ Sie war im Begriff, die Scheibe zuzuziehen, aber Marek hinderte sie daran, indem er seine Hand dazwischen legte, während ihm Magdalena im anderen Arm ein Stück tiefer rutschte. Die Frau in dem Kasten stöhnte gereizt auf.

„Die Besuchszeit beginnt erst um …“

„Zur Notaufnahme!“, mischte sich Ewa ein. „Proszę!“, fügte sie hinzu und nahm ihrem Mann das Kind aus dem Arm.

„Untergeschoss links.“ Sie schob das Fensterchen end-

gültig zu.

Die Zjawas suchten das Treppenhaus und stiegen die Stufen hinab. Im Kellergeschoss brannte in langen Gängen grünliches Licht, schwach wie Mondlicht hinter einer dicken Wolkenschicht. Schemen huschten geisterhaft durch die Flure. Kaum hatte man einen zu Gesicht bekommen, verschwand er wieder in einer dumpfen Geräuschkulisse von hin und her geschobenen Wägelchen und Infusionsständern. Minuten verstrichen, ehe sie endlich mit einem der Wesen in Kontakt kamen. Schnell zog Ewa Papiere aus ihrer Handtasche und überreichte sie dem blonden, weiß gekleideten Geschöpf, das sich sogleich mitsamt den Papieren in Luft auflöste. Kurz darauf tauchte es wieder mit einem Lächeln, das wie mit feinem Stift auf das Gesicht gezeichnet schien, an einer anderen Stelle auf. In Magdalena wuchs die Überzeugung, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging.

„Gehen Sie durch die beiden Metalltüren in den rechten Korridor.“ Die Frau wirkte jung und unverwelkt. Umso tragischer ihr bedauernswerter Zustand in Spukgestalt; Magdalena dachte dabei an die Dicke am Eingang.

„Warten Sie dort vor den EKG-Räumen. Es ist angeschrieben.“ Damit sagte sie nur die halbe Wahrheit, denn die Worte EKG, Röntgen und Labor waren nur noch teilweise angeschrieben, nicht alle Buchstaben hatten einen dauerhaften Halt auf den nackten rohen Wänden gefunden. Es verliefen dicke Rohre unterhalb der niedrigen Decke, und aus den Wänden sprossen Holzbänke.

„Setzen Sie sich.“

Wie war es möglich, dass sie vor ihnen da war? Sie hatten die junge Frau doch soeben hinter sich zurückgelassen!

„Füllen Sie bitte das hier aus.“ Die gespenstische blonde Krankenschwester hielt dem Ehepaar eine Schreibunterlage mit eingeklemmten Papieren hin, unschlüssig, ob sie diese dem Mann oder der Frau in die Hand drücken sollte. Ewa nahm die Formulare an sich und vertiefte sich darin. Plötzlich fuhr sie hoch.

„Marek, schau, was sie von uns alles wissen wollen!“ Ewa reichte die Papiere über die Tochter hinweg ihrem Mann. „Lies bei Beruf der Eltern!“

Marek las und sah ebenfalls erschrocken hoch.

„Das darf doch nicht wahr sein! Was geht die das an!“

Marek und Ewa starrten sich sekundenlang mit geweiteten Augen an. Mit gerümpfter Nase und einer Geste der Entrüstung gab Marek Ewa die Schreibunterlage zurück.

„Was soll ich jetzt eintragen?“

Marek zuckte mit den Achseln. Magdalena saß zwischen ratlosen Eltern. Der blonde Geist nahm ihnen das Formular ab, bevor die Antwort auf die Frage gefunden war, dann erschien er ihnen lange nicht mehr. Die drei auf der Holzbank sprachen nicht miteinander, bis Marek geräuschvoll seine Atemluft ausstieß. Daraufhin schlug er sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel.

„Ich gehe eine rauchen!“ Er stand auf. „Ich finde euch hier wieder.“

Zeit war an diesem Ort ein vager Begriff; zwischen hektischem Geklapper und Türenschlagen, schnellen Zeitwirbeln und huschenden Schritten gab es Löcher. In so einem Loch blieben Mutter und Tochter zurück, und Magdalena ließ ihre Füße baumeln. Ihr Blick fiel auf die Tasche, die an Ewas Waden lehnte, und sie sah das Buch von Ritter Kazimierz hervor-spitzen. Sie zog es heraus.

„Mamusia, ist die Ruine bei uns am Wald früher mal eine Tempelritterburg gewesen?“

Die Mutter schien sie nicht zu hören. Es war, als ob sie in einem anderen Loch säße, und Magdalena wiederholte ihre Frage, diesmal etwas lauter:

„War das eine Tempelritterburg? Oder gehörte sie den Deutschordensrittern?“

Andrzej hätte es gewusst; Magdalena würde ihn zu Hause gleich danach fragen.

In dem Moment erschien ihnen wieder der Geist und deutete auf eine der Türen.

Ein junger Mann mit gewelltem, fein säuberlich frisiertem Haar schaute Mutter und Tochter mit schläfrigen Augen durch zwei große Scheiben in Metallfassung an, als sie in das Untersuchungszimmer eintraten. Hamsterbacken zogen seine Unterlippe ein wenig nach unten. An den weißen Kittel, der der Kleidung seiner mysteriösen Gehilfinnen sehr ähnlich war, war ein kleines blitzblankes Schildchen geheftet, das ihn als Doktor Wolkonowicz identifizierte. Vor diesem Mann sollte sich Magdalena bis zur Unterhose ausziehen. Ewa, die sich auf den Patientenstuhl gesetzt hatte, registrierte den suchenden Blick ihrer Tochter, nahm ihr Bluse, Hemdchen und Hose ab und stapelte die Kleidung auf ihrem Schoß.

„Magdalena braucht ihre Medizin.“

„Welches Medikament bekommt das Kind?“, fragte der Arzt, der sich auf den zweiten Stuhl im Raum setzte, der als Arztsessel deutlich bequemer ausgestattet war. Er starrte in die Papiere vor sich auf dem Tisch.

„Lanitop.“

„Das gibt es hier nicht!“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Magdalena stand mit ihren nackten Füßen in der Mitte des Raums auf kaltem Linoleum.

„Lanitop? Doch, natürlich! Das bekommt sie schon seit Jahren“, sagte Ewa.

„Von uns?“

„Ja, auch. Magdalenas behandelnder Arzt ist …“

„Das ist ein Medikament aus dem Westen, habe ich recht?“ Er legte Strenge in den kurzen Blick, den er Ewa schenkte.

„Ja. Kann sein.“

„Dieses Medikament ist nicht mehr erlaubt.“

„Nicht mehr erlaubt?“ Ewas Augenbrauen wanderten einen halben Zentimeter höher.

„Ja. Tut mir leid.“ Er war wieder in die Papiere auf dem Schreibtisch versunken. „Das hier verstehe ich nicht. Hier steht, dass sie ein univentrikuläres Herz hat.“

„Ja.“ Ewas Stimme klang nun mutlos, als ahnte sie, was kommen würde.

„Ein halbes Herz.“ Der Arzt hielt nachdenklich inne. „Das würde bedeuten, dass das Mädchen nur einen Ventrikel hat, richtig?“

„Ja, nur eine Herzkammer funktioniert“, flüsterte Ewa.

„Ein Einkammerherz, so etwas gibt es doch nur in der Theorie! Was soll mit dem anderen Ventrikel passiert sein?“ Er sah sie an, als wollte er sie mit dieser Frage überführen und erhob sich von seinem Lehnstuhl. „Hat er sich etwa in Luft aufgelöst?“ Er winkte ab. „Ich verstehe. Sie sind kein Arzt, das können Sie nicht wissen. Ein Mensch mit nur einer Herzkammer ist nicht überlebensfähig. Da nützt auch kein Medikament.“ Er wandte sich zu Magdalena um, steckte sich die Stöpsel des Stethoskops in die Ohren, die vorher um seinen Hals gelegen hatten, und wollte das kalte Ende auf Magdalenas Brust drücken, als er es plötzlich abgetrennt vom Schlauch lose in der Hand hielt. Er schüttelte verärgert den Kopf.

„Das gibt es doch nicht!“ Er fügte das Stethoskop wieder zusammen und fuhr mit der Untersuchung fort. „Tief einatmen! Luft anhalten! Anhalten, habe ich gesagt!“ Er machte eine Pause. „Weiteratmen. Weiteratmen! Dreh dich um!“ Er drückte ihr das Metall auf die durchscheinenden Rippen. „Leg dich da hin!“ Er meinte die Liege, die neben einem großen Gerät stand, das bunte Kabel ausspie.

„Wir sind … In Krakau bekommen wir keine Lanitop mehr“, setzte Ewa von Neuem an. „Wir waren schon ein paar Mal mit ihr hier. Ihnen müsste Magdalena bekannt sein. Das muss doch in der Krankenakte stehen …“ Sie verstummte wieder.

„Ich lasse ein EKG schreiben.“ Der Mann mit den Hamsterbacken trat zur Tür und ließ eine Krankenschwester kommen, eine brünette von jungen Jahren. Dann öffnete er die Tür zu einem Medikamentenschrank. Gähnende Leere traf ihn höhnisch ins Gesicht, das in dem Moment aussah, als hätte ihn eine klatschende Watsche auf die Wange getroffen. Am Boden des Schranks lag eine halb ausgedrückte Salbentube, die sich über die Ohrfeige zu amüsieren schien. Sie hatte sich vor Lachen gekringelt. Der Arzt kratzte sich am Kopf.

„Da nützt auch kein Medikament“, wiederholte er leise. „Gute Frau Zjawa, Sie sind kein Arzt“, äußerte er sich nun doch mit fester Stimme zu Ewas Worten und drehte sich zu ihr um. „Ich stelle hier die Diagnose und ich verordne auch die Medizin, falls das notwendig sein sollte.“ Er räusperte sich. „Und ich denke nicht, dass das Kind ein Medikament braucht. Denn davon wächst ihr auch kein zweiter Ventrikel“, fügte er hinzu.

Magdalena wurde von der brünetten Schwester mit dem EKG-Gerät verkabelt. Der graue Kasten hatte Ähnlichkeit mit der kleinen Maschine auf ihrem Schreibtisch im Kinderzimmer, dem ausrangierten Messgerät aus Tatas Werkstatt, nur war dieser hier um einiges größer. Es könnte sich um die Vater-Version handeln.

„Jetzt ganz still halten. Ich sage dir, wann du die Luft anhalten musst.“ Der Stimme nach zu urteilen hatte das Schicksal hier noch vor der Blüte der Jahre zugeschlagen und eine Knospe in das Reich der Scheintoten befördert. Eine braune Locke fiel in ein hübsches Gesicht. „Jetzt! Jetzt musst du die Luft anhalten. Wenn es aber nicht mehr geht, dann holst du wieder Luft, ja?“ Sie war zu Lebzeiten bestimmt freundlich gewesen. Sie hatte sich ihre Freundlichkeit in den Katakomben irgendwie bewahren können. Vielleicht war sie noch nicht lange hier. Das Gerät spuckte ein langes Papier aus mit vielen Zeilen aus Zacken und Kurven, eine Geheimschrift, die Magdalena gerne entschlüsselt hätte.

Nach der Untersuchung verschwand der Arzt mit dem EKG-Ausdruck und den anderen Papieren durch eine Seitentür. Plötzlich war es klar. Die Seitentüren waren das Geheimnis des unverhofften Auftretens und Verschwindens von Personen!

 

„Hiermit kannst du dich abwischen.“ Die Schwester drückte Magdalena ein grünes Tuch in die Hand, das rau war wie Schmirgelpapier und ihre dünne Haut zerkratzte, bis sie rot glühte. „Du kannst dich wieder anziehen.“ Dann wandte sie sich Ewa zu, und ihre Augen funkelten verschwörerisch. „Nehmen Sie bitte draußen noch einmal Platz.“ Leise fügte sie hinzu: „Ich gebe oben Bescheid.“

Ewa nickte ihr zerstreut zu, ohne nachzufragen, wem sie über was Bescheid geben wollte.

Marek saß wieder auf der Holzbank. Sichtlich ungeduldig erhob er sich sofort, als er seine Frau und seine Tochter aus dem Untersuchungszimmer kommen sah.

„Können wir gehen? Hast du das Medikament bekommen?“

„Wir müssen warten.“ Ewa konnte ihm nicht in die Augen sehen.

„Auf was denn?“

„Ich habe das Medikament noch nicht.“

„Was soll das heißen? Haben sie es etwa auch nicht da?“

Sie setzten sich wieder.

„Ich weiß es nicht.“ Ewa klang sehr müde.

„Mamusia, liest du mir jetzt vor?“

„Nein Schatz, wir werden doch gleich wieder aufgerufen.“

Es sah aber nicht danach aus. Marek hatte die Ellbogen auf seine Knie gestützt, so dass er mit seinen Händen das Gesicht bedecken konnte, Magdalena baumelte mit den Füßen und starrte auf die Tasche, die wieder an Mamusias Waden lehnte. Nach einer Weile zog sie das Buch heraus und stieß damit ihren Vater am Oberarm an.

„Liest du mir vor?“

Er hob den Kopf und sah seine Tochter lange Sekunden so ausdruckslos an, als ob er sie gar nicht wahrnähme. Schließlich ergriff er das Buch.

„Na gut.“ Marek schlug es auf.

Es war ein bitterkalter Winter, der sich zwischen die Jahre 1240 und 1241 geschoben und die Zeit eingefroren hatte …

Magdalena wagte nicht zu sagen, dass sie diese Stelle bereits kannte. Es war der Anfang der Geschichte.

„Kommen Sie bitte mit!“ Die blonde Krankenschwester stand plötzlich wieder vor den dreien, als wäre sie aus der Wand gestiegen, denn die grauen Türen hoben sich kaum von dem rohen Beton ab. Sie folgten ihr durch den Gang bis zu seinem Ende. Eine weitere Metalltür führte sie in einen ganz ähnlichen Gang mit Rohren, die unter der Decke verliefen. Bezogene, aber noch unbenutzte Betten waren entlang der unverputzten Wand hintereinander gereiht. In Warteposition, jederzeit bereit für den Großeinsatz. Bereit für den Notfall. Für den drohenden Kriegszustand, von dem die Leute mit gesenkter Stimme beim Metzger und Bäcker sprachen, wenn Magdalena mit Mamusia oder Babcia Anna vor leeren Regalen in der Reihe stand. Würde es Verletzte geben? So wie in der Schlacht von 1241?

„Wohin gehen wir?“, fragte Ewa.

„Zum EEG!“ Die weiße Frau rief es wie eine Parole aus und drehte sich im Gehen nicht einmal um.

„EEG? Warum das denn?“, fragte Marek.

„Was bedeutet EEG?“, fragte Magdalena ängstlich.

„Das ist nicht schlimm, es tut überhaupt nicht weh“, antwortete der blonde Geist. Sie hatte einen schnellen Gang, und die Zjawas hatten Mühe nachzukommen. Besonders für Magdalena war es schwer, mit den Erwachsenen Schritt zu halten; sie verfiel mit ihren kurzen Beinen in einen stolpernden Laufschritt.

„Wozu ist ein EEG notwendig?“, wiederholte Marek seine Frage.

„Bitte nehmen Sie hier Platz.“ Die Schwester verschwand ohne Antwort hinter einer der beinahe unsichtbaren Türen.

Sie setzten sich auf die aus der Wand herausragende Bank. Marek stand sogleich wieder auf.

„Ewa, ich hole euch in einer Stunde ab.“

„Wo willst du hin?“ Ewa fuhr hoch.

„Ich suche das Woidwodschaftsamt, dann komme ich zurück und hole euch.“ Marek legte die Hände auf die schmalen Schultern seiner Frau. „Mach dir keine Sorgen! Ich werde ohne dich nichts unternehmen. Ich suche nur das Amt, um Zeit zu sparen. Du weißt, dort müssen wir wieder warten.“ Er bückte sich und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange. „Bis später. Hab keine Angst, die Schwester hat recht, ein EEG tut nicht weh.“

Magdalena nutzte die Gelegenheit und rieb schnell ihr Gesicht an seinen Bartstoppeln. Sie mochte das Kratzen.

„Was wird da untersucht?“, fragte sie keineswegs beruhigt.

Marek warf einen unsicheren Blick zu seiner Frau.

„Dein Kopf.“

Magdalena erschrak.

„Mein Kopf? Aber warum?“

„Ach Liebes, sie untersuchen eben alles. Es gibt keinen anderen Grund, Kochanie.“ Ewa küsste Magdalena aufs Haar und drückte zum Abschied Mareks Hand. Er ging den Gang zurück. Die Metalltür knallte hinter ihm zu, mit einer Endgültigkeit, die Magdalena und Ewa zusammenfahren ließ.

„Ist etwas in meinem Kopf? Sind meine Gedanken falsch?“

Ewa lachte nervös und sagte:

„Nein, Kochanie-Liebes. Sie können nicht herausfinden, was du denkst.“

Die Augen von Mutter und Tochter trafen sich für einen kurzen Moment, aber Ewa sah schnell woanders hin. Unsicherheit strich um sie herum wie ein scheues Wesen, das nicht auf sich aufmerksam machen wollte. Es drängte sich Magdalena der Gedanke auf, dass man sie für nicht ganz richtig im Kopf halten könnte, und sie fragte sich, ob man damit vielleicht sogar recht hatte. Um ihre Fähigkeiten zu überprüfen, zog sie das Buch aus der Tasche und suchte die Stelle, wo Kazimierz in die Schlacht gegen die Mongolen geraten war. Sie las mit halblauter Stimme, Silbe für Silbe.

Der goldene Regen aus niederprasselnden Pfeilen setzte wieder ein, Kazimierz raubte es die Sinne. Er spürte noch einen festen Griff unter seinem Rippenbogen, dann wurde es dunkel um ihn …

Magdalena hielt irritiert inne, langsam hob sie den Kopf. Ein Junge stand vor ihr und schaute sie mit großen, dunklen Augen an. Er hatte einen weißen Schlafanzug an, auf dem hellblaue, beinahe bis zur Unsichtbarkeit verblichene Autos fuhren. In seiner rechten Hand hielt er eine leuchtgrüne Plastikpistole. Mit ernstem Blick hielt er seine Waffe auf Magdalena gerichtet. Wollte er sie etwa erschießen? Magdalena hielt mit nicht minder ernsten Augen seinem Blick stand. Das Rufen und Schimpfen einer Krankenschwester war eingehüllt in aufgewirbelten Staub und den Dampf, den die schwitzenden Pferdeleiber ausströmten. Blut mischte dem Geruch Eisen bei. Die Stimme hob sich kaum von den Schmerzensschreien der Krieger und dem Stöhnen der Sterbenden ab. Doch der Junge schien zu verstehen, dass die Bedrohung von der Krankenschwester und nicht von dem Mädchen auf der Holzbank ausging, denn er drehte sich plötzlich um und löste einen Schuss aus seiner Waffe. Als ein Wasserstrahl die schimpfende Frau traf, packte sie wutentbrannt den Jungen und nahm ihn mit sich fort.

„Wo liest du gerade?“ Ewa nahm Magdalena sanft das Buch ab.

Der Junge mit der grünen Pistole hinterließ in Magdalena ein Abbild. Das Weiß des Schlafanzugs und sein helles Gesicht blieben dunkel hinter ihren Augen stehen, das schwarze Haar leuchtete hingegen phosphoreszierend auf. Zu seinem Negativ verwandelt konnte sich dieser Eindruck nur für einen kurzen Moment vor die Worte ihrer Mutter schieben, denn endlich erfuhr Magdalena, dass der Fremde, der Kazimierz dem Inferno der Mongolenschlacht an der Kaczawa entrissen hatte, tatsächlich ein Templer war und ihn auf eine lange Reise mitnahm.

Von Wielkopolska aus durchquerten sie Schlesien. Sie kamen durch das Königreich Böhmen, und über Bayern gelangten sie nach vielen Wochen schließlich nach Italien. Weitere Wochen vergingen, bis sie den langen Stiefel bis nach Apulien hinabgeritten waren und Brindisi, eine Hafenstadt im Königreich Sizilien erreicht hatten. Dort trafen sie ihre Ordensbrüder und blieben.

„Kommst du bitte!“ Der blonde Geist war wieder aufgetaucht und wollte Magdalena mitnehmen. Magdalena hatte die Zeit vergessen und blickte überrascht auf. Der weite Weg von Nord- nach Südeuropa lag hinter ihr. Wie viel Zeit war vergangen? Tata war noch nicht zurückgekehrt. Magdalena sah besorgt zu Mamusia.