Pepe S. Fuchs - Schatzjäger

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Pepe S. Fuchs - Schatzjäger
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

E-Book-Ausgabe:

ISBN 978-3-89969-244-0

Print-Ausgabe:

ISBN 978-3-89969-243-3

Copyright © 2021 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.

Umschlagbilder:

© Norbert Krause / © Adobe Stock - Wolfgang Bitzker


www.principal.de

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Steffen Schulze

Pepe S. Fuchs


Schatzjäger

PRINCIPAL VERLAG

Der Autor Steffen Schulze wurde 1975 in Finsterwalde/Niederlausitz geboren und arbeitet in einem weltweit agierenden Unternehmen.

Ehrenamtlich engagiert er sich für die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Er ist mit der besten Ehefrau von allen verheiratet und lebt in der Wartburgstadt Eisenach. Neben dem Rettungsschwimmen ist das Schreiben seine große Leidenschaft.

Vielen Dank an die beste Ehefrau von allen!

Ebenso geht mein Dank an Norbert für die Bereitstellung des Umschlagbildes und an das Team des Principal Verlags.

1

Als Pepe S. Fuchs den Campingplatz erreichte, war er buchstäblich stehend k. o. Die letzten Tage waren physisch und psychisch eine Strapaze für den Oberfeldwebel. Dabei war der Militärpolizist nicht in dienstlicher Mission unterwegs gewesen. Im Gegenteil. Genau genommen hatte er sich unerlaubt von der Truppe entfernt und galt wohl als eigenmächtig abwesend. Damit war nicht zu spaßen. In Paragraf 15, Absatz 1 des Wehrstrafgesetzes hieß es: »Wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt und vorsätzlich oder fahrlässig länger als drei volle Kalendertage abwesend ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.« Seine Feldjäger-Kameraden waren mit Sicherheit schon auf der Suche nach ihm. Das würde mindestens einen hässlichen Eintrag in seiner Personalakte geben und sämtliche Karriereambitionen, so er denn welche gehabt hätte, für immer zerstören. Doch darauf konnte er im Moment keine Rücksicht nehmen. Er hatte ein Versprechen abgegeben und Pepe S. Fuchs war niemand, der so etwas leichthin tat. Wenn er seine Unterstützung zusagte, dann war er durch nichts davon abzuhalten. Davon konnten im Laufe der Zeit gleich mehrere Gegenspieler ein schmerzhaftes Zeugnis ablegen. Von mitteldeutschen Motorradrockern, über kubanische Gangster und chinesische Geheimagenten, bis zu selbst ernannten Hexen. Nur wusste er dieses Mal nicht genau, worauf er sich eingelassen hatte. Aber das würde er noch früh genug erfahren.

Die Schranke am Eingang des Campingplatzes war geschlossen. Zuerst hatte Pepe geglaubt, sich geirrt zu haben. Die schmale Straße, die von der Bundesstraße abzweigte, schien ihm als Zufahrt für große Wohnmobile eher ungeeignet. Wurzeln drückten von unten durch die dünne Asphaltschicht und verwandelten den Fahrweg in ein Waschbrett. Die Federung seines Motorrades schlug mehrfach durch und die harten Schläge waren eine Tortur für Pepes malträtierte Muskeln. Schließlich war er beinahe zwei Tage durchgefahren, auf einem mit dreißig PS nicht gerade übermotorisierten Zweirad. Aber die Royal Enfield hatte ihn nicht im Stich gelassen. So, wie sie jetzt rot glänzend in der Nachmittagssonne vor der geschlossenen Schranke stand und beim Abkühlen leise klickte, konnte das kleine Motorrad durchaus als top restaurierter Oldtimer durchgehen. Dabei war die Maschine ladenneu.

Pepe riss sich von ihrem Anblick los, gähnte herzhaft und drehte seinen Kopf nach links und rechts bis seine Nackenwirbel vernehmbar knackten. Mit einem erschöpften Seufzer lief er zur Rezeption hinüber, über der in großen Lettern ›Naturcamping Malchow‹ stand. Als er sein Spiegelbild in der Glastür sah, schrak Pepe zurück. Ihn blickten rot unterlaufene, von schwarzen Ringen eingekreiste Augen an. Ein ungepflegter Dreitagebart breitete sich über sein blasses Gesicht aus. Die Motorradjacke war von Insektenresten übersät. Was er jetzt dringend brauchte, war eine Dusche und ein Bett. Ächzend stieß Pepe die Tür auf.

»Moin!«, begrüßte ihn eine freundliche Stimme.

»Ja, hallo. Ich hätte gern einen Schlafplatz.«

»Hast du ein Zelt dabei?«, fragte der junge Mann hinterm Tresen und versuchte an Pepe vorbei nach draußen zu sehen, was denn wohl auf dem Motorrad verschnürt war.

»Nein.«

»Oh, mein Bester, dann sieht es ganz schlecht aus. Die Pods sind alle belegt.«

»Die was?«

Pepe musterte sein Gegenüber genauer. Obwohl er Soldat und damit an strenge Regeln und Etikettenvorschriften gewöhnt war, legte er auf diese nicht allzu viel Wert. Dass er aber von vorneherein von einem jungen Burschen geduzt wurde, der vom Alter her gut sein Sohn sein konnte, störte ihn merkwürdigerweise doch.

»Die Camping Pods, so eine Art Finnhütte, sind alle ausgebucht. Und auch unsere Wohnwagen sind voll. Hier ist ein Geschichtsverein oder so etwas Ähnliches eingerückt«, antwortete der Junge. »Vielleicht probierst du es in der Stadt.«

»Nein«, blockte Pepe ab. Er verschränkte die Arme und starrte den jungen Mann mit zusammengekniffenen Augen an.

»Aber echt jetzt, sorry, ist wirklich nichts frei.«

Um seine Aussage zu unterstreichen, blätterte der Bursche schnell durch das große Kalenderbuch, das vor ihm auf dem Tresen lag. Dabei vermied er es, Pepe anzusehen.

»Die bleiben noch eine ganze Woche«, beteuerte er als Nächstes, schaute doch kurz zu Pepe hoch und gleich wieder in das Buch.

Ein Schweißtropfen bildete sich über seiner linken Braue. Pepe sah interessiert zu, wie der Tropfen größer wurde, leicht anfing zu zittern, langsam über das Jochbein abrollte und in dem Terminkalender aufschlug. Mit fahrigen Fingern wischte der Junge ihn weg und verschmierte dabei den getroffenen Eintrag.

Pepe hatte schon unzählige Verhöre als Militärpolizist geführt. Meistens mit Soldaten, die nicht viel älter waren als der Bursche vor ihm. Eines hatte er schnell gelernt: Am meisten erfuhr er, wenn er nichts sagte, nichts fragte, sondern den Delinquenten nur scharf anschaute. Es dauerte nie lange, bis er damit sein Ziel erreichte.

»Wir hätten da nur einen Wohnwagen, den wir eigentlich nicht mehr vermieten«, räumte der Junge schließlich leise ein und wischte sich mit dem Oberarm über sein Gesicht. Mittlerweile sah er so aus, als hätte er einen Marathon hinter sich. »Der ist ziemlich heruntergekommen. Sauber gemacht hat den seit Ewigkeiten keiner mehr. Ich weiß gar nicht, ob das Dach überhaupt dicht ist.«

»Ich nehme ihn«, unterbrach Pepe den plötzlichen Redefluss des Jungen.

»Der Zugang ist bestimmt mittlerweile total überwuchert.«

»Das passt schon.«

»Ich weiß leider nicht, ob das Schloss noch funktioniert.«

»Bei mir ist nichts zu holen.«

»Angeblich hat sich ein Waschbär drin eingenistet.«

»Wir werden uns bestimmt vertragen.«

»Wie lange möchten Sie denn bleiben?«

»Vorerst eine Woche«, antwortete Pepe und registrierte nur im Unterbewusstsein, dass der Junge nun doch zum Sie übergegangen war.

»Okay. Bitte tragen Sie sich hier ein.«

Pepe schrieb einen Fantasienamen in das Formular und eine Adresse, die ihm passend erschien. Er wollte es seinen Kameraden nicht zu einfach machen, ihn zu finden. Denn noch war er sich nicht sicher, ob er hinterher nicht gänzlich von der Bildfläche verschwinden würde. Das kam auch darauf an, was der Grund für das konspirative Treffen war, um das ihn sein Erzfeind mitten in der mecklenburgischen Provinz gebeten hatte.

Der Junge bedankte sich und nahm die ausgefüllte Anmeldung entgegen, legte Pepe einen Lageplan hin und machte ein fettes Kugelschreiberkreuz mitten im Wald. »Fahren Sie bis zum Ende der Straße geradeaus, dann bitte nach rechts abbiegen. Weiter bis zum Ende des Platzes. Dort führt ein kleiner, etwas zugewachsener Pfad in den Wald. Und da finden Sie den Wohnwagen.«

Er bückte sich hinter den Tresen und kramte in einer für Pepe unsichtbaren Kiste herum, aus der er schließlich einen angerosteten Schlüssel hervorholte.

»Der sollte passen«, vermutete der Bursche mit rotem Kopf. »Und wenn nicht, kommen Sie einfach wieder her. Und das hier ist die Chipkarte für die Schranke.«

»Danke«, sagte Pepe, steckte den Lageplan und die Chipkarte ein und nahm den Schlüssel.

Pepe trat ins Freie und atmete tief durch. Es roch nach Wald. Ein harziger, erdiger Geruch, der ihn stark an seine Grundausbildung erinnerte. Der Campingplatz wurde von dicht stehenden Kiefern umsäumt, durch die kräftige Sonnenstrahlen hindurchschienen. Obwohl die Autobahn in Richtung Rostock nicht weit entfernt sein konnte, war kein Verkehrslärm zu hören. Vögel zwitscherten, Insekten summten, hinter der Anmeldung juchzte ein Kind. Warum um alles in der Welt, hatte Oberbootsmann Candy Schulze ihn nur hierher bestellt? Auf jeden Fall hatte er es dringend gemacht und fast flehend um Hilfe gebeten. Schon allein die Tatsache, dass sich Schulze an ihn gewandt hatte, war ein Indiz dafür, wie aussichtslos die Lage sein musste. Bei ihrem letzten Treffen hatte der Oberbootsmann einen Maulwurf in ihren Reihen befürchtet. Jemanden, der brisante Dienstgeheimnisse verriet. Und so viel Pepe mitbekommen hatte, stand Schulze sogar selbst unter Verdacht.

 

Mit dem Oberbootsmann, der für den Militärischen Abschirmdienst, dem Geheimdienst der Bundeswehr, tätig war, verband Pepe eine lange Feindschaft. Zum ersten Mal waren sie vor vielen Jahren in Afghanistan aufeinandergetroffen. Schulze war damals ein junger, über alle Maßen ehrgeiziger Offizier gewesen, dem seine Karriere über alles ging. So hatte er versucht, die anderen am Hindukusch tätigen Geheimdienste über ein eigenes Spitzelnetz auszustechen. In seinen Mitteln und Wegen war er dabei nicht besonders zimperlich gewesen. Jeder, der ihn auf der Karriereleiter eine Sprosse weiter nach oben hieven konnte, wurde willkommen geheißen. So auch ein Übersetzer, der von den übrigen Alliierten als nicht zuverlässig eingestuft worden war. Irgendwie schaffte es der windige Afghane, Schulzes Vertrauen zu gewinnen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt waren die beiden praktisch unzertrennlich, wie siamesische Zwillinge. Der Informant folgte Schulze wie ein Hund seinem Herrchen und der Oberbootsmann war sehr freigiebig mit Leckerlis.

Generell schien Schulze damals immer in Bewegung zu sein, mit großen Gesten agierend und laut redend. Das an sich war natürlich kein Verbrechen. Was Pepe jedoch Schulze nie verzeihen würde, war die kriminelle Leichtfertigkeit, mit der der Geheimdienstler ihn und seine Kameraden in einen Hinterhalt hatte laufen lassen.

Pepes Dienstzeit am Hindukusch hatte sich bereits dem Ende genähert. So kam ihm der Einsatzbefehl, eine Delegation, die mit einem Ältesten über eine Zusammenarbeit gegen die Taliban verhandeln sollte, in ein abgelegenes Dorf zu begleiten, äußerst ungelegen. Doch Befehl war Befehl. Das Treffen hatte Schulzes Übersetzer organisiert. Diese Tatsache verstärkte Pepes mulmiges Gefühl nur noch. Und er sollte tragischerweise recht behalten.

Je weiter der Konvoi in die Berge vorgedrungen war, desto schmaler wurde der Pfad, auf der sich die Fahrzeuge bewegten. Das Gelände stieg links und rechts steil an, verwandelte die Piste in einen Hohlweg. Dichter, brauner Staub hatte sich wie Nebel über die Kolonne gelegt und ihnen fast vollständig die Sicht genommen. Pepe hielt sein Sturmgewehr die ganze Zeit umklammert und er hatte versucht, ruhig zu atmen. Sie waren nur langsam vorangekommen. Viel zu langsam. Der große Dieselmotor ihres gepanzerten Transporters hatte ohrenbetäubend geröhrt. Dazu war es im Innenraum heiß und stickig. Schweiß war in Pepes Augen gelaufen, den er sich immer wieder mit dem Ärmel seiner Uniformjacke aus dem Gesicht gewischt hatte. Plötzlich hatte es eine markerschütternde Explosion gegeben. Das führende Fahrzeug war in die Luft geschleudert worden, als wäre es ein Spielzeug. Eine Sprengfalle. Ein Hinterhalt. Pepe hatte die folgenden Sekunden wie in Zeitlupe wahrgenommen, mit einem lähmenden Fiepen im Ohr. Der vordere Transporter war zurück auf den schmalen Pfad gekracht und umgekippt. Hatte Feuer gefangen und den Weg nach vorn blockiert. Gewehrfeuer hatte eingesetzt. Kugeln waren dröhnend und in unablässiger Folge von der Panzerung ihrer Fahrzeuge abgeprallt. Schreie! Los, los, los! Pepe war aus dem Transporter gestürmt, hatte Deckung gesucht und das Feuer erwidert. Die Munition war ihm schnell ausgegangen. Rings um ihn waren Geschosse eingeschlagen wie in einem Hagelsturm. Dann wurde er am Bein getroffen.

Schließlich war der Moment gekommen, als er unter höllischen Schmerzen sein letztes Magazin in den Aufnahmeschacht des Sturmgewehres gerammt und damit die schreckliche Gewissheit hatte, dass er nach den dreißig verbliebenen Patronen wehrlos war. Im buchstäblich allerletzten Augenblick hatte ein amerikanischer Apache-Kampfhubschrauber die Angreifer vertrieben.

Bis heute litt Pepe unter den Nachwehen dieses Einsatzes. Die permanenten Schmerzen erinnerten ihn allerdings auch daran, was für ein Glück er gehabt hatte. Er durfte sein Bein behalten, während zwei seiner Kameraden gefallen waren.

Nach Afghanistan hatten sich ihre Wege noch mehrmals gekreuzt. Und jedes Mal hatte Schulze eine äußerst undurchsichtige Rolle gespielt. Nie zuvor hatte der Oberbootsmann ihn um Hilfe gebeten. Pepe schüttelte kurz den Kopf, als ob er seine Gedanken ordnen wollte. Er tastete nach dem Hammer, der in seinem Gürtel steckte. Ein Urlaubsmitbringsel aus Frankreich. Wenn Schulze ihn linken wollte, dann würde der sein blaues Wunder erleben. Warum sonst sollte der Oberbootsmann auf absolute Geheimhaltung bestehen?

»Oh, ein Neuer. Wer bist du denn, schöner Mann?«

Schöner Mann? Pepe war schon einiges genannt worden, schöner Mann war bisher nicht darunter gewesen.

»Paco«, stotterte Pepe und war froh, dass er sich an den Namen erinnerte, den er auf das Anmeldeformular geschrieben hatte. Dass er so offen angesprochen, direkt angemacht wurde, kam für Pepe überraschend. Anscheinend wurde auf diesem Zeltplatz ein eher lockerer Umgangston gepflegt. Wieder etwas, was ihn misstrauisch machte, da es so gar nicht zu dem im Verborgenen agierenden Oberbootsmann passen wollte.

»Paco, wow. Das ist spanisch, richtig? Wie mein Vorname. Ich heiße Isabella. Aber du kannst mich ruhig Isa nennen.«

»Hallo, Isa«, sagte Pepe und musterte die junge Frau eingehender. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten und ihre blauen Augen funkelten im Sonnenlicht wie Aquamarine.

»Ich müsste mich etwas frisch machen. Wo sind denn hier die Sanitäranlagen?«, riss sich Pepe von ihrem Anblick los.

»Gleich dahinten, mein Süßer«, gab Isa bereitwillig Auskunft und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter, ohne sich umzusehen. »Soll ich dir den Rücken waschen?«

»Danke, wird schon gehen«, entgegnete Pepe.

»Die Duschen sind echt gut. Schönes, heißes Wasser mit kräftigen Strahlen«, fuhr Isa fort. »Aber sieh dich vor. Nach drei Minuten werden die Eier hart und nach sieben platzt das Würstchen.«

»Ich werde aufpassen«, versicherte Pepe und ließ Isa mit einem Nicken stehen.

Während er auf das Sanitärgebäude zulief, konnte er ihren Blick in seinem Rücken, besser gesagt etwas tiefer, spüren.

»Sieh dich vor!«, beschwor er sich selbst, während er versuchte, die Frau aus seinem Kopf zu bekommen.

Wie alt mochte sie wohl sein? Noch keine dreißig. Ihre Haare waren blond gefärbt. Etwas zu blond, für Pepes Geschmack. Der Zopf stand ihr gut, legte ihre Grübchen frei. Denen hatte Pepe noch nie widerstehen können. Irgendwie übten die kleinen Einbuchtungen neben den Mundwinkeln eine fast magische Anziehungskraft auf ihn aus.

»Komm, Mark, es gibt Kuchen!«, hörte Pepe Isa hinter sich rufen.

»Ja, ja, ja«, kam prompt die euphorische Antwort vom Spielplatz und ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, rannte auf Isa zu.

Die sanitären Anlagen waren penibel sauber und in tadellosem Zustand. Pepe suchte sich zuerst ein Pissoir. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie müde er tatsächlich war. Wenn er jetzt die Augen schloss, würde er wohl im Stehen mit offenem Hosenschlitz einschlafen.

»Meine Mutter ist scharf auf dich.«

»Wie bitte?«

Pepe hatte den Dreikäsehoch gar nicht kommen hören. War er wirklich kurz eingenickt?

»Meine Mutter. Ich merke das sofort. Bin ja nicht blöd.«

Der Kleine hatte sich die Hose in die Knie gezogen, stellte sich auf Zehenspitzen und versuchte, das Pinkelbecken zu treffen. Seine Zunge half ihm anscheinend beim Zielen. Immer wieder schoss sie aus seinem Mundwinkel.

»Du bist Mark«, stellte Pepe fest und betätigte die Spülung.

»Du darfst ihr nicht wehtun«, plapperte Mark los und zog seine Hose hoch.

»Das habe ich nicht vor.«

»Das sagen sie alle.«

»Wer alle?«

»Na alle eben. Und dann weint sie doch.«

Mit diesen Worten verschwand er, ohne sich die Hände zu waschen. Pepe spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er stützte sich einen Augenblick mit beiden Händen am Waschbecken ab, bevor er nach draußen ging. In der kurzen Zeit hatte sich die Luft noch weiter aufgeheizt. Der Sommer war bisher heiß und trocken gewesen und es sah nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde.

Pepe zog den Lageplan aus der Tasche. Der Zeltplatz lag direkt am See.

»Erst ein Nickerchen, danach ein Bad«, sagte er laut und schaute sich erschrocken um, ob jemand sein Selbstgespräch mitbekommen hatte.

Aber er war allein. Also trottete er zu seinem Motorrad zurück. Die Enfield sprang knatternd an und fast tat es Pepe leid, die wohltuende Ruhe zu stören. Kurz über Standgas rollte er über den Platz. Wohnmobile reihten sich akkurat ausgerichtet nebeneinander, ab und an auch ein Campinganhänger. Zelten schien heutzutage niemand mehr. Im hinteren Bereich, kurz vor den Dauercampern, parkte ein roter Reisebus. Erst bei näherem Hinsehen erkannte Pepe, dass der Bus ebenfalls eine rollende Behausung war, in dem Gäste in winzigen Kabinen, Schließfächern gleich, übernachteten.

Das Gelände stieg leicht an und gab einen majestätischen Blick über den in der Sonne glitzernden See frei. Langsam merkte Pepe, wie er ruhiger wurde.

Er erreichte den überwucherten Abzweig in den Wald, parkte das Motorrad davor, schnallte die Gepäckrolle ab und arbeitete sich den Pfad entlang vor. Dessen Zustand nach zu urteilen war tatsächlich seit Längerem niemand mehr hier gewesen. Je weiter er vorrückte, desto dunkler und kühler wurde es. Nach etwa fünfzig Metern traf er auf einen Wohnwagen. Der war von oben bis unten mit grünem Moos überzogen. Die Scheiben waren so verdreckt, dass sie sich kaum von den Seitenwänden des Campinganhängers abhoben. Auf jeden Fall hatte Pepe hier seine Ruhe. Nachbarn gab es weit und breit keine. Die Natur stand kurz davor, sich den menschengemachten Eindringling einzuverleiben. Sträucher wuchsen bereits an den Seiten des Campinganhängers empor. Ein Baum schien den Wohnwagen mit mächtigen Ästen liebevoll zu umarmen, oder tödlich zu zerquetschen. Vor der Tür türmte sich ein gewaltiger Ameisenhaufen.

Pepe stellte die Gepäckrolle ab und beugte sich über den wuseligen Haufen, um an das Vorhängeschloss zu gelangen, das einen nachträglich angebrachten Türriegel sicherte. Er brauchte drei Versuche, ehe das Schloss aufsprang. Fast tat es ihm leid, dass er den obersten Teil des Ameisenhaufens mit der Tür abtrug. Das Innere des Wohnwagens roch muffig, war jedoch in einem besseren Zustand, als ihn der Junge an der Rezeption hatte glauben machen wollen. Keine Spur von einem Waschbären. Allerdings führte eine Ameisenstraße quer über den Fußboden. Damit konnte sich Pepe arrangieren. Die Einrichtung war vollständig eingestaubt. Auch die in den Ecken hängenden, dichten Spinnweben störten Pepe nicht wirklich. Ihn lockte das Doppelstockbett. Die obere Matratze fehlte. Also zog Pepe mühsam seine Motorradjacke aus, warf sie auf die Sitzgruppe rechts neben dem Eingang und sich auf das untere Bett. Sekunden später war er fest eingeschlafen.