Pepe S. Fuchs - Schatzjäger

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7

Die Hauptgefreite Rossi stellte den Bundeswehr-Geländewagen auf einem kleinen, schattigen Parkplatz direkt vor der geschlossenen Schranke ab. Sie war nach dem Besuch ihrer Kameradin Johanna Bock im Bundeswehrkrankenhaus Berlin ohne Pause durchgefahren. Was in dem lauten und langsamen Fahrzeug keine wirkliche Freude gewesen war. Obwohl der Motor längst aus war, ließ das Dröhnen in ihren Ohren nur zögernd nach. Neben ihr auf dem Beifahrersitz lag das Buch, das dabei war, ihr Leben zu verändern. Nein, eigentlich hatte es das schon getan. Dabei war die Kladde nur der letzte Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatte. Sie hatte sich längst in Machenschaften verstrickt, über die sie früher allenfalls in Romanen gelesen hatte. Jetzt ging es nur noch darum, mit heiler Haut davonzukommen. Für Gewissensbisse war es zu spät.

Rossi schaute sich im Rückspiegel selbst in die Augen. Dass sie keine Schönheit war, wusste sie natürlich. Selbst der überaus korrekte Major Frankfurt, ihr Vorgesetzter in der Erfurter Henne-Kaserne hatte sie vor nicht allzu langer Zeit darauf hingewiesen, dass sie sich durchaus die Haare wachsen lassen durfte und nicht unbedingt ihren militärischen Kurzhaarschnitt beibehalten musste. Aber ihr gefiel es so. Duschen konnte sie in Rekordzeit, ohne langes Gefummel mit Shampoo und Conditioner. Bei ihrer körperlichen Fitness sah das etwas anders aus. Ein bis zwanzig Kilo weniger würden ihr ganz guttun.

Die Hauptgefreite atmete tief durch, setzte die olivgrüne Feldmütze auf, nahm das Buch an sich und stieg aus.

Vor dem Restaurant blieb Pepe unschlüssig stehen. Im Geiste ging er das Verhör, das die Kommissarin mit ihm geführt hatte, nochmals durch. Der große Kerl, Pawel, mit dem er auf dem Steg aneinandergeraten war, lebte nicht mehr. Er war durch einen Sturz aus großer Höhe zu Tode gekommen. Ob Isabella etwas damit zu tun hatte? Eher unwahrscheinlich. Die Gegend um Malchow war recht flach, ohne Berge oder Felsen. Auch hatte Pepe keine Türme und Masten in der Nähe gesehen, von denen man fallen und sich den Hals brechen konnte. Selbst wenn. Wie hätte Pawel zudem von dort an den Badestrand des Naturcampingplatzes kommen sollen? Huckepack auf Isas Rücken? Nie und nimmer. Und wenn Harry Zimmermann geholfen hatte? Vielleicht hatten sie den Leichnam im Campingbus transportiert. Aber warum sollten sie ihn vor ihrer eigenen Haustür abgeladen haben? So dämlich war doch keiner. Andererseits hatten sie sich ja in einer Klapsmühle kennengelernt. Wer konnte schon wissen, was in verdrehten Köpfen vorging?

Jetzt brauchte Pepe erst einmal etwas zu essen. »Ohne Mampf kein Kampf«, hatte einer seiner Ausbilder immer gesagt. Das Restaurant war aus bekannten Gründen leider geschlossen. Samulski würde sicher noch den Rest des Tages brauchen, um alle Zeugenaussagen aufzunehmen. Sollte er sich bei Isabella zu einem späten Frühstück einladen? Obwohl er den Stellplatz ihres Wohnwagens von hier nicht sehen konnte, schaute er den Weg entlang zum See hinunter und entdeckte den Grauhaarigen vom Hobby-Schlachtfeld. Er stand vor einer der Miethütten und winkte ihm zu. Automatisch hob Pepe ebenfalls seine Hand und grüßte zurück. Heute trug der Alte keine Uniform, sondern einen eleganten, zweireihigen Anzug. Sein Begleiter war ebenfalls in zivil gekleidet, mit Jackett und hellem, am Kragen offenem Hemd.

»Was macht denn der Kerl von gestern Nachmittag da, Herr Daras?«

»Keine Ahnung, Herr Professor.«

»Er hat mich gegrüßt.«

»Wahrscheinlich hat er gedacht, Sie winken ihm zu.«

»Dabei habe ich unsere Informantin hinter ihm gemeint.«

»Ein Irrtum, Herr Professor. Ein Irrtum.«

»Er soll aus dem Weg gehen. Wir können keine Zuschauer gebrauchen.«

»Dann sollten Sie vielleicht aufhören, ihn so intensiv anzusehen.«

Das Buch wie ein Pfarrer seine Bibel haltend schritt Rossi auf den Eingang des Campingplatzes zu. Sie war etwas zu früh dran. Hoffentlich war die Kontaktperson schon da. Je schneller sie wieder von hier verschwinden konnte, desto besser. Major Frankfurt, ihr Vorgesetzter bei den Erfurter Feldjägern, der Militärpolizei der Bundeswehr, hatte sie merkwürdig angesehen, als sie ihn gebeten hatte, die Obergefreite Bock in Berlin besuchen zu dürfen. Letztendlich hatte er ihr aber grünes Licht und den heutigen Tag frei gegeben. Wenn sie bis zum späten Nachmittag zurück in der Kaserne sein wollte, durfte sie hier nicht allzu viel Zeit vertrödeln.

Da! Ihr winkte jemand zu. Rossi hatte sich die Beschreibung ihres Kontaktmannes gut eingeprägt. Ein großer, schlaksiger Herr mit weißen Haaren, der Professor genannt wurde. Das musste er sein.

Da der Grauhaarige angeregt mit seinem Begleiter redete und letztendlich an Pepe vorbeischaute, nahm der seine Hand herunter, drehte sich um und konnte nicht glauben, wen er sah.

»Rossi!«, entfuhr es ihm.

»Herr Oberfeldwebel«, antwortete die Hauptgefreite ebenso verdattert.

»Was machen Sie denn hier?«, fragten beide im Chor.

»Urlaub«, reagierte Pepe rasch.

»Was ist mit Ihrer Nase passiert?«, wollte Rossi als Nächstes wissen.

»Die ist gebrochen.«

»Wie?«

»Durch eine Fraktur der beiden Nasenbeine, vermute ich.«

»Wir dachten, Sie sind tot«, entgegnete Rossi nach einer kurzen Pause und musterte Pepe von oben bis unten, als ob sie sichergehen wollte, dass sie keinen Geist vor sich hatte.

»Es war knapp«, erwiderte Pepe.

»Und warum haben Sie sich nicht gemeldet? Der Alte dreht fast durch, wegen des ganzen Papierkrams. Obwohl das meiste ja wie immer an mir hängen bleibt.«

Dass Major Frankfurt sauer war, konnte sich Pepe lebhaft vorstellen.

»Es hat sich bisher nicht ergeben«, druckste Pepe herum.

»Es hat sich nicht ergeben? Sie gelten als eigenmächtig abwesend, Herr Oberfeldwebel! Das ist keine Kleinigkeit, wie ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen brauche. Oder muss ich Sie an Paragraf 15 Absatz 1 des Wehrstrafgesetzes erinnern?«

»Das gibt es doch nicht. Was soll denn das? Sie spricht mit dem kleinen Mann. Herr Daras, unternehmen Sie etwas!«

»Was denn, Herr Professor?«

»Gehen Sie hin und zerren Sie die Frau da weg! Wir können das jetzt ganz und gar nicht gebrauchen! Nicht, dass sie ihm das Buch noch überlässt!«

»Meinen Sie wirklich, dass wir Aufmerksamkeit erregen sollten, wo es hier nur so vor Polizisten wimmelt?«

Der Professor hielt inne. Die Soldatin und der Mann unterhielten sich weiterhin angeregt.

»Was machen sie denn jetzt, Herr Daras?«

»Sie gehen.«

»Das sehe ich selbst. Aber wohin denn?«

»Ich weiß es nicht, Herr Professor.«

»Wofür bezahle ich Sie überhaupt? Oh nein, sie steigen in das Auto der Frau. Wir müssen ihnen folgen. Fahren Sie den Wagen vor, Herr Daras!«

Pepe entging nicht, dass Rossi ständig zu dem Grauhaarigen hinüberschielte. Außerdem hatte sie ihm bislang nicht verraten, was sie nach Malchow verschlagen hatte. Zufall konnte das nicht sein. Erst bestellte ihn Oberbootsmann Schulze vom militärischen Geheimdienst in die mecklenburgische Provinz, dann traf er auf Hobby-Soldaten in SS-Uniformen und zu guter Letzt schlug die Geschäftszimmerdame aus der Erfurter Kaserne hier auf.

»Hauptgefreite Rossi, wir essen zusammen zu Mittag. Jetzt! Aufsitzen und abrücken!«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«, antwortete Rossi zackig und ließ möglichst unauffällig ein in Leder gebundenes Buch in der Beintasche ihrer Uniformhose verschwinden.

»Sie haben keine Schuhe an.«

»Stimmt. Sagen Sie es nicht weiter«, entgegnete Pepe und lief zu dem Militärfahrzeug hinüber.

Rossi warf einen letzten Blick zurück zu ihrer Kontaktperson, bevor sie ihm folgte.

Obwohl der Wagen schattig parkte, war es im Inneren heiß und stickig. Natürlich hatte der Geländewagen keine Klimaanlage. Pepe kurbelte die Scheibe herunter.

»Da Ihnen der Alte ein Fahrzeug gegeben hat, sind Sie wohl in offizieller Mission hier«, mutmaßte er und musterte die Hauptgefreite von der Seite.

Die erwiderte seinen Blick nicht, sondern wendete konzentriert und fuhr den schmalen, holprigen Weg vor zur Bundesstraße.

»Wir fahren nach Malchow rein«, bestimmte Pepe, als Rossi nicht auf seine Vermutung reagierte. »Im Insulaner soll es gutes Essen geben.«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«

»Jetzt hören Sie doch mal mit diesem Quatsch auf und erzählen mir, was los ist!«, ereiferte sich Pepe.

Rossi hielt sich krampfhaft am Lenkrad fest und starrte stur geradeaus. War das ein Zeichen, ein Wink des Schicksals? Wollte ihr eine höhere Macht mitteilen, dass sie hier und jetzt die Möglichkeit hatte, das Richtige zu tun? Sie konnte Oberfeldwebel Fuchs noch nie ausstehen. Nicht erst, seitdem er sie als lebendes Hindernis bei der Motorradausbildung benutzt hatte. Als Slalomhütchen sozusagen. Wobei sie zugeben musste, dass sie eher ein Hut, als ein Hütchen war. Aber auf eines konnte man sich bei Pepe S. Fuchs hundertprozentig verlassen: Wenn man in Schwierigkeiten war, half er einem aus der Patsche. Ohne Rücksicht auf Verluste. Nur durfte die Notlage nicht gegen seinen Gerechtigkeitssinn oder seine Vaterlandsliebe verstoßen. Und für beides konnte Rossi in ihrer Lage im Moment die Hand nicht ins Feuer legen.

»Was hat das mit dem Buch auf sich?«, unterbrach Pepe ihre Gedankengänge.

»Was meinen Sie?«

»Hauptgefreite Rossi, verscheißern Sie mich nicht! Sie sind nach Malchow gekommen, um das Buch, das jetzt in Ihrer Tasche steckt, dem grauhaarigen Schlaks zu übergeben, der in seiner Freizeit Krieg spielen lässt. Liege ich damit richtig?«

Verdammt!

 

»Das darf ich nicht sagen. Ist eine Geheimoperation«, antwortete Rossi zögernd.

»Hauptgefreite, nur weil ich keine Schuhe trage, bin ich noch lange nicht auf der Wurstsuppe hergeschwommen! Raus mit der Sprache!«

Die hielt ihn echt für blöd. Geheimoperation! Nie im Leben! Rossi hatte das Geschäftszimmer der Feldjäger-Einheit in Erfurt unter sich. Sie erledigte den Schreibkram, war die Sekretärin des Chefs. Nie und nimmer würde Major Frankfurt sie mit einer geheimen Dienstsache beauftragen. Das bedeutete, die Hauptgefreite war auf eigene Rechnung unterwegs! Nur warum dann in einem Bundeswehr-Geländewagen? Also gab es doch eine dienstliche Komponente!

»Wissen Sie, die Beate Jäger aus Eisenach, die hat jeden Tag bei mir angerufen und gefragt, ob Sie sich gemeldet haben. Bis vor einer Woche jedenfalls. Und plötzlich nicht mehr. Die hat sich echt Sorgen um Sie gemacht. Und wir auch!«

»Jetzt lenken Sie nicht ab! Her mit dem Buch!«, befahl Pepe und griff nach Rossis Bein.

»Nein!«, schrie die und schlug überraschend schnell und kräftig auf Pepes Finger.

Erschrocken zog der seine Hand zurück.

»Lassen Sie uns beim Essen darüber reden«, wehrte Rossi mit leiser, aber fester Stimme ab.

Mittlerweile hatten sie Malchow erreicht und fuhren über die Drehbrücke auf den Inselteil der Stadt. Gerade rechtzeitig. Der Brückenwärter ließ direkt hinter ihnen die Schranke herunter.

»Was soll denn das?«, fluchte Kusch. »Herr Daras, bitte sorgen Sie dafür, dass der Mann uns durchlässt.«

»Ich glaube nicht, dass er auf mich hören wird, Herr Professor. Sehen Sie, die Brücke beginnt sich schon zu drehen.«

»Wie, zu drehen?«

»Die Brücke wird geschwenkt, damit Boote auf die andere Seite können.«

»Dann fahren Sie eben außen rum, Herr Daras. Muss ich Ihnen denn alles sagen? Wir brauchen das Buch!«

»Außen rum? Das sind mindestens zehn Kilometer. Wir müssten über die Autobahn.«

»Na und? Fahren Sie!«

»Sehr wohl, Herr Professor.«

Mit den Worten legte Daras den Rückwärtsgang ein und wendete den Kübelwagen unter wütendem Gehupe der geduldig hinter ihnen wartenden Fahrer.

Kusch zog derweil sein Handy aus der Tasche und wählte Gorzkas Nummer. Beim ersten Klingeln nahm der ab.

»Kusch hier«, begann der Professor das Gespräch. »Wir brauchen Unterstützung. Schicken Sie Pawel und seine Leute nach Malchow!«

»Pawel ist indisponiert.«

»Was hat er denn?«

»Ist aus dem Hubschrauber gefallen.«

»Oh. Und der Rest?«

»Ich schicke Ali und Dimitri.«

»Gut. Sie sollen sich beeilen.«

»Wohin sollen sie kommen?«

»Herr Daras, wo wollen wir uns mit Ali und Dimitri treffen?«

»Auf dem Damm an der südöstlichen Seite der Stadtinsel gibt es einen Parkplatz. Wir warten dort auf sie.«

Der Professor gab die Information weiter und legte auf.

»Wenn die beiden weitergefahren sind, haben wir sie verloren«, gab Daras zu bedenken.

»Ach was. Die kehren auf der Insel ein«, widersprach der Professor. »Warum sollten sie sonst hergekommen sein? Schließlich sind sie an der Autobahn, dem schnellsten Weg von hier weg, vorbeigefahren.«

Rossi stellte den Geländewagen unweit der Brücke im Halteverbot ab. Ein Bundeswehrfahrzeug mit Blaulicht auf dem Dach würde schon niemand abschleppen. Sie liefen nebeneinander die Hauptstraße entlang in Richtung Brücke. Für Außenstehende mussten sie ein merkwürdiges Pärchen abgeben. Auf der einen Seite Rossi, die etwas füllige Soldatin mit militärischem Kurzhaarschnitt, auf der anderen Pepe, kaum größer als die Hauptgefreite, barfuß mit getapter Nase und verbundenem Ohr.

Sie hatten Glück. Auf der Terrasse des Insulaners war noch ein Tisch mit Blick auf den Kanal frei, durch den sich ein unablässiger Strom gemieteter Hausboote schob. Eine leichte Brise brachte etwas Abkühlung an einem sonst sehr heißen Tag. Das aufgeheizte Pflaster war eine Qual für Pepes Fußsohlen. Jetzt, im Schatten eines großen Sonnenschirmes, war es jedoch auszuhalten. Rossi hatte ihm gegenüber Platz genommen und versteckte sich hinter der Speisekarte. Das erinnerte ihn daran, wie hungrig er tatsächlich war.

»Was essen Sie?«, fragte er und griff ebenfalls zur Menükarte.

»Salat«, antwortete die Hauptgefreite kurz angebunden.

»Ich denke, ich fange mit der Soljanka an. Und als Hauptgang Kotelett vom Thüringer Duroc. Das klingt interessant. Das Fleisch des Duroc Schweins hat einen hohen Eisenanteil, ist fein marmoriert und bleibt durch den geringen Bratverlust schön zart und saftig – ein aromatischer und edler Genuss«, las Pepe laut vor.

»Gute Wahl. Und zu trinken?«

Pepe und Rossi zuckten synchron zusammen. Sie hatten den Kellner nicht kommen hören.

»Für mich ein großes Pils«, bestellte Pepe mit übertriebener Fröhlichkeit.

»Ich nehme ein Wasser«, sagte Rossi knapp.

»Kommt sofort.«

»So, und jetzt raus mit der Sprache!«, verlangte Pepe, als der Ober außer Hörweite war. Dabei nahm er Rossi die Speisekarte weg.

Die begann nun an einem breiten Lederarmband herumzufingern und vermied jeglichen Augenkontakt.

»Hauptgefreite, was führt Sie hierher nach Malchow?«

»Ich war in Berlin«, brachte Rossi stockend heraus.

»Und?«

»Bei Johanna Bock.«

Das hatte Pepe jetzt nicht erwartet. Johanna Bock. Die Suche nach der jungen Obergefreiten hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit einiges abverlangt. Außerdem hatten sie sich auch im biblischen Sinne kennengelernt. Seit sie wieder aufgetaucht war, hatten sie allerdings kein Wort miteinander wechseln können. Der Militärische Abschirmdienst hatte den Fall übernommen und Johanna abgeschirmt, ihr jeden Kontakt zur Außenwelt untersagt. Pepe hatte nicht einmal erfahren, wo sie sie hingebracht hatten.

»Sie ist überfallen worden. Im Krankenhaus«, fuhr Rossi fort. »Zum Glück ist sie schon so weit bei Kräften, dass sie die Angreifer in die Flucht schlagen konnte. Sie vermutet, dass es die Eindringlinge auf das Buch abgesehen hatten.«

Um ihre Aussage zu unterstreichen, klopfte sich die Hauptgefreite auf ihre Beintasche.

»Sie hat versucht, Sie zu erreichen.«

»Mich?«, vergewisserte sich Pepe verblüfft.

»Ja, Sie. Aber Sie waren, oder besser sind, ja eigenmächtig abwesend. Ich habe Johannas Anruf in Erfurt entgegengenommen. Major Frankfurt hat mir schließlich gestattet, das Buch abzuholen. Wir sind nämlich gerade etwas knapp an Personal, nachdem Morgenweck gefallen ist und Sie sich ebenfalls in Luft aufgelöst hatten.«

»Warum gerade ich?«, fragte Pepe.

»Anscheinend kennt sie niemand anderen, dem sie so vertraut. Sie vermutet, einen Maulwurf in den Reihen der Bundeswehr.«

»Einen Maulwurf? Für wen?«

Unwillkürlich musste Pepe an Oberbootsmann Schulze denken. Was hatte der noch bei ihrem letzten Treffen in Wilhelmshaven gesagt? »Beweisen Sie, dass ich unschuldig bin. Finden Sie den wahren Maulwurf.«

»Wir wissen nicht für wen«, antwortete Rossi und drehte ihr Armband einmal um sich selbst.

»Was steht in dem Buch?«, wollte Pepe als Nächstes wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, log Rossi.

»Und wie passt der Grauhaarige vom Zeltplatz hier rein?«

»Er ist ein Experte, ein Professor, der helfen soll, den Inhalt des Buches zu analysieren.«

Pepe verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Rossi intensiv an. Die Hauptgefreite wich seinem Blick aus. Außerdem konnte sie die Finger nicht von ihrem Handgelenk lassen. Sie verheimlichte ihm irgendetwas, so viel stand fest.

»Ich möchte das Buch sehen!«, insistierte er.

»Nein!«, wehrte Rossi bestimmt ab.

In dem Augenblick kam der Kellner und brachte das Essen.

»Wo bleiben die denn, Herr Daras?«, fragte Kusch zum wiederholten Mal und sah auf seine Armbanduhr.

»Ich habe keine Ahnung, Herr Professor.«

»Typisch!«

»Sie könnten Herrn Gorzka nochmals anrufen.«

»Das könnte ich tatsächlich.« Kusch nickte, blieb aber regungslos in dem offenen Wagen sitzen.

Von ihrem Parkplatz auf dem Damm hatten sie einen wundervollen Blick über den Malchower See, der sich nahtlos an den benachbarten Fleesensee anschloss. Von dort gab es einen Kanal, von dem man den Kölpinsee erreichen konnte, wenn man das wollte. Dann war es auch bis zur Müritz nicht mehr weit. Kein Wunder, dass die vermaledeite Drehbrücke so ein Nadelöhr war. Dabei waren sie so dicht dran. Wenn ihr Informant recht hatte, barg das Buch den entscheidenden Hinweis, den letzten Fingerzeig, der ihn zum Ziel führen würde. Damit könnte er seine lebenslange Suche abschließen, vielleicht gerade noch rechtzeitig. Ein hupendes Motorboot riss den Professor aus seinen Gedanken.

»Ali und Dimitri sind da«, sagte Daras.

»Gut. Sie sollen vor zur Brücke fahren, wir nehmen die Hauptstraße. Los!«

Daras fuhr in Schrittgeschwindigkeit. Die Malchower Insel wurde von zwei Einbahnstraßen zerschnitten. Da ihre Zielpersonen nicht im Don Camillo, direkt am Damm zu finden waren, konnten sie nur in einem der Restaurants in der Nähe der Drehbrücke eingekehrt sein. Oder Daras hatte mit seiner Befürchtung recht und sie waren längst über die B192 und alle Berge entschwunden.

Die beiden Einbahnstraßen trafen kurz vor der Brücke wieder aufeinander und nur wenige Meter später entdeckte Daras den Bundeswehr-Geländewagen.

»Dort, Herr Professor!«

»Halten Sie an, Herr Daras. Halten Sie an!«, befahl Kusch voller Elan.

Dieses Mal schien das Glück auf ihrer Seite zu sein.

8

Auch auf dieser Seite der Drehbrücke stauten sich die Fahrzeuge bis über die Vereinigung der beiden Einbahnstraßen hinaus. Die Leute nahmen die unfreiwillige Pause gelassen. Durch heruntergelassene Scheiben schallte fröhliche Radiomusik. Viele Fahrer, die meisten davon Touristen, waren ausgestiegen und streckten ihre Gesichter mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen.

Daras und Kusch schritten langsam die Autokolonne ab, jeder auf einer Straßenseite. Sie hatten den Kübelwagen neben dem Bundeswehrfahrzeug geparkt. Von Weitem konnte man denken, dass die beiden Autos aufgrund ihrer matten Tarnfarbe zusammengehörten, obwohl über siebzig Jahre zwischen ihnen lagen.

Der Professor passierte linker Hand eine Aalräucherei. Dort herrschte dichtes Gedränge. Bis auf den Bürgersteig reichte die Schlange der Fischhungrigen. Kusch drängelte sich, die Proteste ignorierend, hindurch bis zum Schaufenster, legte seine Hände an die Scheibe. Er starrte entgeistert in den Verkaufsraum und sog den typischen Fischgeruch in sich auf. Bis er am Arm zurück auf die Straße gezogen wurde.

»Ich habe sie, Herr Professor«, sagte Daras. »Ich habe sie.«

»Sehr gut!«, antwortete Kusch. »Wo denn?«

»Sie sitzen da vorn an der Brücke. Auf einer Außenterrasse.«

»Und wo sind unsere Männer?«

»Die haben sich unter die wartenden Boote gemischt. Sind gleich an der Reihe, die Durchfahrt passieren zu können.«

»Na dann los!«

Sie aßen schweigend. Pepe genoss es. Das erste, richtige Essen seit Tagen und auch noch in hervorragender Qualität. Frische Luft und vollwertige Nahrung hatten sich bei ihm von jeher als beste Medizin gegen einen ausgewachsenen Kater bewährt. Nur das Bier passte nicht wirklich dazu. Aber sein Opa hatte felsenfest behauptet, dass auf einen Hundebiss Hundehaare gehörten. Also bekämpfte er den Restalkohol mit frischem Nachschub.

Während Pepe durch das saftige Schweinefleisch schnitt, beobachtete er die Hauptgefreite aus dem Augenwinkel. Sie stocherte lustlos in ihrem Salat herum, wich Pepes Blick konsequent aus und tastete alle naselang nach dem Buch in ihrer Tasche. Was konnte dort wohl drinstehen, das einen Überfall auf eine Soldatin in einem Bundeswehrkrankenhaus rechtfertigte? Johanna Bock. Merkwürdig, dass sie gerade nach ihm gefragt hatte, wo sie sich nur kurz, dafür umso heftiger kennengelernt hatten.

Allmählich nahm der Bootsverkehr in der Engstelle zwischen den beiden Malchower Stadtteilen ab. Den Freizeitkapitänen beim Manövrieren zuzusehen, war eine willkommene Abwechslung. Mehr als einmal hatte Pepe befürchtet, Zeuge eines kapitalen Schiffuntergangs zu werden. Doch am Ende hatten alle Schiffe und Flöße die Kurve gekriegt. Als eines der letzten schob sich ein Sportboot fast im Leerlauf tuckernd an ihnen vorbei. Die Insassen hatte Pepe schon einmal gesehen. Gestern Abend auf dem Steg am Campingplatz. Der Mann am Steuer hatte ein riesiges Pflaster am Kinn und einen Gehgips. Der andere trug seinen rechten Arm in einer Schlinge, während seine linke Hand möglichst unauffällig auf einer Pistole in seinem Gürtel ruhte. Pepe legte langsam seine Gabel auf den Teller, wischte sich die Finger an seiner Serviette ab und klemmte sich das große Steakmesser unter den Schenkel.

 

»Wir bekommen Besuch«, warnte er leise, aber eindringlich Rossi. »Nicht umdrehen!«, zischte er, als die Hauptgefreite über ihre Schulter schauen wollte.

Im selben Moment trat der Grauhaarige an ihren Tisch, begleitet von einem weiteren Mann, der fit und fähig aussah. Der Fahrer des Kübelwagens vom Kriegsspielschauplatz.

»Schön, dass wir uns doch noch getroffen haben«, sagte der Alte. »Mein Name ist Professor Alexander Kusch. Ich denke, Sie haben etwas für mich.«

»Sie müssen uns verwechseln«, konterte Pepe und stand auf. Er stellte sich direkt vor Rossi.

Für die anderen unsichtbar, hielt er das Steakmesser mit der Klinge nach oben hinter seinem Unterarm verborgen. In der Zwischenzeit hatte das Boot direkt vor ihnen angelegt. Der Kerl mit der Armschlinge kletterte heraus und kam ebenfalls auf sie zu. Die Pistole hielt er jetzt wenig unauffällig in der Hand.

»Das denke ich nicht Herr ...«, fuhr der Professor fort.

Sein Begleiter stand jetzt so dicht hinter Pepe, dass der dessen Atem im Genick spüren konnte. Rossi war ebenfalls aufgestanden und sah mit weit aufgerissenen Augen von einem zum anderen.

Kurz bevor der Kerl mit Armschlinge und Pistole sie erreichte, reagierte Pepe. Sein rechter Ellenbogen schnellte zurück und traf den Begleiter des Professors mit voller Wucht an der Schläfe. Der fiel in sich zusammen, als wäre er eine Marionette, der jemand alle Schnüre auf einmal durchgeschnitten hatte. Dann warf er den Tisch um, schleuderte ihn gegen Kusch, der mit ihm zu Boden stürzte. Die übrigen Gäste und Passanten schrien panisch auf, sprangen von ihren Plätzen. Erst unschlüssig, was zu tun war, rannten sie plötzlich wie auf ein geheimes Zeichen hin gleichzeitig durcheinander. Das Chaos war vollkommen. Dabei rissen sie sich gegenseitig um. Tische und Stühle fielen, Geschirr und Gläser schepperten zu Boden. Erst jetzt begriff der Mann aus dem Boot, was vor sich ging. Er blieb stehen und legte an. Offensichtlich war er Rechtshänder und nicht gewohnt, mit der linken Hand zu schießen. Er versuchte es trotzdem. Die Kugel pfiffen weit über ihre Köpfe hinweg. Das Dröhnen der Schüsse vergrößerte den Tumult noch. Pepe hechtete zu Rossi hinüber, warf sie um und zerrte sie hinter einen Blumenkübel in Deckung.

»Hauen Sie ab!«, brüllte er ihr ins Ohr, während er sich mit dem Messer an ihrer Hose zu schaffen machte. »Rennen Sie zurück zum Wagen und verschwinden Sie!«

Der Pistolenschütze versuchte mittlerweile, das leer geschossene Magazin zu wechseln. Keine leichte Übung mit einem Arm in der Schlinge. Der Professor rappelte sich auf. Sein Begleiter lag noch immer bewusstlos am Boden. Besser würde es nicht werden.

»Jetzt!«, brüllte Pepe und gab Rossi einen Klaps.

Dann sprang er selbst auf und rannte auf den Schützen zu. Der rammte in dem Moment das volle Magazin in den Pistolenschacht, in dem Pepe ihn mit der Schulter voran erwischte. Der Mann taumelte rückwärts. Seine Waffe fiel zu Boden. Mit kurzen, schnellen Schlägen trieb Pepe ihn vor sich her, bis hinter ihm die Ufermauer endete und der Mann rücklings in den Malchower See stürzte.

Kusch sah Dimitri ins Wasser stürzen. Der kleine, kräftige Glatzkopf, der die Kontaktperson entführt hatte, konnte sich in letzter Sekunde bremsen, bevor er ihm durch seinen eigenen Schwung folgte. Er blieb mit rudernden Armen an der Kante stehen. Zum Glück hatte Ali im Boot das Ganze mitbekommen und legte bereits ab, um seinen Kameraden aufzunehmen. Nur Daras lag träge auf der Erde. Das Personal taugte heutzutage überhaupt nichts mehr. Kusch lief zu ihm herüber und stieß ihn mit der Fußspitze an.

»Herr Daras, hören Sie mich? Herr Daras, wir werden die Frau verlieren!«

Ihre Informantin robbte hinter einer Reihe Blumenkübeln den Bürgersteig entlang. Ihr ausladendes Hinterteil schaute in schöner Regelmäßigkeit über die Betonkästen hinaus, wie ein Erdmännchen, das prüft, ob die Luft rein ist.

Daras fuchtelte unwirsch mit einem Arm, als gelte es, eine lästige Fliege zu verscheuchen. Der Professor beugte sich tief zu ihm herunter und wiederholte leise, aber eindringlich: »Wir werden die Frau verlieren!«

»Sehr wohl, Herr Professor«, antwortete Daras gedehnt.

Er drehte sich mühsam auf den Rücken, öffnete und schloss seinen Mund mehrmals, wackelte mit der Hand an seinem Kiefer und stand endlich ächzend auf. Kusch stützte ihn, während er ein drittes Mal sagte: »Wir werden die Frau verlieren!«

Pepe hatte nur knapp verhindern können, dem Schützen ins Wasser zu folgen. Seine nackten Fußsohlen schlitterten über das heiße Pflaster. Unter ihm machte sein Gegner einarmige Schwimmbewegungen, während er immer tiefer sank. Schwer atmend blieb Pepe an der kleinen Kaimauer stehen und sah sich um. Die Terrasse hatte sich in der Zwischenzeit geleert. Was machte denn Rossi da? Sie kroch auf allen vieren hinter den Blumenkübeln entlang, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen und zum Geländewagen zu rennen. Bevor er ihr etwas zurufen konnte, hallten erneut Schüsse über den Platz. Instinktiv warf sich Pepe zu Boden. Auch der zweite Angreifer war kein Kunstschütze. Auf dem Pflaster liegend sah Pepe die Pistole des ersten Schützen. Er robbte darauf zu. Die Einschläge kamen näher. Steinsplitter regneten auf ihn herab. Endlich! Pepes Fingerspitzen bekamen die Waffe zu fassen. Er riss sie an sich, drehte sich herum und feuerte. Die zweite Kugel fand ihr Ziel. Der Fahrer des Sportbootes brach getroffen zusammen. Er fiel auf den Gashebel und das Boot schoss vorwärts, direkt auf den Anleger zu. Von der Uferpromenade führte eine schräge Rampe aus dem Wasser auf die Terrasse. Die raste das Sportboot unter Volllast kreischend empor. Der erste Schütze, den Pepe von der Ufermauer gestoßen hatte, hing mit einem Fuß im Fender verheddert außen dran und wurde über die Betonfläche mitgezerrt. Sein Kopf ditschte über die Rampe wie ein außer Kontrolle geratener Flummi. Erst kurz vor den Tischen des Biergartens kam das Boot zum Stehen. Die Schraube drehte sich kreischend frei in der Luft. Wo waren der Professor und sein Begleiter?

»Schneller, Herr Daras, schneller!«

Kusch trieb seinen Begleiter an. Der hatte noch immer leichte Gleichgewichtsstörungen und Orientierungsschwierigkeiten. Nach so einem heftigen Kopftreffer war eine Gehirnerschütterung nicht unwahrscheinlich. Doch darauf konnte und wollte der Professor keine Rücksicht nehmen. Die Informantin war jetzt aufgestanden und rannte für ihr Aussehen erstaunlich schnell die Straße hinunter.

Pepe lief auf die andere Gehwegseite hinüber. Von dort konnte er Rossis geparkten Wagen sehen. Sie hatte ihn eben erreicht und versuchte anscheinend hektisch, das Türschloss zu öffnen. Aber es war zu spät. Der Begleiter des Professors packte sie grob am Arm und nahm ihr den Schlüssel ab. Pepe legte an. Er hatte auf die Entfernung kein freies Schussfeld. Die Gefahr, die Hauptgefreite zu treffen, war zu groß. Mit einem leisen Fluch ließ er die Pistole sinken. Jetzt öffnete der Professor die Autotüren und sein Begleiter stieß Rossi hinein. Kusch übernahm das Steuer, während sich sein Handlanger zur Hauptgefreiten auf die Rücksitzbank setzte. Der Professor startete den Motor und gab Gas. Sekunden später waren sie nicht mehr zu sehen.

Pepe überlegte nur kurz. Dann rannte er zu dem auf dem Trockenen sitzenden Boot. Er zerrte den sich wimmernd die angeschossene Schulter haltenden Fahrer heraus, schnitt das Tau, das sich um den Fuß seines Kumpanen gewickelt hatte, mit dem Steakmesser durch und wuchtete das Sportboot die Rampe hinunter zurück ins Wasser. In einem Satz sprang er hinterher und riss das Steuer herum. Die Brücke war wieder geschlossen. Pepes gekapertes Boot war jedoch klein genug, um darunter hindurchzupassen. Sich flach duckend, haarscharf vorbei an einer schützenden Bretterkonstruktion jagte er mit Vollgas auf die andere Seite. Über ihm trafen die ersten Streifenwagen ein. Eine Schießerei am helllichten Tag auf offener Straße kam im beschaulichen Mecklenburg-Vorpommern auch nicht jeden Tag vor. Darauf konnte Pepe jetzt keine Rücksicht nehmen. Mit etwas Glück würde er die entführte Rossi noch auf dem Damm, der Malchows Inselteil südöstlich mit dem Festland verband, erwischen können.

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