Buch lesen: «Pflanzenrevolution», Seite 3

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3 DIE RAFFINIERTE KUNST
DER NACHAHMUNG


Die Pflanzen der Gattung Lithops sind unter dem Namen «Lebende Steine» bekannt. Sie wachsen in den Trockenzonen Südafrikas und Namibias.

Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammelt die Bemerkungen aus verschiedenen einzelnen, und bringet sie in eins.

Johann Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung

Je mehr ich die Natur studire, desto mehr werde ich von der immer zunehmenden Überzeugung durchdrungen, dass die schönsten Einrichtungen und Anpassungen, welche jedem in verschiedener Richtung zufällig variirenden Organe dadurch zu Theil geworden, dass natürliche Züchtung diejenigen dieser Abänderungen, welche dem Organismus in dem bestandigen Wechsel der äusseren Lebensbedingungen nützlich seyn konnten, beibehalten und admissirt hat, in unvergleichlich hohem Grade alles übersteigen, was sich die fruchtbarste Einbildungskraft irgendeines Menschen als Ergebniss während einer unbegrenzten Zeitdauer nur vorstellen kann.

Charles Darwin, Über die Einrichtungen zur Befruchtung Britischer und Ausländischer Orchideen Durch Insekten und Über die Günstigen Erfolge der Wechselbefruchtung

Vorbild, Nachahmer und Empfänger

Wenn es um Nachahmung in der Natur geht, werden immer wieder dieselben Tiere genannt: Chamäleon, Mittelmeerstabschrecke, Gottesanbeterin, bestimmte Schmetterlinge, Raupen, Fische wie die Scholle, Oktopusse … Dabei sind Pflanzen in puncto Mimese und Mimikry keineswegs weniger skrupellos und häufig sogar noch erheblich raffinierter.

Es gibt in der Natur verschiedene Formen der Nachahmung. Wir meinen in der Regel zwei: Mimese oder Tarnung, bei der der Nachahmer seinen Lebensraum imitiert, um ungesehen zu bleiben, und Mimikry oder Warnung, bei der ein potenziell gefährliches oder gefürchtetes Lebewesen in Verhalten, Form oder Farbe imitiert wird. Aber eigentlich umfasst die Nachahmung noch viele weitere und vielfältigere Phänomene. Weil das für unser Thema von Bedeutung ist, möchte ich es näher erläutern und zunächst ein wenig abschweifen.

Jedes Lebewesen ist unabhängig von seiner Komplexität gezwungen, seine innere Organisation zu erhalten, die von Natur aus zur Auflösung und Unordnung strebt. Dazu muss es unter anderem auswählen und Entscheidungen treffen. Es muss beispielsweise aus einem Substrat die richtigen Nährstoffmoleküle auswählen, Feinde von Freunden unterscheiden oder je nach Ressourcenlage wachsen oder schrumpfen. Jeder Organismus ist ein offenes System, das Informationen aussendet und empfängt. Alle Lebewesen tauschen demnach mit ihrer Umwelt überlebenswichtige Daten aus. Und das heißt: Kommunikation ist für alle Lebewesen unerlässlich. Selbst der simpelste Organismus kann das sensible Gleichgewicht, das Leben letztendlich ausmacht, nur mithilfe von Kommunikation erhalten.

Jedes Lebewesen muss also jederzeit in der Lage sein, Objekte, Mitglieder der eigenen Art, Gefahren und so weiter zu erkennen. In bestimmten Momenten seines Lebens muss es unweigerlich mit anderen interagieren, also Botschaften senden oder empfangen.

Wenn ein Lebewesen ein visuelles, olfaktorisches, akustisches oder sonstiges Signal aussendet, um das Verhalten eines anderen Lebewesens in seinem Sinne zu beeinflussen, bewegen wir uns schon im Bereich der Nachahmung. Um von Nachahmung sprechen zu können, muss es also ein Vorbild geben (einen Organismus, der das Signal ursprünglich hervorbringt), einen Nachahmer (der davon profitiert, das Signal des Vorbilds nachzuahmen) und einen Empfänger (der im Sinne des Nachahmers auf die Botschaft reagiert).

Die Königin der Mimikry, Boquila trifoliolata, und die Augen der Pflanzen

Wie gesagt, zeigt sich die Kunst der Nachahmung, zumindest meiner Meinung nach, in der Pflanzenwelt noch in wesentlich raffinierteren und virtuoseren Formen als in der Tierwelt. Doch die ausgefeilten Nachahmungsfähigkeiten der Pflanzen sind auch noch in anderer Hinsicht interessant. Wenn man sich näher damit beschäftigt, erkennt man nämlich, dass die Pflanzen unerwartete sensorische Fähigkeiten besitzen. Das wird etwa an der außergewöhnlichen Nachahmungsfähigkeit von Boquila trifoliolata deutlich.

Sie ist sozusagen der Zelig der Pflanzenwelt und mit Sicherheit der ungewöhnlichste Nachahmer der Natur. Die Kletterpflanze wächst in klimatisch gemäßigten Waldgebieten Chiles und Argentiniens und ist die einzige Art ihrer Gattung. Sie ist relativ weit verbreitet, hat daher in Chile viele Namen (Pilpil, Voqui, Voquicillo, Voquillo, Voqui blanco) und bringt genießbare Beeren hervor. Doch obwohl Hunderte von Biologen, ob Experten oder Pflanzenliebhaber, die seit Langem bekannte Art gründlich erforscht und in ihrem ursprünglichen Habitat beobachtet haben, ist erst vor wenigen Jahren jemandem aufgefallen, dass die Pflanze ein unglaublicher Nachahmungskünstler ist.

Der Botaniker Ernesto Gianoli spazierte 2013 durch die südlichen Wälder Chiles und traf zum zigsten Mal in seinem Forscherleben auf ein Exemplar der Boquila trifoliolata. Nichts Besonderes also, die Pflanze war schon bestens bekannt und beschrieben, doch plötzlich fiel ihm etwas auf. Man muss dazu wissen, dass ein Botaniker im Wald ähnlich vorgeht wie ein Sammler auf dem Flohmarkt: Mit all seinen Sinnen in Habtachtstellung hofft er auf das eine besondere Stück, das alle anderen übersehen haben. Wenn er in der Hoffnung auf eine noch unentdeckte Art durch die Wälder streift, hält er Ausschau nach den verborgensten Kleinigkeiten, nach winzigen Abweichungen in Form und Farbe, nach irgendetwas, das eine Pflanze zu etwas Besonderem machen könnte. Das können selbst Nebensächlichkeiten sein. Und als Ernesto Gianoli an diesem Tag einen in dieser Gegend häufigen Busch betrachtet, fällt ihm auf, dass die Blätter ein wenig anders aussehen als erwartet. Er schaut genauer hin und stellt fest, dass die Blätter gar nicht zu dem Busch gehören, sondern zu der Kletterpflanze, die auf ihm wächst. Die Kletterpflanze, das sieht er sofort, ist eine waschechte Boquila trifoliolata, aber ihre Blätter sehen nicht aus, wie sie seiner Erinnerung nach aussehen müssten. Sie ähneln überraschenderweise den Blättern des Strauchs, den sie erklommen hat.

Die in den gemäßigten Wäldern Chiles weitverbreitete Boquila trifoliolata ist eine unglaubliche Nachahmungskünstlerin. Das Bild zeigt ihre normalen Blätter.

In der Hoffnung, vielleicht noch ein ähnliches Exemplar zu entdecken, schaut Gianoli sich um. Und was er sieht, macht ihn sprachlos: Offenbar ahmt Boquila trifoliolata äußerst geschickt verschiedenste Blätter ihrer «Wirts»-Büsche und -Sträucher nach. Sie kann scheinbar problemlos die unterschiedlichsten Blätter nachbilden. Das schafft, soweit Gianoli weiß, keine andere Pflanze; selbst die Meisternachahmer unter den Pflanzen, die Orchideen, können nur eine einzige Art imitieren und höchstens Blüten hervorbringen, die denen mehrerer Arten ähneln. Die Nachahmung unterschiedlicher Vorbilder war bislang dem Tierreich vorbehalten. Elektrisiert von seiner Entdeckung, aber auch ein wenig skeptisch, startet Gianoli mit seinem Studenten Fernando Carrasco-Urra eine lange Versuchsreihe, um seine Entdeckung zweifelsfrei zu belegen. Denn es würde wohl nicht leicht werden, die wissenschaftliche Community davon zu überzeugen, dass eine Pflanze Maße, Form und Farbe völlig unterschiedlicher Arten nachahmen kann. Doch das Ergebnis sollte am Ende noch verblüffender sein als gedacht.

Boquila kann nicht nur die Blätter der zahlreichen Arten nachahmen, an denen sie emporklettert. Wenn sie neben zwei oder sogar drei unterschiedlichen Arten wächst, kann sie jeweils die Blätter der am nächsten stehenden Nachbarpflanze imitieren. Ein und dasselbe Exemplar kann also Maße und Farbe seiner Blätter, je nach Nachbarpflanze, wiederholt verändern. Die Entdeckung von Gianoli und Carrasco-Urra sollte weitreichende Folgen haben. Wenn eine Pflanze ihre Blätter nämlich derart flexibel variieren kann, dann muss ihre Genexpression auf bislang völlig undenkbare Weise modifizierbar sein.

Dass es sich bei Boquila trifoliolata um eine außergewöhnliche Nachahmungskünstlerin handelt, ist wohl deutlich geworden. Ich bin auf dem Gebiet zwar kein Fachmann, und es ist schwer, sich wirklich einen Überblick über die zahllosen Formen der Nachahmung zu verschaffen, die sich im Lauf der Evolution herausgebildet haben, aber ich glaube mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können, dass dies in der Natur der einzige Fall ist, bei dem ein Lebewesen Gestalt, Maß und Farbe gleichzeitig verändert. Relativ häufig wird eins dieser Merkmale, meistens die Farbe, imitiert und manchmal auch zwei, aber dass drei Merkmale gleichzeitig nachgeahmt werden, wäre auch für die Tierwelt neu.

Wie wir am Anfang des Kapitels festgestellt haben, muss der Nachahmer, in unserem Fall Boquila trifoliolata, aus der Nachahmung einen Nutzen ziehen. Welchen Nutzen kann die Nachbildung der Wirtsblätter für eine Pflanze haben? Sie könnte sich damit vor Schädlingen schützen. Wenn Boquila etwa die Blätter giftiger Pflanzen nachahmt, die von pflanzenfressenden Insekten gemieden wären, könnte sie von der Verwechslung profitieren. Diese Art der Nachahmung nennt man nach dem englischen Naturwissenschaftler Henry Walter Bates (1825–1892) Bates’sche Mimikry Hierbei tritt sozusagen das Schaf im Wolfspelz auf. Die Bates’sche Mimikry ist in der Pflanzenwelt relativ häufig. So können beispielsweise bestimmte Lippenblütler wie die Weiße Taubnessel (Lamium album) oder der Wald-Ziest (Stachys sylvatica) nahezu perfekt Brennnesselblätter imitieren, um sich vor Pflanzenfressern zu schützen. Ein zweiter, einfacherer – und laut dem berühmten Ockham’schen Sparsamkeitsprinzip damit vorzuziehender – Grund für die Nachahmung von Boquila trifoliolata könnte sein, dass für sie dadurch die statistische Wahrscheinlichkeit sinkt, von pflanzenfressenden Insekten angegriffen zu werden. Weil der Wirt wesentlich mehr Blätter hat als sie, würde er bei einem Angriff stärker geschädigt als der Nachahmer. Wir wissen leider nicht, welche der beiden Thesen nun stimmt. Wie so häufig, spielen vermutlich mehrere Faktoren eine Rolle.

Wie Ernesto Gianoli berichtet, gelang es Boquila manchmal nur unter großen Schwierigkeiten, bestimmte Merkmale, etwa die Zähnung, nachzubilden. Doch sie «gab ihr Bestes» und produzierte zumindest Blätter mit «angedeutetem» gezähnten Rand. Die genaue Beschreibung des Phänomens war für die Forschung allerdings erst der Anfang. Denn bei genauerer Überlegung muss man sich ja nicht nur fragen, wie Boquila sich so schnell verwandeln kann, sondern vor allem, woher sie überhaupt weiß, was genau sie nachahmen muss. Die Studie von Ernesto Gianoli und Fernando Carrasco-Urra, in der die ungewöhnliche Mimikry von Boquila trifoliolata erstmals beschrieben wird, stellt dazu zwei Thesen auf. Erstens, die Pflanze erkennt ihr Vorbild anhand flüchtiger Stoffe der Wirtspflanze. Da Boquila allerdings in einem Gemisch aus flüchtigen Stoffen lebt, die von zig Pflanzen ihrer Umgebung abgegeben werden, aber nur die Nachbarblätter nachahmt, scheidet diese These mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Die zweite These, nach der die Gene der Wirtspflanze durch geheimnisvolle Mikroorganismen auf Boquila übertragen werden, scheint allerdings noch unwahrscheinlicher. Kurzum, woher die Königin der Mimikry weiß, was sie nachahmen muss, ist nach wie vor ein Rätsel.

Der Wald-Ziest (Stachys sylvatica) ahmt Brennnesselblätter täuschend echt nach.

Blätter und Stiele der Brennnessel (Urtica dioica) sind mit einer brennenden Substanz beschichtet, die Fressfeinde abschreckt.

Im September 2016 konnte ich gemeinsam mit meinem hochgeschätzten Freund und Kollegen, Professor František Baluška von der Universität Bonn, mit dem ich ungefähr fünfzig wissenschaftliche Aufsätze verfasst habe, nun eine neue Lösung für die knifflige Frage vorlegen: Wir halten es für denkbar, dass die Pflanze über eine Art Sehvermögen verfügt. Das klingt zunächst vielleicht absurd oder gar nach Science-Fiction, aber ich halte das für die plausibelste Erklärung. Wieso? Das will ich gern erklären.

Schon 1905 hat der berühmte Botaniker Gottlieb Haberlandt (1854–1945) die These aufgestellt und damit nicht nur in der wissenschaftlichen Community Aufsehen erregt, dass Pflanzen mittels der Epidermiszellen Bilder sehen können und somit über eine Art Sehvermögen verfügen. Da die Epidermiszellen häufig wie konvexe Linsen geformt seien, so die These, könnten darüber Bilder auf darunterliegende Zellschichten projiziert werden. Laut Haberlandt funktionieren die Epidermiszellen der Pflanzen wie Ozellen, die einfachen Augen vieler wirbelloser Tiere. Haberlandts These stieß auch bei Francis Darwin (1848–1925), seinerseits renommierter Professor für Pflanzenphysiologie an der Universität Cambridge und Sohn des berühmten Charles Darwin, auf große Zustimmung; er kam im Zusammenhang mit dem pflanzlichen Wahrnehmungsvermögen wiederholt darauf zurück und verwies dabei stets auf ihre wissenschaftliche Fundiertheit.

Auf dem Dubliner Kongress, bei dem Francis Darwin den Pflanzen ganz offen Gedächtnis und Verhalten zugestand – ich habe darüber in meinem Buch Die Intelligenz der Pflanzen berichtet –, präsentierte Harold Wager (1862 –1929), Mitglied der Royal Society, einem verblüfften Publikum zudem mehrere Fotografien, bei denen als fotografische Linse Epidermiszellen verschiedener Pflanzen verwendet worden waren. Das Publikum bestaunte die ziemlich detaillierten Personenporträts und Landschaftspanoramen, die zumindest unter rein optischen Gesichtspunkten ein Sehvermögen der Pflanzen plausibel erscheinen ließen. Und was folgte daraus? Nichts. Wie viele andere vor allem botanische Theorien geriet Haberlandts These schon bald in Vergessenheit. Es wurde noch nicht einmal versucht, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Vermutlich war das Thema zu abseitig, um sich näher damit zu beschäftigen und Zeit und Geld damit zu «vergeuden».

Als Linse für diese Fotos diente Harold Wager die Epidermis von Pflanzenblättern. Rechts ein Artikel dazu in der «New York Times».

Haberlandts These fiel dem Vergessen anheim. Im vergangenen Jahrhundert wurde sie in keinem wissenschaftlichen Aufsatz auch nur erwähnt. Doch in den letzten fünf Jahren konnte durch mehrere überraschende wissenschaftliche Entdeckungen stichhaltig belegt werden, dass sogar Einzeller Sehvermögen besitzen, und auf einmal war Haberlandts Theorie wieder angesagt. Haberlandts pflanzliches Sehvermögen und seine Ozellen waren plötzlich nicht mehr nur eine interessante alte Theorie, sondern wieder eine ernsthafte Überlegung wert.

Dinoflagellaten sind mikroskopisch kleine Algen und eine der wichtigsten Phytoplankton-Gruppen. Manche Arten besitzen hochkomplexe Ozellen.

Wie gesagt, die plausibelste Erklärung für die Mimikry der Boquila ist, dass Pflanzen über ein rudimentäres Sehvermögen verfügen. Sie könnten damit nicht mehr als viele Einzeller auch. Wie eine neuere Studie zeigt, misst etwa das prokaryotische Cyanobakterium Synechocystis sp. PCC 6803 nicht nur mithilfe von Fotorezeptoren Intensität und Farbe des Lichts, sondern verwandelt seinen einzelligen Körper auch in eine Mikrolinse und bestimmt so seine Position im Verhältnis zur Lichtquelle. Das Bild der Lichtquelle durchdringt dabei die konvexe Membran, wird auf die Gegenseite projiziert und löst eine Fluchtbewegung aus.

Andere Einzeller wiederum, etwa Dinoflagellaten, komplexere Eukaryoten also, verfügen über ungewöhnlich raffinierte Ozelloide, die ähnlich arbeiten wie Linse und Retina. Auch viele Wirbellose sind mit Ozelloiden, Ozellen oder einem ganzen Arsenal mehr oder minder komplexer Sehorgane ausgestattet, die völlig anders aufgebaut sind als unsere Augen. Wir denken beim Stichwort Sehvermögen immer sofort an unsere eigenen Augen, doch die Natur kennt zahllose Sehsysteme. Kurzum, vieles spricht dafür, dass auch die Pflanzen oder zumindest einige wie Boquila trifoliolata über ein rudimentäres Sehvermögen verfügen.

Und wahrscheinlich möchten Sie jetzt endlich wissen, ob ich mit meiner These richtigliege. Leider müssen Sie sich in diesem Punkt noch ein wenig gedulden, doch nicht mehr lange. Schon in nicht allzu ferner Zukunft wird sich zeigen, ob die These stimmt oder, um es mit Einstein zu sagen, nur eine wunderbare Theorie ist, die leider von der hässlichen Wirklichkeit zerstört wurde.


In der Epidermis von Blättern und Wurzeln finden sich typische Ozellen-Merkmale, etwa Strukturen, die Hornhaut und Netzhaut entsprechen.

Pflanzen, Steine und farbige Signale

Überall in der Natur wird nachgeahmt. Und alle Nachahmer sind faszinierend, auch wenn nicht alle so einfallsreich sein mögen wie Boquila. Nicht unerwähnt bleiben soll darum die Tarnung der Lithops, ein weiteres Musterbeispiel für die mimetische Raffinesse der Pflanzen. Die Gattung der Lithops (von griechisch lithos, der Stein, und opsis, das Aussehen) gehört zur Familie der Mittagsblumengewächse (Aizoaceae) und kommt vor allem in den Wüsten Namibias und Südafrikas vor. Lithops sehen wie Steine aus, sind dabei aber nicht nur geschickte Nachahmer, sondern auch perfekt an das Leben in der Wüste angepasst.

Lithops sind kleine Sukkulenten und besitzen nur zwei Blätter. Diese sind durch einen Spalt getrennt, aus dem die Blüten wachsen. Mithilfe der beiden Blätter ahmen sie perfekt die Form und Färbung kleiner Steine nach, mit Streifen und Flecken von Grün bis Rostrot oder von Weiß bis Grau und Lila. Wahrscheinlich haben Sie schon mal welche im Gartencenter gesehen, wo sie als «Lebende Steine» angeboten werden. Um in der heißen, trockenen Wüste zu überleben, besitzen sie nur einen rudimentären, oft unterirdischen Stiel. Lediglich die steinähnlichen Blätter und häufig sogar nur deren glatte Oberseiten wachsen über der Erde. Vielfach handelt es sich bei den Blättern um sogenannte Fensterblätter: Aus Mangel an Chlorophyll verfügen sie über transparente, lichtdurchlässige Flächen, die das Sonnenlicht tief ins Pflanzeninnere und bis an Stellen eindringen lassen, die nicht direkt von der Sonne beschienen werden.

In diesem Fall liegt auf der Hand, welchen Nutzen die Pflanze von ihrer steinernen Tarnung hat. Da sie keine Stacheln oder Ähnliches besitzt, kann sie sich so vor Pflanzenfressern schützen. Zumal das Wasser der Sukkulenten in der Wüste ein besonders wertvolles Gut ist. Die Farbkombinationen und Farbveränderungen der Pflanzen sind zudem ein effizientes Kommunikationsmittel. Doch während die evolutionäre Funktion der Farben in der Zoologie ein wichtiger Forschungsbereich ist, wurde er in der Botanik, abgesehen von der Bedeutung der farbenprächtigen Blüten für die Bestäubung, bislang sträflich vernachlässigt. Lithops nutzen Formen und Farben, um sich zu tarnen und vor Fressfeinden zu schützen. Viele andere Pflanzen senden jedoch genau das entgegengesetzte Signal aus. Sie wollen andere durch Farbe und Form vor ihrer Stärke und Gefährlichkeit warnen.

Der Kaktus Blossfeldia liliputana ahmt ähnlich wie Lithops Steine nach, um sich vor Angreifern zu schützen.

Lithops aucampiae. Die beiden ovalen Hälften der Pflanze sind zwei sukkulente Blätter, die an die extreme Trockenheit besonders gut angepasst sind.

Ein faszinierendes Beispiel für diese Art von Mimese ist möglicherweise auch das prächtige Herbstkleid der Laubbäume. Möglicherweise, weil dies bislang nicht eindeutig belegt werden konnte. Noch bis vor wenigen Jahren nahm man nämlich an, dass es sich bei der roten, orangen und gelben Farbpracht unserer Herbstwälder lediglich um einen Nebeneffekt des Chlorophyllabbaus handele, der die sonst durch das Grün überlagerten Farben zum Vorschein bringe. Doch dann stellte man überrascht fest, dass manche Arten schon Tage oder Wochen vor dem Laubabwurf erhebliche Ressourcen darauf verwenden, Moleküle zur Färbung der Blätter zu produzieren, und konnte sich der Vermutung nicht erwehren, dass das Herbstlaub doch eine etwas komplexere Angelegenheit sein könnte. Denn warum sollten die Bäume in scheinbar vollkommen Sinnloses investieren, das noch dazu von so kurzer Dauer war? Das Rätsel könnte durch eine These gelöst werden, die Bill Hamilton von der Universität Oxford im Jahr 2000, wenige Monate vor seinem Tod, aufstellte. Die aufwendige Herbstfärbung der Laubbäume wäre demnach ein sogenanntes «ehrliches Signal», mit dem der Baum gegenüber Blattläusen Stärke demonstriert. Solche Signale heißen «ehrliche Signale», weil sie offensichtlich erhebliche Anstrengungen voraussetzen.

Haben Sie schon einmal einen dieser Filme gesehen, wo Gazellen beim Anblick eines Leoparden wie aufgezogen auf der Stelle hüpfen, statt sofort zu fliehen? Auf den ersten Blick scheint ihr Verhalten vollkommen sinnlos und reine Energieverschwendung. Doch die Gazellen wollen dem Löwen damit etwas sagen: «Guck mal, wie stark und kräftig ich bin, wenn du mich jagst, vergeudest du nur unnütz Energie.» Es könnte also sein, dass die Bäume mit ihrer prächtigen Färbung Stärke und Kraft signalisieren und die Blattläuse, die im Herbst besonders wanderfreudig sind, animieren wollen, sich ein schwächeres Opfer zu suchen. Dann wäre es auch kein Zufall, dass gerade der besonders blattlausanfällige Ahorn ein außergewöhnlich prachtvolles Herbstkleid trägt. Ähnliche «ehrliche» Signale sind auch das Hinterteil der Paviane oder die ach so menschliche Zurschaustellung von Statussymbolen. Beides wäre völlig unverständlich, wenn es nicht eigentlich um eine Demonstration der Stärke ginge. Und laut dem amerikanischen Physiologen und Evolutionsbiologen Jared Diamond zählen sogar hochriskante menschliche Verhaltensweisen wie das Bungee-Jumping zu solchen Signalen.

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