Das gefallene Imperium 8: Auf Leben und Tod

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Aus der Reihe: Das gefallene Imperium #8
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3

Sofort nach der Besprechung projizierte sich das Abbild Ad’""banas zurück auf ihr Schiff. Sie verharrte für eine Sekunde. Die Interaktion mit organischen Lebewesen – speziell den Menschen – laugte sie immer irgendwie aus; er ermüdete sie regelrecht.

Sie stutzte. Etwas stimmte mit Bernadette nicht. Der Geist der menschlichen Frau war aufgewühlt, um nicht zu sagen, von tiefer Gram erfüllt. Bernadette befand sich in ihrem Quartier. Ad’""bana projizierte sich augenblicklich dorthin und war überrascht, Bernadette dort nicht allein vorzufinden. Eine Frau in der Legioniärsunfiorm des Freien Systems Dentano stand ihr gegenüber. Bernadette weinte und die Offizierin versuchte, sie zu trösten.

Ad’""bana war verärgert. Zum einen, weil sie die Legionärin an Bord ihres Schiffes nicht gespürt hatte. Sie hätte sie eigentlich sofort wahrnehmen müssen, aber Bernadettes Gefühle hatten alles andere überschattet. Zum anderen erdreistete sich die Frau, Bernadette trösten zu wollen. Dieses Privileg oblag allein ihr persönlich. Ein Gefühl kroch ihre Synapsen hoch, das sie zunächst nicht einzuordnen wusste. War das Eifersucht? Vermutlich. Es handelte sich um eine verstörende Gefühlsregung.

Ad’""bana trat näher. Bernadette erhob sich. Ihre Wangen glühten und die Augen waren blutunterlaufen. »Ad’""bana, das ist Colonel Amanda Carter von den 2. Dentano-Füsilieren.«

Die Frau in der Offiziersuniform der Füsiliere warf ihr einen wachsamen Blick zu, ließ sich aber dazu herab, Ad’""bana mit einem kurzen Kopfnicken zu grüßen. Sie traute ihr nicht, das war offensichtlich. Aber darauf gab das Schwarmschiff nichts. Ein Teil ihres Bewusstseins war eher von der eigenen Gefühlsaufwallung fasziniert. Menschliche Empfindungen waren ihr noch sehr fremd. Erst seit der Verbindung mit Bernadette hatte sie überhaupt Zugang dazu, und das auch eher unfreiwillig. Die Gefühle, die sie manchmal zu überwältigen drohten, waren eine Art Nebeneffekt, mit dem sie nun lernen musste umzugehen.

Eifersucht war faszinierend, aber auch enorm ablenkend. Sie schob die Emotion entschlossen beiseite.

Sie musterte die Offizierin der Füsiliere mit starrer, beinahe schon versteinerter Miene.

Diese verstand den unausgesprochenen, nichtsdestoweniger sehr deutlichen Wink und räusperte sich. »Commodore, ich darf mich dann verabschieden.«

Bernadette erhob sich. »Bitte, Sie müssen noch nicht gehen.«

Carter lächelte verhalten, doch ihr Blick zuckte in Ad’""banas Richtung. Das Schwarmschiff bemerkte, dass das Lächeln Carters starr und aufgesetzt wirkte.

»Ich fürchte, ich habe noch eine Menge zu tun. Wir brechen bald wieder zur Front auf.« Carter streckte die Hand aus und berührte Bernadette sanft an der Schulter. »Noch einmal … mein herzlichstes Beileid! Er war ein guter Junge. Wir werden ihn schmerzlich vermissen.«

Bernadette schluchzte, brachte dadurch kein Wort heraus. Die Trauer, die über die geistige Verbindung in Ad’""banas Verstand eindrang, drohte sie wegzuspülen. Es war beinahe mehr, als das Schwarmschiff zu ertragen bereit war.

Carter warf Bernadette einen letzten mitfühlenden Blick zu und stapfte an Ad’""bana vorbei, ohne diese auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Ad’""bana hatte sie bereits wieder vergessen, als Carter zur Tür hinaus war. Das Hologramm ging vor Bernadette in die Knie. Nur zu gern hätte Ad’""bana die Hand ausgestreckt und ihre Freundin berührt.

»Wer ist gestorben?«, fragte sie.

Bernadette sah auf. Ihre Wangen waren gerötet und die Augen blutunterlaufen. »Mein Sohn«, erwiderte sie unter zwei Schluchzern.

Ad’""bana legte den Kopf leicht zur Seite. »Dein Sohn? Ich wusste gar nicht, dass du einen Sohn hast.« Das Hologramm runzelte die Stirn. »Ich sollte doch eigentlich alles über dich wissen.«

Bernadette lächelte nachsichtig. »Ich habe dafür gesorgt, dass keine Informationen über ihn unsere geistige Verbindung passieren. Die Erinnerungen an ihn gehören mir allein.«

Ad’""bana wurde für einen Moment zornig. Wie konnte Bernadette es wagen, etwas vor ihr geheim zu halten? Das tat sie schließlich auch nicht.

Doch ein Blick in Bernadettes von Trauer und Schmerz malträtiertes Gesicht ließ Ad’""bana weich werden. Wortlos bat sie um eine weitere Erklärung.

Bernadette verstand – und seufzte. »Sein Vater und ich haben uns schon vor Jahren getrennt. Lange bevor Dentano von der Dornhill-Allianz angegriffen wurde. Für mich zählte in erster Linie mein Dienst. Da war wenig Platz für eine Familie. Ich fürchte, dadurch haben wir uns entfremdet. Es sind – ich glaube – gute fünf Jahre vergangen, seit ich zum letzten Mal mit meinem Sohn gesprochen habe.« Sie warf einen verzweifelten Blick zur Decke. »Fünf Jahre, mein Gott! Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Sie schluchzte abermals. »Nun ist es zu spät.« Sie wischte sich einen Teil der Tränen ab und sah Ad’""bana in die Augen. »Er meldete sich freiwillig zum Militär. Als Dentano von den Hinrady überfallen wurde, hatte er gerade seine Grundausbildung beendet und war zu den 2. Füsilieren versetzt worden. Er fiel, als die Füsiliere eine Landezone gegen einen Hinradyangriff verteidigten.«

Bernadette vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Es wäre noch so viel zu sagen. Aber dazu werde ich nie die Gelegenheit erhalten.«

»Das tut mir sehr leid«, brachte Ad’""bana heraus. Im selben Moment erkannte sie, wie leer die Phrase im Grunde klang. Wie hätte es ihr leidtun können? Sie wusste nichts von Dingen wie Trauer, Leid und Verlust. Sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, einen geliebten Menschen nie wiederzusehen. Diese Emotionen befanden sich jenseits ihres Begriffsvermögens.

Bernadette sah auf. In ihren Augen schimmerte die Erkenntnis, dass Ad’""bana log. Sie spürte ganz genau, dass das Schwarmschiff nicht wusste – nicht wissen konnte –, was Trauer für einen Menschen wirklich bedeutete.

Natürlich hatte Ad’""bana in den letzten Schlachten auf ihre eigenen Artgenossen geschossen und sogar bei der Zerstörung einiger geholfen. Dennoch verstand ein Schwarmschiff unter Trauer nicht dasselbe wie ein Mensch oder auch ein Drizil. Sie waren für den Krieg gezüchtet worden und sie verstanden den Tod als notwendigen Teil ihrer Existenz.

Über die geistige Verbindung schimmerte so etwas wie Verständnis durch. Ein Entgegenkommen Bernadettes, das beinahe wieder Ad’""banas Zorn erregte. Nicht an derselben Gefühlspalette Anteil nehmen zu können, wie ihre Gefährtin, frustrierte sie.

Über Bernadettes Wange kullerte eine Träne. Ad’""bana streckte einen holografischen Finger aus, als wolle sie die Träne darauf balancieren lassen. Erwartungsgemäß rollte der Tropfen durch den nur projizierten Finger hindurch und rann schließlich von Bernadettes Kinn. Er benetzte ihre ansonsten makellose Uniform.

Erneut legte Ad’""bana den Kopf auf die Seite. »Ich wünschte, ich könnte das nachvollziehen.«

»Was meinst du?«

»Der Grund, aus dem Menschen weinen. Keine andere Spezies, der ich je begegnet bin, hat diese Fähigkeit. Und ich weiß nicht, welchem Zweck sie dient.«

»Es ist ein Ausdruck unserer großen Trauer, unseres Schmerzes … und manchmal unserer Freude.«

»Trauer und Freude?!«, sinnierte Ad’""bana vor sich hin. »Und beides drückt ihr mit Tränen aus? Emotionen, die eigentlich so weit auseinanderliegen?«

»Sie liegen vielleicht nicht so weit auseinander, wie du denkst.«

»Auch das verstehe ich nicht.«

»Nun, das … ist schwer zu erklären, jemandem …«, stotterte Bernadette.

»… der nicht weiß, was menschliche Trauer ist?«, vollendete Ad’""bana den Satz. »Ich kenne Trauer. Ich habe eine meiner Schwestern getötet. Dennoch käme ich nie auf den Gedanken, um sie zu weinen. Selbst wenn ich dazu in der Lage wäre.«

Bernadette beugte sich zu ihrem Nachtisch, öffnete die Schublade und holte ein Foto heraus. Es zeigte einen schneidigen, jungen Offizier, der neben einem Mann stand, bei dem es sich um dessen Vater handeln musste.

»Mein Exmann schickte mir dieses Foto, nachdem unser Sohn die Militärakademie abgeschlossen hatte. Ich bin sehr dankbar dafür. Es ist eines der wenigen Dinge, die mir von ihm geblieben sind. Vielleicht ist das einer der Gründe, aus dem mich sein Tod derart hart trifft.«

Ad’""bana betrachtete das Foto eingehend. Das Gesicht des jungen Offiziers zeigte ein strahlendes Lächeln. »Er sieht glücklich aus.«

»Ich hoffe, das war er.« Bernadette streichelte sanft über die altertümliche Fotografie. Man hatte sie in einem Verfahren aufgenommen, das schon seit gut fünfhundert Jahren überholt war. Dennoch machte Bernadette den Anschein, als handele es sich um ihren größten Schatz.

Die ehemalige Commodore seufzte. »Ich kann dir deine Fragen nicht ausreichend beantworten, Ad’""bana. Man kann jemandem nicht Trauer und Verlust erklären, der noch nie einen Sohn oder ein anderes geliebtes Wesen verloren hat.« Sie hob den Blick und musterte Ad’""bana eindringlich. »Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich wäre jetzt einfach gern allein.«

Ad’""bana nickte. Ihr Hologramm erhob sich wortlos und schlenderte aus dem Quartier. Es war nicht notwendig, aber aus Höflichkeit benutzte sie die Tür. Als diese sich hinter ihr schloss, vernahm sie erneut Bernadettes Schluchzen. Und zum ersten Mal, seit sie sich mit ihrer Gefährtin verbunden hatte, fühlte sie sich ausgeschlossen.

Carlo Rix fand Taran Stuullonor in der Aussichtslounge der Raumstation, die sich über dem Nordpol von Perseus befand. Der ehemalige Legionsgeneral blieb in respektvollem Abstand stehen und wartete geduldig darauf, von dem Drizilclanführer wahrgenommen zu werden.

Nach einer gefühlten Ewigkeit – es konnten in Wahrheit jedoch nur wenige Minuten gewesen sein – wandte sich Taran halb um und nickte seinem alten Freund über die Schulter zu.

 

Carlo trat langsam näher, bis er sich mit Taran auf gleicher Höhe befand. Dieser starrte weiterhin verdrossen ins All. Carlo folgte dessen Blick. Weit entfernt, eigentlich nur als gelegentlich aufblitzende Lichtreflexe erkennbar, kreuzten Hunderte, wenn nicht Tausende von Drizilschiffen.

Er wusste genau, was den Clanführer umtrieb. »Dein Volk hat viel überstanden. Es wird auch das überstehen.«

Taran seufzte auf erstaunlich menschliche Art und Weise. »Ich wünschte, ich könnte das glauben.«

»Das ist nicht euer erster Krieg.«

»Aber dieser hier ist anders. Mein Volk wird ausgelöscht.« Bitterkeit schwang in Tarans Stimme mit. Sein Blick glitt nach unten. »Ihr habt eine Entscheidung bezüglich meiner Leute getroffen.« Es handelte sich um eine Feststellung, keine Frage. Als Carlo nicht antwortete, sah ihn Taran direkt an. »Nicht wahr?«, bohrte er weiter.

»Wir werden euch nicht bitten, in diesem Krieg zu kämpfen.«

Ein leichter Hauch von Amüsement schwang bei Tarans Antwort in dessen Stimme mit. »Du meinst, ihr könnt uns nicht bitten. Ihr könnt uns nicht trauen. Niemand weiß, wie viele meines Volkes für den Einfluss der Nefraltiri empfänglich sind. Ihr könnt keine Schiffe an eurer Seite dulden, wenn ihr nicht abschätzen könnt, wie viele Besatzungsmitglieder sich in der Hitze der Schlacht plötzlich gegen euch wenden oder die Rückartung erleiden.«

Tarans erstaunlich akkurate Analyse überzeugte Carlo, dass sein alter Drizilfreund sich bereits geraume Zeit mit derlei Gedanken befasste und zum gleichen Schluss wie der Stab des Präsidenten gekommen war.

Sein erster Impuls bestand darin, die Grausamkeit dieser Aussage etwas abzuschwächen. Irgendetwas zu sagen, was die letztendliche Schlussfolgerung in einem anderen Licht erscheinen ließ. Aber er verwarf dies sofort wieder. Sein alter Freund hatte sich auf Carlos Betreiben hin gegen sein eigenes Volk gestellt. Er hatte einen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen, in der verzweifelten Hoffnung, das Vergießen von Drizilblut könnte vielleicht den Krieg beenden. Die Republik, die Menschen und nicht zuletzt Carlo verdankten ihm viel zu viel, als dass er solche Spielchen mit dem Clanführer spielen sollte. Er verdiente mehr. Und alles, was Carlo ihm derzeit geben konnte, war zumindest den Respekt der Ehrlichkeit.

»Nein«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Das können wir nicht.« Carlo seufzte und senkte von Scham ergriffen den Blick. »Was auch immer ihr gegen die Nefraltiri unternehmt und wo auch immer ihr gegen sie kämpft, es wird nicht an der Seite der Menschen sein. Das Risiko ist einfach zu groß. Wir könnten nicht gegen eure ehemaligen Meister bestehen und gleichzeitig abtrünnige Drizilschiffe bekämpfen. Unsere Streitkräfte würden zwischen beiden Mächten zerrieben werden. Das wäre unser Ende.«

Taran nickte abgehackt. »Ich verstehe.« Als er Carlos inneren Zwiespalt erkannte, legte der Clanführer ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Gräm dich nicht deswegen. Diese Entscheidung war absehbar. Und falls es dich tröstet, wir hätten an eurer Stelle nicht anders entschieden. Das ist nun mal die Natur dieses Krieges. Wenn Freunde sich nicht länger vertrauen können, müssen schmerzhafte Konsequenzen gezogen werden.«

Carlo sah auf. »Ich danke dir für dein Verständnis.« Er warf wieder einen Blick durch das Fenster. »Wie viele Schiffe sind es?«

Taran zögerte. »Hier? Ungefähr dreitausend Schiffe mit Zivilisten und etwas über fünfhundert Kriegsschiffe. In anderen Systemen insgesamt fast die dreifache Anzahl. Und es kommen immer noch mehr aus unserer Föderation. Die Flüchtlingskonvois scheinen nicht abzureißen. Aber die Nefraltiri und ihre Speichellecker zerstören jedes unserer Schiffe, dessen sie habhaft werden. Die Verluste – militärisch wie auch zivil – sind schrecklich hoch. Jedes verlorene Leben schmälert die Hoffnung, die Zivilisation unseres Volkes wieder aufbauen zu können.«

»Was werdet ihr jetzt tun?«

»Das wurde unter den Clans bereits lebhaft diskutiert. Eure Entscheidung nimmt uns quasi unsere ab.« Der Drizil stieß ein krächzendes Lachen aus. »Ich bin fast dankbar für diese Gnade.«

Carlo runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht ganz folgen.«

Taran drehte sich zu ihm um und musterte sein Gegenüber mit undeutbarer Miene. »Carlo, mein Freund, wir verlassen diesen Teil des Weltraums.«

»Wer wir?«

»Die Drizil. Mein Volk. Wir alle.«

Carlo benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, wovon der Drizil sprach. Er riss die Augen auf. »Das kann nicht dein Ernst sein!«

Taran schüttelte traurig den Kopf. »Ich wünschte, es wäre nicht so weit gekommen, aber es ist die einzige Wahl, die uns bleibt. Die Nefraltiri vernichten uns. Wir werden buchstäblich ausgelöscht. Ein Exodus ist die einzige Hoffnung, das Überleben meines Volkes zu sichern.«

Carlo schluckte. Allein die Vorstellung, ein ganzes Volk würde sich aufmachen, eine neue Heimat zu suchen, ließ ihn schwindeln. »Bist du sicher, dass du das wirklich willst?«

»Von wollen kann keine Rede sein.« Taran deutete durch das Fenster ins All. »Auf diesen Schiffen befinden sich Millionen Drizil. Aber genau wie du weiß ich nicht, wem dort zu trauen ist, sobald wir auf Nefraltiri treffen. Gut möglich, dass die eine Hälfte versucht, der anderen den Hals umzudrehen, sobald das erste Schwarmschiff auftaucht. Das kann ich nicht zulassen. Meine oberste Pflicht ist es, für das Wohlergehen meiner Leute zu sorgen. Und das bedeutet, wir werden so viel Distanz zwischen uns und die Nefraltiri bringen wie nur möglich und hoffen, dass wir ihnen nicht so wichtig sind, dass sie die Verfolgung aufnehmen. Sollte das geschehen, wird ein Genozid die Folge sein und die Drizil werden aus der Galaxis getilgt.« Taran schüttelte den Kopf. »Vielleicht haben wir das nicht anders verdient.«

»Das ist doch Unsinn!«, begehrte Carlo auf.

»Ist es das? Im Lauf unserer Geschichte haben wir anderen Völkern bereitwillig Tod und Vergessenheit gebracht. Warum sollten wir deren Schicksal nicht teilen? Wie sagt ihr Menschen? Das wäre eigentlich biblische Gerechtigkeit.«

»Ihr hattet keine Wahl. Die Nefraltiri übten Kontrolle über euch aus.«

»Eine recht armselige Entschuldigung für Massenmord.«

Darauf wusste Carlo keine Antwort und entschloss sich, das Thema zu wechseln. »Aber wo werdet ihr hingehen?«

»Ich weiß es nicht. Vermutlich wird die Reise lange dauern und sie wird uns in Teile des Weltraums führen, die noch nie ein Drizil – oder ein Mensch – erkundet hat. Und mit etwas Glück finden wir eine Welt, auf der wir noch einmal von vorne anfangen und in Frieden leben können.«

»Das wünsche ich mir für euch«, erwiderte Carlo ergriffen. »Wenn es jemand verdient hat, dann ihr.«

»Dennoch gefällt es mir nicht, dass ihr euch dieser Bedrohung allein stellen müsst. Ich würde bei diesem Kampf nur zu gern an eurer Seite stehen.«

»Ich befürchte, ihr werdet uns auch sehr fehlen.«

»Ihr schafft es auch ohne uns.«

»Du klingst sehr sicher.«

Abermals schwang Humor in der Stimme des Clanführers mit. »Ihr Menschen habt so eine Art an euch … Immer wenn man meint, ihr wärt am Ende, dann habt ihr die einzigartige Fähigkeit, all eure Differenzen auf Eis zu legen und euch zusammenzuraufen. Dann bildet ihr eine Macht, die kaum aufzuhalten ist. Auch wir Drizil dachten einst, ihr wärt so gut wie besiegt.«

»Aber damals hatten wir eure Hilfe.«

»Und jetzt habt ihr Ad’""bana.« Der Drizil beugte sich vor und stützte sich schwer auf das Geländer vor ihm. »Verliere nicht die Hoffnung, Carlo. Das passt nicht zu dir. Immerhin bist du der Mensch, der den Drizilkrieg gewonnen hat.«

Carlo schnaubte. »Soweit ich mich erinnere, waren auch noch ein paar andere dabei.«

Taran nickte. »Armeen gedenkt man, aber an Anführer erinnert man sich.«

Carlo fühlte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. »Wann brecht ihr auf?«, fragte er, um nicht auf die Worte Tarans eingehen zu müssen.

»Wir warten so lange wie möglich. Wie gesagt, es kommen immer noch Flüchtlingsschiffe aus den Ruinen der Föderation. Aber sie werden spärlicher. Die ausgesandten Tötungskommandos der Hinrady sind sehr effektiv, wie ich leider zugeben muss. Aber wir lassen niemanden zurück. Jedes Leben ist wichtig. Jedes Leben zählt.«

Carlo wandte sich seinem alten Freund zur Gänze zu. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als deinem Volk und dir alles Gute zu wünschen.«

»Das wünsche ich dir auch, Carlo. Und vergiss nicht: Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung. Dieser Krieg ist noch nicht vorbei – auch wenn die Nefraltiri das gern glauben würden. Immer wenn die Menschen an den Rand des Abgrunds gedrückt werden, immer dann seid ihr am besten – und am gefährlichsten. Und ich spüre, dass dies eine Lektion ist, die nun auch die Nefraltiri werden lernen müssen.«

4

Master Sergeant Tian Chung wusste gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Mit verkniffener Miene machte er auf seinem Pad Häkchen an der richtigen Stelle, während am laufenden Band Paletten mit Munition, Waffen, medizinischer Ausrüstung und Rüstungen an ihm vorüberfuhren und in den gewaltigen Bauch des Transporters geladen wurden.

Er rieb sich mit der flachen Hand über die inzwischen schweißnasse Stirn. Er hasste das. Viel lieber wäre er jetzt mit dem Rest der 7. Legion auf Sultanet und würde daran arbeiten, die Einheit wieder auf Sollstärke zu bekommen. Stattdessen stand er hier auf Perseus und musste sich als Logistikoffizier versuchen.

Er zuckte zusammen, als ihm jemand wuchtig auf die Schulter schlug. Tian wirbelte herum mit einem derben Fluch auf den Lippen, bereit, denjenigen zusammenzustauchen, der ihn auf diese Weise in seiner Arbeit störte.

Die von ihm zurechtgelegten Worte blieben ungesagt. Stattdessen verzogen sich seine Lippen zu einem erfreuten Lächeln. »Major Rinaldi«, begrüßte er seinen kommandierenden Offizier. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch auf Perseus sind.«

Der hochgewachsene Legionsoffizier nickte zur Begrüßung und deutete mit einem Daumen lapidar hinter sich. Tian streckte den Hals und spähte in die angegebene Richtung. Er zog einen Schmollmund. Neben einem Personentransporter warteten ungefähr zweihundert Männer und Frauen darauf, wie Sardinen eingepfercht und verschifft zu werden. Neben jedem stand ein Koffer, in manchen Fällen nur ein Seesack. Einige der angetretenen Personen besaßen offenbar einen militärischen Hintergrund – auch wenn dieser unter Umständen schon eine Weile in der Vergangenheit lag.

Tian wandte sich mit mitfühlender Miene seinem kommandierenden Offizier zu. »Frischfleisch?«

Rinaldi nickte. »Ich fliege noch heute mit ihnen zurück nach Sultanet, um die schlimmsten Lücken innerhalb der Kohorte zu füllen.«

Tian war vom Wert des menschlichen Nachschubmaterials nicht überzeugt. »Ist was Brauchbares dabei?«

Bevor Rinaldi antwortete, wandte er sich zu den wartenden Rekruten um. Er rieb sich unschlüssig über das gut rasierte Kinn. »Ich bin mir nicht sicher. Ein paar ehemalige Soldaten sind dabei, die sich jetzt wieder freiwillig gemeldet haben. Mit denen lässt sich was anfangen. Zumindest müssen wir bei ihnen nicht bei null beginnen. Was die anderen betrifft … ich weiß nicht recht. Es sind viele dabei, die noch nie eine Waffe in der Hand hatten. Und wir müssen sie jetzt im Schnellverfahren ausbilden und an die Front werfen.«

Tian verzog das Gesicht. »Kanonenfutter.«

Rinaldi musterte seinen Unteroffizier missbilligend. »Das ist eine unschöne, wenn auch leider zutreffende Bemerkung.« Der Major seufzte. »Wie dem auch sei, wir brauchen jede Hand, die in der Lage ist, eine Waffe zu halten.«

Tian neigte leicht den Kopf zur Seite. »Die eigentliche Frage dabei ist, was nützen uns schlecht ausgebildete Truppen gegen die Jackury oder – Gott bewahre! – die Hinrady? Die werden einfach über sie hinwegrennen.«

»Es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern. Ich denke, ich werde mit der Ausbildung schon während des Flugs beginnen, damit ich die vorhandene Zeit bestmöglich nutzen kann. Das gibt ihnen die Möglichkeit, wenigstens schon mal die Grundlagen und die Funktionsweise einer Rüstung zu erlernen.«

»Neue Rekruten ausbilden«, erwiderte Tian spöttisch. »Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen.«

Rinaldis Blick glitt an Tian vorbei. »Ihr Job ist aber auch nicht gerade das, was Sie sich vorgestellt haben, als Sie sich meldeten«, entgegnete er leicht spöttisch. »Oder täusche ich mich?«

 

»Sicher nicht.« Tian wandte sich der nächsten Fuhre zu, die gerade dabei war, verladen zu werden.

Rinaldi schielte auf das Pad. »Ist wenigstens alles dabei?«

Tian zögerte. Er wusste, was er zu sagen hatte, würde seinem Vorgesetzten nicht gefallen. Rinaldi bemerkte das Verhalten des Sergeants augenblicklich. »Was?«, wollte er wissen. Dabei stellte er die Frage harscher als eigentlich beabsichtigt.

»Es fehlen fünf Paletten Granaten – drei mit Schall-, zwei mit Splittergranaten –, außerdem drei Paletten Nadelgewehre für Kampflegionäre und eine Palette mit schweren Nadelwerfern.« Er leckte sich über die Lippen. »Des Weiteren vermute ich, es wird auch eine Palette mit Waffen für die Sturmlegionäre fehlen.«

Rinaldi hörte sich den Bericht schweigend an, wobei sich seine Augenbrauen immer weiter Richtung Nasenwurzel bewegten. »Wie kommt das? Wir brauchen diese Waffen, wenn die Siebte vor dem nächsten Einsatz wieder volle Stärke erlangen soll.«

»Damit rennen Sie beim mir offene Türen ein. Das Problem ist der hiesige Logistikoffizier. Er meint, die Waffen wären umgeleitet worden.«

»An wen?«

»Eine der Schattenlegionen. An die Dritte.«

Rinaldi stutzte. Die 3. Schattenlegion hatte auf Risena furchtbare Verluste erlitten, als sie eine große Anzahl Zivilisten und, nicht zu vergessen, auch noch General Finn Delgado vom Planeten geholt hatte. Diese Leistung nötigte einem schon Respekt ab. Dennoch durfte sich auch eine Schattenlegion nicht erlauben, dringend benötigte Waffen einfach zu konfiszieren. Schließlich saßen sie alle im selben Boot.

»Wo ist der Kerl?«, fragte Rinaldi.

Tian deutete mit einem Kopfnicken auf das nächste Lagerhaus. Der Major drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte darauf zu. Tian wurde davon so überrascht, dass er für einen Augenblick einfach nur starr in der Landschaft stand. Dann aber bedeutete er der Verlademannschaft, sie sollte eine Pause machen, und eilte dem Offizier hinterher. Das wollte er auf keinen Fall verpassen.

Als die beiden Legionäre die Lagerhalle betraten, blieben sie andächtig stehen. Das Gebäude wirkte bereits von außen riesig. Die gewaltigen Ausmaße wurden einem aber erst richtig bewusst, wenn man im Inneren stand. Hier reihten sich in endlos scheinenden Reihen Container und Paletten neben- und übereinander. Es handelte sich um das reinste Schlaraffenland für jeden Frontlegionär. An diesem Ort lagerten genügend Güter, um ein komplettes Korps, bestehend aus zwölf Legionen, bequem über mindestens ein Jahr zu versorgen und im nahezu ununterbrochenen Kampfeinsatz zu halten.

Rinaldi setzte sich erneut in Bewegung und hielt auf einen Captain zu, der hier offenbar das Sagen hatte. »Ich muss Sie einen Augenblick sprechen.« Der Captain drehte sich langsam zu Rinaldi um. Dass er es mit einem ranghöheren Offizier zu tun hatte, schien ihn nicht im Mindesten zu tangieren. Tian kannte diese Art Offizier. Der Mann war Gott in seiner Domäne, zumindest dem eigenen Dafürhalten nach. Tian grinste spöttisch. Das dürfte interessant werden.

»Was kann ich für Sie tun, Major …?« Der Mann ließ die Frage vielsagend ausklingen.

»Rinaldi, 7. Legion«, stellte sich der Major höflicher vor, als das Auftreten des Logistikoffiziers eigentlich erlaubt hätte.

Der Captain hob das Haupt. »Ah ja, die Siebte. Ich weiß, warum Sie hier sind. Ihre ausstehende Ware ist nicht verfügbar.« Der Mann machte sich scheinbar eine Notiz auf seinem Pad und wollte sich wieder umdrehen.

Tian runzelte die Stirn. Ihm fiel auf, dass der Captain gar nichts notierte, sondern die Geste nur dazu nutzte, sich von Rinaldi abzuwenden. Und noch etwas fiel ihm auf: Der Logistikoffizier schwitzte mit einem Mal. Auf diese Weise hatte er nicht reagiert, als sich Tian selbst mit ihm wegen der fehlenden Waffen auseinandergesetzt hatte.

Rinaldi packte den Mann am Arm und zwang diesen, auf der Stelle zu verharren. Der Kopf des Captains zuckte hoch. »Nicht anfassen, Sir! Sie vergessen sich.«

Rinaldi funkelte den Mann an. »Ich habe noch gar nicht damit begonnen, mich zu vergessen«, gab er zurück, ließ den Mann aber los. »Zunächst mal, nehmen Sie Haltung an und salutieren Sie, wenn ein Offizier mit Ihnen spricht, der einen höheren Rang bekleidet! Haben Sie das verstanden? Und die Höflichkeit gebietet, dass Sie sich auch vorstellen.«

Der Captain zögerte. Er war es offenbar nicht gewohnt, dass man auf diese Weise mit ihm sprach. Schließlich entschied er, dass es der Sache nicht dienlich war, sich mit dem Major einer Fronteinheit anzulegen. Er wandte sich Rinaldi zur Gänze zu, nahm Haltung an und seine rechte Hand wanderte zum traditionellen Salutgruß an die Schläfe. »Captain Antonio Rohas, von der 15. Logistikdivision.«

Rinaldi nickte halbwegs zufrieden und trat einen Schritt zurück. »Captain Rohas, als Nächstes werden Sie meinem Unteroffizier das vollständige Verzeichnis der für uns bestimmten Nachschubgüter zukommen lassen und dafür sorgen, dass alles schnellstmöglich verschifft wird.«

»Tut mir leid, das ist nicht machbar. Die Güter sind – wie schon erwähnt – nicht verfügbar. Die 3. Schattenlegion hat Anspruch darauf angemeldet.«

»Auf wessen Anordnung?«

»Lieutenant Colonel Samuel Thurnball, der Kommandant der Dritten.«

»Ich weiß sehr gut, wer Thurnball ist«, giftete Rinaldi zurück. »Die Frage ist, wie der Colonel dazu kommt, meine Ausrüstung zu beschlagnahmen?«

»Da bin ich überfragt … Sir.« Das letzte Wort kam leicht verspätet und mit spöttischem Unterton. Rinaldis Miene versteinerte. Rohas hatte wirklich keine Ahnung davon, wann es besser war, sich zurückzuhalten. Dessen große Klappe würde ihm noch zum Verhängnis werden.

Rinaldis Blick glitt an dem Logistikoffizier vorbei und blieb auf einer Reihe von Containern und Paletten hängen. Er drängte sich an Rohas vorbei und hielt schnurstracks auf die Waffen zu. Der Logistikoffizier beeilte sich, ihm hinterherzukommen. Dessen Nervosität nahm zu mit jeder Sekunde, die die Auseinandersetzung anhielt. Tian behielt den Mann genau im Auge. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Rinaldi blieb vor einer der Paletten stehen, beugte sich vor und las die Kennzeichnung sowie den angehefteten Frachtbrief. Er schlug mit dem Handrücken dagegen. »Na also, da haben wir es doch! Das hier sind zum Beispiel unsere Granaten. Dann sind die fehlenden Gewehre und die Munition auch nicht weit. Darauf möchte ich wetten.«

»Major, das ist in höchstem Maße ungehörig. Wie ich schon sagte …«

»Was Sie sagten, interessiert mich kein bisschen«, entgegnete Rinaldi. »Ich gehe hier keinesfalls ohne meine Waffen wieder weg.«

»Ihre Waffen sind nicht hier.«

Rinaldi spie einen Schwall Luft zwischen den Vorderzähnen aus. »Was reden Sie denn da? Ich stehe direkt davor.«

»Physisch mögen sie tatsächlich hier sein, aber im Lagerbestand sind sie bereits abgebucht und der 3. Schattenlegion zugeteilt. Ich bedaure das wirklich sehr, aber da ist nichts zu machen.«

Tian unterdrückte nur mit Mühe einen abfälligen Laut. Das Einzige, was der Kerl wirklich bereute, war, dass Rinaldi derart vehement auf der Lieferung der zugesagten Waffen bestand.

Während Rinaldi sich lautstark mit dem Logistikoffizier auseinandersetzte und dieser dadurch bereits leichte Anzeichen einer Psychose aufwies, nahm sich Tian Zeit, die Paletten einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, hier stimmte etwas nicht. Und je länger der Disput andauerte, desto lauter wurde eine innere Stimme in seinem Hirn, die ihn mit Vehemenz in diese Richtung trieb.

Zunächst einmal war es äußerst unüblich, dass immer noch schriftliche Materialanforderungen an die entsprechenden Paletten angehängt wurden. Normalerweise wäre das alles digital vonstattengegangen. Schriftliches wurde nur vorgenommen, wenn die entsprechende Logistikabteilung unter enormem Zeitdruck stand.