Das gefallene Imperium 8: Auf Leben und Tod

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Aus der Reihe: Das gefallene Imperium #8
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»Die Nefraltiri sterben«, verkündete Daniel rundheraus. »Es gibt im Höchstfall vielleicht noch zweihundert von ihnen. Und sie haben keine Königin mehr. Die letzte verstarb vor über vierhundert Jahren. Seither sind sie nicht mehr in der Lage, sich fortzupflanzen. Die Spezies steht vor der Ausrottung.«

»Was hat das mit uns zu tun?«

»Nach Ende ihres Bürgerkrieges, als die Nefraltiri uns verließen, ließen sie auch einige Brutkammern zurück. Sie dachten, alle wären im Laufe der Äonen zerstört worden. Aber vor relativ kurzer Zeit empfingen sie ein Notsignal einer dieser Kammern. Und in ihrem Inneren befinden sich nicht nur zahlreiche Embryonen ihrer Rasse, sondern auch die Larve einer Königin. Nun sind sie gekommen, um diese Brutkammer zu finden.«

»Und dazu müssen sie unsere Planeten verwüsten?«, erwiderte Carlo zweifelnd.

»Sie wissen zwar, dass sich die Brutkammer auf einer menschlichen Welt befindet, aber nicht, auf welcher. Ihre Invasion dient nur einem einzigen Zweck: Sie wollen diese Kammer und die Königinnenlarve darin finden. Sie sind besessen davon. Nichts anderes hat in ihrem Denken Platz.«

»Und dafür sind sie bereit, uns alle zu vernichten?«

»Die Menschen interessieren sie gar nicht. Wir sind ihnen schlicht im Weg. Und die Drizil? Die Nefraltiri betrachten diese als eidbrüchig. Deren Vernichtung soll die Bestrafung sein.«

Carlos Stirnfalten zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. »Die Nefraltiri haben die Drizil genauso im Stich gelassen wie die Menschheit. Warum sollte das ein Eidbruch sein?«

»Die Nefraltiri dachten, die Drizil könnten ohne ihre Meister nicht überleben. Dass sie immer noch existieren und sogar gedeihen, genügt den Nefraltiri. Das sehen sie als Eidbruch an.«

»Sie meinen, die Drizil sind eines Verbrechens schuldig, weil sie sich weigerten unterzugehen?«

Daniel neigte entschuldigend den Kopf. »So denken die Nefraltiri einfach.«

»Erzählen Sie mir etwas über diese Obelisken. Was wissen Sie darüber?«

Daniel Red Cloud zuckte die Achseln. »Ich vermute, über die wissen Sie mehr als ich.« Der Legionär leckte sich über die Lippen. »Die Nefraltiri haben ihre geistigen Kräfte eingesetzt, um den Riss überhaupt entstehen zu lassen. Sie ahnen gar nicht, wie viel Kraft dazu notwendig war. Mehr als fünfzig von ihnen sind dabei verreckt. Aber es gelang ihnen, den Riss lange genug zu öffnen, um die ersten Vorauskommandos hindurchzuschicken. Sie bauten die Obelisken, um mithilfe geothermischer Energie die Energiestützen aufzubauen und den Riss weiter zu öffnen beziehungsweise zu stabilisieren. Nach der Zerstörung des Obelisken auf Risena ist es damit allerdings vorbei. Der Riss ist nicht mehr stark genug, um den Übergang eines Schwarmschiffes zu ermöglichen, wohl aber von Hinradyeinheiten. Die Nefraltiri waren überaus zornig, als der Obelisk vernichtet wurde. Sie suchen derzeit nach einem geeigneten Planeten, um einen neuen zu bauen.«

Carlo schüttelte den Kopf und betrachtete sein Gegenüber von unten herab. »Das ist aber noch nicht alles.«

»Nein«, gab Daniel nach kurzem Zögern zu. »Der Riss, sollte er denn wieder voll funktionsfähig werden, wird von drei Stellen gespeist: zweien auf dieser Seite, nämlich den Obelisken, und einem auf der anderen Seite. Über hundert Nefraltiri auf der anderen Seite sind rund um die Uhr damit beschäftigt, den Riss offen zu halten. Sie tun nichts anderes und sie werden auch nichts anderes tun, bis die Mission ihrer Streitkräfte von Erfolg gekrönt ist. Die gesamte Schwarmschiff-Armada, weitere sechzig dieser kampfstarken Kriegsschiffe, wartet darauf, dass sich der Riss wieder unter Zuhilfenahme eines zweiten Obelisken stabilisiert, damit sie übertreten und die Brutkammer ausfindig machen können.«

Carlo dachte angestrengt über das Gesagte nach. Schließlich räusperte er sich. »Wir haben die Brutkammer«, erklärte er dem völlig verdutzt wirkenden Daniel Red Cloud. »Wir fanden sie vor einigen Jahren. Daher haben wir uns bereits einen Reim auf manches gemacht, was Sie uns jetzt bestätigten.«

Daniel musterte den ehemaligen Legionsgeneral aus großen Augen. »Darf ich fragen, was Sie mit diesem Fund bezwecken?«

Carlo schnaubte. »Ich nehme an, den Nefraltiri die Larve ihrer Königin auszuhändigen, ist keine Option.«

»Sicher nicht«, stimmte Daniel zu. »Sie würden euch vernichten. Schon allein aus Prinzip.«

Carlo nickte. »Dann besteht unsere größte Hoffnung darin, den Nefraltiri die Brutkammer vorzuenthalten. Wir müssen einfach einen Weg finden, sie auf andere Weise aufzuhalten.« Er erhob sich langsam. Daniel tat es ihm gleich. Carlo fixierte ihn mit seinem Blick. »Sie haben mir einiges zum Nachdenken gegeben, Daniel.«

»Sie können die Nefraltiri nicht aufhalten«, entgegnete Daniel. »Das muss Ihnen klar sein. Selbst mit Ad’""banas Hilfe dürfte das nicht gelingen.«

»Wir werden sehen. Noch sind wir nicht geschlagen.«

»Die Nefraltiri werden die Brutkammer früher oder später finden«, hielt Daniel dagegen. »Eher früher. Darf ich fragen, wo sie sich befindet?«

Carlo zögerte einen Moment lang. Doch er entspannte sich wieder. »Auf Samadir, einem kleinen Planeten zwischen der Kooperative und der KdS.«

Daniel wirkte mit einem Mal verwirrt. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mir diese Information anvertrauen.«

Carlo zuckte die Achseln. »Das stellt nur ein geringes Risiko dar. Sie haben keine Möglichkeit, diese Information gegen uns zu verwenden. Ich meine, falls Sie insgeheim doch für die Nefraltiri arbeiten.«

Carlo wandte sich zur Tür um und wollte gehen, doch Daniels Stimme hielt ihn noch zurück. »Seien Sie gewarnt, General«, erklärte er, Carlos alten Rang benutzend. »Für Sie, die Menschen und die Drizil mag das ein Krieg sein. Aber für die Nefraltiri ist dies genauso wenig ein Krieg, wie die Auseinandersetzung zwischen Kammerjäger und Küchenschabe einer ist. Die Nefraltiri wollen euch auslöschen. Wenn ihr tatsächlich gewinnen wollt, müsst ihr die zuerst auslöschen.«

Carlo ließ den Gefangenen hinter sich. Die Legionäre sperrten die Tür ab, sobald er die Zelle verlassen hatte. Carlo kehrte zu Cest in den Beobachtungsraum zurück, wo der Wissenschaftler ihn bereits neugierig erwartete.

»Sie haben ihn belogen«, meinte dieser nicht ohne Sympathie in der Stimme. »Die Brutkammer befindet sich nicht auf Samadir, sondern auf der Erde.«

Carlo nickte und trat ans Fenster, von wo aus er Daniel erneut beobachten konnte. »Seine Herren sind Telepathen. Wir kennen zwar die Reichweite ihrer Fähigkeiten nicht, aber unser Freund hier wird eine Möglichkeit finden, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Sonst hätten sie ihn uns gar nicht erst geschickt.«

Cest machte eine verdrießliche Miene. »Sie glauben also nicht daran, dass dies wirklich Daniel ist.«

Carlo seufzte schwer. »Nein … nein, das glaube ich nicht. Er weiß viel zu viel. Und er kennt Ad’""banas Namen. Aber vor allem hat er immer davon gesprochen, dass die Nefraltiri – und ich zitiere – euch vernichten werden. Er sprach nie davon, dass sie uns vernichten würden. Was auch immer das für ein Ding da unten ist, es betrachtet sich nicht als der Menschheit zugehörig.«

»Ich hatte wirklich gehofft, dass er es ist.«

»Ich auch, Nicolas«, erwiderte Carlo traurig. »Ich auch.«

Nach einem Moment des Schweigens ergriff Cest erneut das Wort. »Sie verfolgen doch eine Absicht mit ihrer Lüge bezüglich Samadir. Oder täusche ich mich da?«

Carlos Miene verzerrte sich zu einer sarkastischen Grimasse. »In der Tat. Die Nefraltiri haben uns etwas mit dem Gesicht eines alten Freundes zurückgeschickt, in der Hoffnung, uns zu manipulieren. Ich finde, diesen Gefallen sollten wir erwidern.« Er wandte sich dem Professor zu. »Indem wir die Nefraltiri in eine Falle locken. Ich habe einen Plan.«

2

Die militärischen Entscheidungsträger der Republik hatten sich bereits versammelt, als Carlo Rix den persönlichen Besprechungssaal des Präsidenten erreichte.

Carlo hielt inne, um die Anwesenden der Reihe nach zu mustern und mit einem Blick in die Runde zu begrüßen. Wohin er auch sah, registrierte der alte General eine gewisse Erwartungshaltung. Carlo trat zwei Schritte vor und setzte sich auf den ihm vorbehaltenen Platz am Tisch. Er legte beide Hände mit der Handfläche nach unten auf die Platte und holte tief Luft. Er sah auf. Vor der Intensität seines Blickes schreckten die meisten jedoch zurück.

»Er ist es nicht«, beschied er.

Als hätten diese vier einfachen Worte einen Bann gebrochen, stießen die Anwesenden kollektiv die Luft aus, was ein Geräusch erzeugte, als würde jemand einen altertümlichen Blasebalg bedienen.

»Warum, glauben Sie, ist er hier?«, wollte Mason Ackland wissen.

Carlo neigte leicht den Kopf zur Seite, bevor er antwortete. »Ich denke, er kam nicht als Attentäter zu uns. Vermutlich eher als Spion. Er hat vieles von dem, was wir bereits vermuteten, aber bestätigt. Die Nefraltiri sterben – und sie sind verzweifelt. Sie suchen nach einer Möglichkeit, ihre zum Untergang verurteilte Rasse wiederzubeleben.«

»Und dazu benötigen Sie die Kammer, die die Archäologen auf der Erde ausgebuddelt haben«, vollendete René Castellano den Satz.

»In der Tat«, stimmte Carlo zu.

»Gibt es eine Möglichkeit, wie wir uns mit Ihnen verständigen können?«, wollte Flottenadmiral Corben Baker wissen. »Eine Möglichkeit, weiteres Blutvergießen zu vermeiden?«

Carlo schüttelte nachhaltig den Kopf. »Das steht außer Frage. Die Nefraltiri sehen uns nicht als jemanden gleichen Ranges an. Das Wesen in unserer Quarantänezelle deutete sogar an, dass die Nefraltiri uns im Prinzip gar nicht als vernunftbegabtes Leben wahrnehmen, sondern lediglich als Insekten, die man ohne Reue und Gefahr zertreten kann. Mit solchen Kreaturen sind Verhandlungen und die Hoffnung auf Frieden ausgeschlossen.«

 

»Er hat recht«, mischte sich plötzlich eine gesichtslose Stimme ein, die den ganzen Raum zu erfüllen schien. Wie aus heiterem Himmel tauchte neben Mason Ackland eine attraktive, wenn auch ernste Frau auf. Sie trug ihr Haar als Dutt und blickte streng in die Runde, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Aufgrund der Art ihres Auftauchens erschraken die meisten Anwesenden, bis auf Carlo und den Präsidenten selbst. Corben Baker, René Castellano sowie Finn Delgado versuchten allerdings, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Ad’""bana trug immer noch die Admiralsuniform, sehr zum Missfallen Bakers, der dies allerdings unkommentiert ließ.

Mason räusperte sich. »Ad’""bana ist auf meinen Wunsch hier«, sagte er völlig ruhig und unterband damit jegliches Aufbegehren seitens seines militärischen Stabes. »Aufgrund ihrer Taten bei Umnest und Risena hat sie sich das Recht verdient, hier gehört zu werden. Außerdem verfügt sie über eine einzigartige Perspektive. Immerhin kennt sie die Nefraltiri aus persönlichem Kontakt. Das kann kein lebendes Wesen unserer Galaxis für sich in Anspruch nehmen.«

»Auch wenn das schon eine Weile her ist«, entgegnete das Schwarmschiff verschmitzt.

Carlo nickte zur Begrüßung. »Willkommen in unserer illustren Runde! Wie geht es Commodore Ward?«

Ad’""banas Miene verlor von einer Sekunde zur nächsten alle Farbe. Carlo war gelinde gesagt beeindruckt, in welchem Umfang sie bereits in der Lage war, menschliche Gefühlsregungen zu simulieren. »Sie ist genesen. Die Verletzungen bei Risena waren weniger körperlicher als vielmehr seelischer Natur. Die geistige Verbindung, die Say’""tiai uns aufzwang, hat uns beide geschockt und tief verletzt.«

Carlo nickte, auch wenn er nicht einmal die Hälfte von dem verstand, was das Hologramm des Schwarmschiffes sagte.

»Ihr müsst davon ausgehen, dass die Meister immer einen Plan in der Hinterhand haben«, fuhr Ad’""bana fort. »Dabei ist vollkommen gleichgültig, ob sie euch ernst nehmen oder nicht. Aber der Mann in eurem Gewahrsam ist sicher nicht ohne Grund hier. Sie verfolgen damit eine ganz bestimmte Absicht.«

Mason Ackland dachte kurz nach und holte etwas aus einer Schublade des Tisches hervor. Ohne eine Erklärung warf er es in die Mitte der Arbeitsfläche. Es handelte sich um einen kleinen Gesteinsbrocken.

»Unsere Einsatztruppe im Risena-System fand das hier als Flöz unterhalb der planetaren Hauptstadt«, begann er. »Andere Einheiten brachten von anderen angegriffenen Welten ähnliche Fundstücke mit.«

Ad’""banas Hologramm trat näher. Sie wirkte durch und durch wie eine reale, tatsächlich existierende Frau – bis ihr Körper auf den Tisch traf und sie einfach hindurchglitt. Der Tisch teilte ihren Körper nun auf Höhe der Hüfte in zwei Teile. Ad’""bana beugte sich herab und betrachtete den Gesteinsbrocken eingehend.

»Spuren verschiedener Aminosäuren und etwa ein Anteil Silizium pro hundert Gramm«, gab sie schließlich bekannt.

Ad’""banas Fähigkeiten beeindruckten immer wieder. Sie hatte das Gestein mithilfe ihrer Sensoren analysiert, nur indem ihr Hologramm es betrachtet hatte, und das auch noch in Rekordzeit. Ad’""bana richtete sich auf und kehrte an die Seite des Präsidenten zurück. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das sind die Bausteine des Lebens – für Nefraltiri.«

Mason neigte bestätigend das Haupt. »Dieselbe Schlussfolgerung haben unsere Wissenschaftler gezogen. Auch wenn sie bedeutend länger dafür brauchten.«

»Und deren Hypothese lautet wie?«, wollte Baker wissen.

»Die Nefraltiri griffen bevorzugt Planeten an, auf denen es früher die Brutkammern ihres Volkes gab. Truppen im Feld berichteten nahezu übereinstimmend, dass die Hinradyeinheiten auf der Suche nach irgendetwas waren. Nun wissen wir, nach was. Aber zum Pech für die Nefraltiri wurden die meisten Brutkammern im Lauf der verstrichenen Zeitalter ihrer Abwesenheit zerstört. Die meisten vermutlich durch Umwelteinflüsse wie zum Beispiel tektonische Bewegungen der Planetenkruste. Da sich die Brutkammern alle unter der Erde befanden, wurden sie zerquetscht.« Mason deutete auf den Gesteinsbrocken. »Übrig blieb allein das. Blut und Gewebereste der toten Embryonen sickerten in die unteren Gesteinsschichten ein und wurden zu einem Teil des betreffenden Planeten. Unter anderen Umständen wäre das in höchstem Maße faszinierend.«

»Bis auf die Kammer, die sich auf der Erde befindet«, vollendete René Castellano die Hypothese.

Mason nickte. »So ist es. Unser Hauptaugenmerk muss nun darauf liegen, die Nefraltiri von der Erde abzulenken und auf ein Gebiet zu locken, das uns Vorteile verspricht und wo wir sie möglicherweise schlagen können.«

»Und wo sollte das sein?«, verlangte René zu erfahren. »Wie wir schmerzlich erfahren mussten, ist ihr Militär unserem deutlich überlegen.«

»Ihre Schwarmschiffe ja«, mischte Baker sich ein, »aber nicht die Hinradyschiffe. Mit denen könnten wir durchaus fertigwerden. Sie sind unseren Einheiten zwar überlegen, aber nicht derart stark, wie man es eigentlich hätte erwarten dürfen. Der Grund dafür ist mir nicht so ganz klar.«

Ad’""bana machte ein verächtliches Geräusch. »Während der Schlacht gelang es mir, den Verstand eines Hinradykommandanten mit dem meinen zu berühren. Als die Nefraltiri die Hinrady und die Jackury fanden, befanden sich die beiden Rassen in einem alles vernichtenden Krieg. Sie waren dabei, sich gegenseitig auszulöschen. Allerdings hatten sich beide Spezies kaum über den Zustand der Barbarei erhoben. Die Hinrady beherrschten zwar schon den Raumflug, aber nur in ganz rudimentärem Zustand. Die Nefraltiri machten sich beide Spezies untertan und forcierten deren Entwicklung. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Dann stoppten sie sie und seitdem werden vor allem die Hinrady in diesem Zustand belassen. Ihre Entwicklung stagniert.«

»Das ergibt sogar Sinn«, meinte Carlo. »Die Nefraltiri wollen nicht das Risiko eingehen, dass sich ihre Sklaven gegen sie wenden. Sie würden sich einen gefährlichen Feind schaffen, wie sie es mit den Drizil getan haben. Also achten sie peinlich genau darauf, wie viel Wissen sie den Hinrady vermitteln.«

Ad’""bana schnaubte. »Das ist typisch für die Nefraltiri. Sie vergrößerten bei den Hinrady sogar das Gehirn, um sie intelligenter zu machen. Aber egal, was sie ihnen versprochen haben, um sie in ihren Dienst zu zwingen, sie werden ihre Versprechen niemals halten. So etwas kommt nicht zum ersten Mal vor. Auch die Drizil waren nicht das erste Sklavenvolk der Meister.«

»Ein Hinradyschiff ist einem unserer Schiffe etwa im Verhältnis drei zu eins überlegen«, erläuterte Flottenadmiral Baker. »Das ist zwar besorgniserregend, aber noch kein Grund, in Panik auszubrechen. Zumal ihre Schiffe auf direkte Nahkämpfe ausgelegt sind und ihre Waffen starr nach vorne weisen. Einige Kommandanten konnten mithilfe selbst entworfener Gefechtsdoktrin bereits ganz gute Erfolge verbuchen. Bei den Jägern sieht das Verhältnis sogar noch besser aus. Und Drizilschiffe sind Hinradyeinheiten beinahe ebenbürtig.«

Bei der Erwähnung der Drizil senkte sich ein Schleier über den Raum. Für einen Augenblick sagte niemand auch nur ein Wort.

Mason Ackland räusperte sich. »Auf die Drizil werden wir wohl nicht zählen können. Die sind mit einem groß angelegten Rückzug aus den Überresten ihres Territoriums beschäftigt. Auf jedes Kriegsschiff der Drizil, das den Nefraltiri entkommen ist, entfallen ungefähr zwanzig Transportschiffe voller verängstigter, demoralisierter Zivilisten. Die Nefraltiri wussten genau, was sie taten, als sie unsere fledermausartigen Verbündeten ausschalteten. Sie wären in dem bevorstehenden Kampf von unschätzbarem Wert gewesen.«

Carlo schüttelte leicht den Kopf. »Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern. Die Drizil werden uns nicht helfen können. Wir wissen nicht einmal, wie viele ihrer Soldaten und Zivilisten immun sind gegen den Einfluss der Nefraltiri. Nur eines wissen wir mit Sicherheit: Es muss sich ein Nefraltiri im gleichen System aufhalten, um die Drizil geistig beeinflussen zu können. Und er muss noch näher kommen, um eine genetische Rückartung auszulösen.«

»Das ist wenigstens ein Lichtblick«, kommentierte Baker.

»Wenn auch nur ein kleiner.« René Castellano ließ deprimiert die Schultern sacken.

»Was ist mit den Halsbändern, die wir toten Hinrady abgenommen haben?«, mischte sich Finn Delgado ein. »Lässt sich damit vielleicht etwas ausrichten? Risena hat bewiesen, dass wir im Bodenkampf jeden kleinen Vorteil dringend gebrauchen können.«

Carlo und Ackland wechselten einen langen Blick, bevor der Exgeneral antwortete. »Ich befürchte, das ist eine Sackgasse. Die Halsbänder wären in der Tat hilfreich. Cest hat sie gründlich untersucht und kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Die meisten erbeuteten Bänder sind irreparabel beschädigt und wir können die Energieform, die sie aussenden, mit unserem Stand der Technik nicht reproduzieren. Wir verfügen nur über eine Handvoll funktionierender Exemplare. Nicht genug, um einen Unterschied zu machen. Mit diesen Dingern kommen wir leider nicht weiter.«

Baker machte eine verkniffene Miene. »Das ist ja alles recht interessant, aber dummerweise bringt es uns einer Lösung des eigentlichen Problems keinen Zentimeter näher. Was unternehmen wir wegen der Schwarmschiffe?«

»Wir vernichten sie«, erklärte Ad’""bana im Brustton der Überzeugung.

Alle, mit Ausnahme von Mason Ackland und Carlo, sahen das Schwarmschiff an, als hätte es den Verstand verloren.

René verzog die Miene zu einer zynischen Grimasse. »Einfach so?«

Ad’""bana lächelte. »Ja, einfach so.«

Carlo warf ihr einen scharfen Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte. »Ad’""bana weiß, dass es tatsächlich nicht einfach werden wird.« Sein Blick glitt in die Runde. »Aber wir haben einen Plan. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, der Präsident und ich haben eine Idee. Und Ad’""bana war uns bei der Ausarbeitung eine große Hilfe.«

Baker und René wechselten einen teils verwirrten, teils etwas verärgerten Blick. Bei der Ausarbeitung eines Plans zum Gegenschlag hätten beide eigentlich involviert werden müssen. Finn Delgado hingegen nahm die Neuigkeit mit Gleichmut auf. Der Oberkommandierende der Schattenlegionen hielt sich ohnehin in dieser Besprechung weitgehend zurück. Das sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich. Vielleicht hatten ihn die Geschehnisse auf Risena weit mehr verändert, als irgendjemand für möglich gehalten hätten. Ob diese Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten waren, würde sich wohl erst noch herausstellen.

»Wir haben vor, die Nefraltiri in eine Falle zu locken«, fuhr Mason ungerührt fort.

Nun zog Finn Delgado doch eine Augenbraue hoch. »Da bin ich aber gespannt.«

»Wir haben für unseren Plan den Planeten Samadir ausgesucht, der kürzlich erst während der letzten Angriffe an den Feind gefallen ist.« Der Präsident betätigte eine Taste und eine grün-blaue Welt wurde als Hologramm über den Tisch projiziert. »Samadir ist aus mehreren Gründen gut geeignet. Es gibt dort keinerlei zivile Population mehr. Die ohnehin spärlichen menschlichen Siedlungen wurden während der letzten Kämpfe entweder zerstört oder konnten evakuiert werden.«

»Samadir ist jetzt aber auch Standort von mindestens zwei Dutzend Jackurynestern sowie einer großen Anzahl von Hinradyschiffen«, fuhr Baker dem Präsidenten in die Parade.

»Aber ohne Schwarmschiffe, was für unsere Zwecke von großer Bedeutung ist«, sprang Carlo Mason helfend zur Seite. Er sah sich unter den Anwesenden um. »Meine Herren, wir werden Samadir zurückerobern und dort eine schwer befestigte Stellung einrichten.«

»Und dann?«, wollte René wissen. Der Oberbefehlshaber der republikanischen Bodentruppen beugte sich neugierig, jedoch nicht ablehnend vor.

Carlo lächelte. Die Gefühlsregung erreichte allerdings nicht seine Augen. »Samadir wird unser Köder sein. Dort werden wir die Schwarmschiffe erwarten.«

René runzelte die Stirn. »Wie viele Schwarmschiffe?«

»Nach Möglichkeit: alle.«

Dieses einzelne, kleine Wort hing bedeutungsschwanger über dem Raum. In diesem Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so leise wurde es.

Baker schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn! Es gibt über zwanzig von ihnen in unserer Galaxis und das sind nur die, von denen wir wissen.«

 

»Umso wichtiger ist es, diese zu erledigen, solange wir die Chance dazu haben.«

»Bisher haben wir im Kampf gegen die Schwarmschiffe nicht besonders gut abgeschnitten. Selbst mit ihrer Hilfe«, der Flottenadmiral deutete lapidar auf Ad’""bana, »ist es unmöglich, über zwanzig dieser Monsterschiffe zu erledigen. Das wäre das Ende unserer Flotte, unserer Bodentruppen und das Ende des organisierten Widerstandes.« René und Finn sagten nichts, doch ihre Körperhaltung drückte tiefste Ablehnung aus. Sie waren dabei, die Offiziere zu verlieren.

Carlo wechselte einen schnellen Blick erst mit Mason, dann mit Ad’""bana. Beide nickten kaum merklich. Ihnen war klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, den Stab zu überzeugen. Den Hauptteil des Planes hatten sie dabei noch gar nicht erwähnt.

»Es ist möglich«, fuhr Carlo fort. »Gegenüber unserem Gast habe ich erwähnt, dass wir die Brutkammer auf Samadir gefunden haben. Wir sind uns sicher, dass er mit den Nefraltiri in Kontakt steht und ihnen diese Information telepathisch übermittelt oder schon übermittelt hat.«

»Das wird nicht reichen«, gab Finn zu bedenken. »Die Nefraltiri sind nicht dumm, und sie zu unterschätzen, wäre geradezu sträflich nachlässig.«

»Ich weiß«, gab Carlo ihm recht. »Deswegen muss Samadir entweder zur Gänze oder zu großen Teilen zurückerobert werden. Es wird unsere erste ernst zu nehmende Gegenoffensive, mit dem Ziel, ein System zu befreien, seit Beginn der Invasion.«

»Ich verstehe«, meinte René nachdenklich. »Damit versucht ihr, die Nefraltiri davon zu überzeugen, dass das System für uns von besonderem Wert ist.«

»Das ist der tiefere Sinn dahinter«, bestätigte der Präsident.

»Die Nefraltiri werden ihre gesamte Armada dorthin entsenden«, fuhr Ad’""bana fort. »Zumindest all ihre Schwarmschiffe, aber auch einen großen Teil der Hinradykräfte. Die Sicherheit der Königinnenlarve hat für die Meister oberste Priorität.«

»Nehmen wir mal an, der Plan hätte bis dorthin Erfolg …« Baker zuckte mit den Achseln. »Was dann?«

Carlo antwortete nicht. Vielmehr glitt sein Blick in Ad’""banas Richtung. Diese hob stolz ihr Kinn. »Dann komme ich ins Spiel.«

Die drei ranghohen Offiziere warfen dem holografischen Abbild des Schwarmschiffes verwirrte Blicke zu, was Mason Ackland zu einer weiteren Erklärung veranlasste.

»Ad’""bana hat uns tiefe Einblicke gewährt in die Funktionsweise eines Schwarmschiffes. Wir wissen nun über vieles Bescheid und können dieses Wissen nutzen. Im Herzen eines jeden Schwarmschiffes befindet sich eine Quantensingularität als nahezu unerschöpfliche Energiequelle. Daraus speisen sich Antrieb und Waffen.«

»Eine Quantensingularität?«, hakte Baker nach.

Finn Delgado hingegen hob nun beide Augenbrauen. Ob beeindruckt oder schlichtweg geschockt, vermochte Carlo nicht zu sagen. »Sie reden von einem Schwarzen Loch?!« Sein Blick zuckte in Ad’""banas Richtung. Er wirkte gegenüber dem Schwarmschiff wachsamer als noch Augenblicke zuvor. »Soll das heißen, Ad’""bana besitzt etwas Ähnliches in ihrem Kern? Und sie befindet sich in diesem Moment direkt über Perseus? Mit einem Schwarzen Loch in ihren Eingeweiden?«

»Die Singularität ist eingedämmt und völlig sicher«, gab sie zurück. »Aber ich kann sie nutzen, um meine Waffen kurzzeitig zu verstärken.«

»Um was zu tun?« Finn wirkte immer noch nicht überzeugt.

»Um sämtliche physikalischen Prozesse innerhalb eines Sterns zum Erliegen zu bringen. Das würde den Stern kollabieren lassen.«

Finns Kinnlade klappte nach unten. »Eine Supernova.«

Ad’""bana nickte. »Zu diesem Zeitpunkt müssen sämtliche republikanischen Raumverbände das System bereits verlassen haben. Und auch die Bodentruppen müssen mit einem systemweiten Rückzug begonnen haben. Sobald die Supernova ausgelöst wurde, kann ich die Vorgänge nicht mehr stoppen. Es bleibt uns nicht viel Zeit. Die ausgelöste zerstörerische Energiewelle wird das ganze System binnen vierzig bis maximal sechzig Minuten zerstört haben. Die Schwarmschiffe und ihre Hinradysklaven werden aber durch die von der Nova ausgehenden Gravitationskräfte im System festgehalten. Es wird ihre Fähigkeit unterbrechen wegzuspringen. Die Feindeinheiten nutzen eine andere Art von Antrieb, um von einem System zum nächsten zu gelangen. Sie benutzen nicht den Hyperraum, sondern springen quasi zwischen den Dimensionen umher. Sobald die Supernova ausgelöst wurde, ist das nicht mehr möglich. Die Feindschiffe werden im System gefangen sein, unfähig, der Vernichtung zu entgehen. Ich selbst springe weg, nur Sekunden bevor der Stern kollabiert. Mit etwas Glück werden die Meister nicht erkennen, was vor sich geht, bevor es zu spät ist.«

»Mein Gott!«, hauchte René. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das Risiko für meine Bodentruppen ist enorm. Wenn etwas schiefläuft oder der Rückzug zu lange dauert, sitzen sie fest.«

»Deswegen werden lediglich Freiwillige die Auffangstellung auf Samadir besetzen«, gab Carlo bekannt. »Und auch nur ledige Männer und Frauen, die weder Ehepartner noch Kinder zurücklassen.« Er seufzte. »Ich will ganz ehrlich sein. Das Risiko für all jene, die wir auf Samadir stationieren, um den Köder glaubwürdig zu machen, ist sehr, sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Verlustrate hundert Prozent unter diesen Truppen betragen wird, wurde von den Analytikern mit achtzig Prozent beziffert. Vielleicht kommt von unseren Leuten keiner mehr nach Hause.« Carlos Stimme nahm einen harten Tonfall an. »Aber lassen Sie mich eines klarstellen: Das hier ist unsere einzige Chance. Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, dann müssen die Schwarmschiffe ausgeschaltet werden. Ansonsten kämpfen wir auf verlorenem Posten. Die Nefraltiri haben es noch nicht geschafft, den Riss mit einem zweiten Obelisken wieder zu stabilisieren. Aber das wird irgendwann der Fall sein. Und in dem Moment ist es aus. Uns rennt die Zeit davon.«

Ad’""bana machte eine verkniffene Miene. »Auf der anderen Seite des Risses warten sechzig Schwarmschiffe darauf, in dieses Universum überzuwechseln. Sollte ihnen das gelingen, sind wir alle tot.«