Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5

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Aus der Reihe: Violet #2
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Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5
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Buch 4 - Dunkelheit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Buch 5 - Entfesselt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Buch 6 - Verfolgt

Prolog

Kapitel 1

Ende der Vorschau

Übersicht über alle sieben Bücher der Violet-Reihe:

Impressum neobooks

Violet - Verfolgt / Vollendet - Buch 4-5

Von Sophie Lang

Buch 4 - Dunkelheit

Ist es für sie schrecklich, wenn sie uns verliert? Ihre erste, scheinbar organisierte Intelligenz… war es doch erst durch unsere Augen möglich, dass sie in der Lage war, Ihre eigene Schönheit zu sehen.

Frei nach James Lovelock

Kapitel 1

Langsam öffne ich meine Augen. Mein Kopf brummt, als habe ihn eine Abrissbirne getroffen. Der Nebel der Ohnmacht fällt von mir ab und die Erinnerungen sind sofort da.

Alle.

Hope ist fürchterlich schwer verletzt. Aber sie ist am Leben. Das zählt. Denke ich. Versuche ich verzweifelt, meine Gefühle in den Griff zu bekommen.

Das schwache Licht der Notbeleuchtung genügt, um ihn zu sehen. Den Teddy. Ein treuer Weggefährte eines jungen Mädchens, das ich einmal war. Ich versuche, mich weiter zu orientieren.

Wie spät ist es überhaupt?

Ich habe geschlafen. Nicht geträumt. Dieses Mal nicht. Langsam stehe ich auf. Mein Bein? Es ist geschient, sieht aus wie das Bein einer Maschine und es tut nicht allzu sehr weh. Die Schmerzmittel, bilde ich mir ein.

Ich bin umgeben von schwachem Licht. Als die Formen um mich herum weiter Gestalt annehmen, begreife ich, dass ich alleine bin. Mich in dem quadratischen Raum befinde. Fünf mal fünf Meter. Vier Wände. Drei kalte Wände aus Beton. Eine Wand direkt vor mir aus Panzerglas. Erinnerungen verschmelzen sich mit der Gegenwart. Ich bin angekommen. Ich bin zuhause.

Und ich richte mich auf in meiner Zelle und laufe zu der Wand aus unzerbrechlichem Glas. Ich bin barfuß und jemand hat meine Jeans und mein Top und alles andere, das ich trug, gegen ein einziges blütenweißes ärmelloses Hemd eingetauscht, das mir bis zu den Knien reicht. Die Wand aus Glas ist wie Milch. Undurchsichtig. Aber ich weiß, ich brauche sie nur zu berühren und ich kann durch sie hindurchsehen. Ich nenne es nicht Privatsphäre, sondern optimierte Versuchsbedingungen.

Das Objekt (ich) kann ungestört von außerhalb beobachtet werden und trotzdem besteht die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Ich berühre das Glas mit meinen Fingern. Es fühlt sich kalt an. Auf seltsame Weise vertraut.

Dort wo ich es berühre, ist jetzt ein transparenter Kreis, der größer wird. Größer. Immer weiter, bis die Wand aus Glas durchsichtig geworden ist, bis ich alles sehen kann, was sich auf der anderen Seite befindet.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Finger zittern. Mein Körper bebt.

Die Zelle gegenüber ist nicht leer.

Sie war nie leer gewesen, solange ich hier war. Als ich noch ein Kind war. Ich stehe zwei Meter von ihr entfernt, lediglich durch zwei Trennwände aus Glas getrennt.

Unzerstörbare Scheiben.

Asha.

Sie steht dort, hat ihre Hand fest auf ihre Wand gepresst.

Wir sind uns so ähnlich. Bis auf ihre Haare. Sie sind noch immer violett gefärbt. Ich weiß, sie könnte mich nicht hören, wenn ich etwas sagen würde.

Und.

Sie hat sich verändert.

Ist erwachsener geworden. Größer? Kann das sein? Schlanker. Jesse hatte recht. Sie hat abgenommen. An ihr war doch sowieso nie viel dran.

Ich kann die Ausläufer eines Tattoos um ihr Bein herum erkennen.

Endlich.

Habe ich sie wieder gefunden.

Ich habe mein Versprechen gehalten.

Ich lächle. Und dann.

Asha sieht mich an, verzerrt ihr Gesicht zu einer abscheulichen Grimasse. Funkelt böse.

Was?

Sie nimmt ihre Hand von der Scheibe, das Panzerglas läuft an, dann ist sie verschwunden.

 

Kapitel 2

Asha?

Was?

Was ist mit ihr?

Ich ziehe meine Hand von der Scheibe zurück. Ziehe mich zurück in meine Zelle, auf mein altes Bett. Will mich weiter zurückziehen, an einen Ort, an dem wir uns alle sicher fühlen könnten.

Ich weiß, diesen Ort gibt es nicht. Nicht in dieser Welt. Vielleicht an einem Ort in meinem Innern. An einem Refugium, das niemand außer mir aufsuchen kann.

Aber ich finde keinen Zugang.

Endlich habe ich Asha gefunden. Mein Versprechen eingelöst. Aber sie haben etwas mit ihr angestellt. Komme ich vielleicht zu spät? Und was soll ich ausrichten? Ich sitze in einer Zelle aus Beton und Panzerglas gefangen und kann nur darauf warten, was als nächstes passiert. Was mit mir, mit uns allen als nächstes geschieht.

Meine Gedanken drehen sich wie ein Karussell und ich sehe die Menschen, die…? Die ich liebe.

Hope, Jesse und mein altes Team.

Und Adam. Natürlich.

Wo sind sie alle geblieben, frage ich mich und ich hoffe verzweifelt, es geht ihnen gut. Asha, meine liebe Zwillingsschwester, ich hoffe auch für uns, dass wir einen Weg finden.

Irgendwie schaffe ich es, meine Augen zu öffnen und stelle erstaunt fest, dass sie bereits offen sind. Ich habe tatsächlich geträumt, mit offenen Augen.

Das Zimmer, meine Zelle, materialisiert sich, nimmt wieder Formen und Konturen an. Ich sehe mich aufmerksam um, ungetrübt durch die inneren Bilder und Gefühle, die meinen Sehsinn schwächten. Ich kann nicht wirklich sagen, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit verändert hat. Der Teddy ist der alte, ist meiner. Definitiv.

Aber der Rest?

Ein ovaler, futuristischer Tisch und zwei geschwungene Stühle. Ein Regal aus Metall, in dem Bücher stehen sollten, das aber leer ist. Verlassen wirkt.

Ich befinde mich im Hier und Jetzt, in diesem Augenblick. Dort, wo sich Vergangenheit und Erinnerungen, die Zeit und die Ewigkeit für einen Moment berühren.

Ich bin jetzt gerade auf das Wesentliche eingestellt. Und da kommt mir ein Gedanke. Ich sollte etwas anderes anziehen. Unbedingt. Etwas, das nicht wie ein zu groß geratenes OP-Hemd an mir herunterhängt. Seit der Wiedergeburt in Kristens Haus habe ich so viel erfahren. Ich wurde gelöscht, war ein anderer Mensch oder doch ich selbst?

Es ist seitdem so viel passiert und ich? Ich muss aufhören, in Bruchstücken zu denken, beginnen, endlich längere Sätze in meinem Kopf zu formen. Aber ich bin nicht sicher, ob ich dazu schon in der Lage bin. Mein ganzes Leben besteht aus Bruchstücken.

Ich habe Bedürfnisse in mir kennengelernt, die ich zuvor nie erahnen konnte. Ich bin Freija, die Göttin der Liebe und die des Todes, und ich bin eine Frau mit Bedürfnissen und will endlich einmal wieder gut aussehen, gut duften, mich mit Seife waschen!

Ich fixiere die schmale Tür neben dem Bücherregal, weil ich weiß, dass sie in den kleinen Nebenraum führt, wo sich das Bad und Anziehsachen befinden müssen. Wenn sich dort nichts verändert hat, wenn ich alles richtig rekonstruiere, dann werde ich dort finden, was ich jetzt benötige. Langsam, als wäre ich eine alte Frau, stehe ich auf und humple los. Die Schiene an meinem Bein macht jede Bewegung mit und klingt wie eine kleine Maschine.

Es ist genauso, wie ich gehofft habe. Niemand hat hier etwas in den letzten Jahren angerührt. Ich sehe die Gegenwart und zugleich meine Vergangenheit. Vielleicht war es ja so geplant, dass ich eines Tages hierher zurückkomme. Vielleicht bin ich ja auch darauf programmiert, wieder zurückzukommen?

Das Blut gefriert in meinen Adern und ich bemühe mich, diesen scheußlichen Gedanken ganz schnell abzuschütteln. Bitte! Bitte Gott, lass das nicht die Wahrheit sein. Ein schrecklicher Anfall schüttelt mich durch.

Atmen. Ich atme durch, versuche mein gesundes Bein, das sich anfühlt wie Pudding, wieder unter Kontrolle zu bringen. Wünsche mir gerade eine zweite Schiene, um mich aufrecht halten zu können. Das kann nicht sein, rede ich mir ein. Das darf nicht sein.

Ich erinnere mich an das, was ich eigentlich vorhatte und schaffe es, mich zu beruhigen, die wohlbekannte Angst, die in mir hoch kriecht, los zu werden. Die Angst, von jemandem oder etwas kontrolliert zu werden, egal ob von der Sektion oder den Bestien.

Und ich beschließe, mich jetzt zu duschen, mich hübsch zu machen, auf andere Gedanken zu kommen.

Es gelingt mir halbwegs.

Schwerfällig stelle ich mich nach dem künstlichen Regen vor den Kleiderschrank. Seine verspiegelten Glastüren sind noch vom Wasserdampf angelaufen. Mit einer Hand wische ich einen kleinen Fleck frei, um mein Gesicht zu betrachten. Dann noch mehr, um mich ganz zu sehen. Ich habe mein Spiegelbild schon eine ganze Weile vermisst.

Mein blondes Haar klebt klatschnass an meinem Kopf und verleiht meinem Gesichtsausdruck etwas Kämpferisches. Meine Haut duftet nach Seife, frisch und blumig.

Ich betrachte das Spiegelbild von Kopf bis Fuß. Die Schiene, die kleine Maschine an meinem gebrochenen Bein, glänzt und sie funktioniert noch. Ist wasserdicht. Das war Glück, denn ich hatte daran keinen Gedanken verschwendet.

Meine Augen haben einen metallischen Glanz, meine Haut ist marmorglatt.

Die Tattoos gleichen zarten, keltischen Mustern, sind harmonisch auf meine Haut abgestimmt und betonen perfekt meine weiblichen Formen.

Ich kann Adam verstehen.

Ich habe tatsächlich eine fast unwiderstehliche Ausstrahlung. Das muss an den Bestien in mir liegen, bilde ich mir ein. Oder eventuell auch an Adams Blut. Ein Schauer läuft mir senkrecht die Wirbelsäule hinab. Ich habe mich an meinen eigenen Gedanken, an meinem Blutdurst, erschreckt.

„Ganz ruhig Freija, du wirst ihn wieder sehen“, sage ich zu meinem Spiegelbild.

Nun öffne ich die Schiebetür und studiere die Auswahl der Kleidung, die recht überschaubar ist. Die Sachen, die mir passen könnten, beschränken sich auf zwei schlichte Kleider. Die Jeans sind zu klein, zu jungenhaft. Ist es Zeit, meinen Stil zu ändern? Ein Kleid anzuziehen?

Welche Farbe würde besser zu mir passen, um Asha und alle, die mir nahe stehen, zu retten? Um die Welt zu retten? Ein Kleid, das rot ist, wie die Liebe oder schwarz ist, wie der Tod?

Ich kann mich nicht entscheiden und trete vor den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken, wische auch dort ein Sichtfenster frei. Das bin ich. Hier bin ich.

Obwohl die Wahrheit keine liebe Familie, kein vernünftiges Zuhause, kein normales Leben für mich offenbart hat, fühle ich eine wohltuende Leere, die mich einhüllt.

Die Suche hat ein Ende. Endlich. Und ich kann nach vorne blicken. Muss an die Zukunft denken, an die Prophezeiung.

Adams Mutter musste wahrhaftig hellseherische Fähigkeiten gehabt haben, wenn sie meinen alten blauen Freund und mich in einer besseren Zukunft gesehen hat.

Einer Zukunft, in der es endet. Was auch immer das Ende bedeutet. Ich streiche die filigranen Linien des Tattoos auf meinem Oberarm nach. Asha trägt nun auch ein Tattoo. Ich denke an ihr Gesicht. Was war nur mit ihr los? Sie hat sich nicht gefreut, mich zu sehen. Was haben sie mit ihr gemacht? Experimente? Wurde sie womöglich gelöscht? Haben sie ihr auch grüne Flüssigkeiten ins Gehirn gespritzt?

Zorn lodert in mir auf bei diesem Gedanken. Dass sie dazu tatsächlich im Stande sind, sie zu foltern, ihr alles zu nehmen und plötzlich weiten sich meine Pupillen, so wie sich ein blauer Tintenfleck auf Papier ausbreitet und dann erwachen meine Tattoos. Ich erstrahle im Licht von hundert Flammen.

Nicht weil ich es ihnen befohlen habe, sondern weil Zorn und Hass in mir züngeln, mich verbrennen werden. Eine reine Schutzmaßnahme meiner Bestien, denke ich, vermute ich, bin mir aber nicht sicher, denn mir fällt es gerade wieder einmal schwer, klar zu denken.

Verdammt, ich bin dabei, die Kontrolle zu verlieren, dabei dachte ich, ich würde mich besser fühlen.

Meine geweiteten Augen blicken sich um. Sehen im Spiegel, wie ich schnuppere. Wie eine Bestie.

Adam ist nicht in der Nähe, sein Blut im Moment für mich unerreichbar. Und trotzdem laufe ich Gefahr, meinen Willen an die Bestien abzutreten. Ich bin so wütend. Will die Erde mit bloßen Händen aufreißen, aber alles was ich vermag, ist regungslos vor dem Spiegel zu stehen und zu beobachten, wie der Wasserdampf an seiner Oberfläche wieder kondensiert und dann gefriert.

Meine Bestien sind hellwach. Es ist erstaunlich, dieses Detail, diese Veränderung der Wassermoleküle wahrzunehmen. Aber es ändert nichts.

Ich lege meinen ganzen Zorn in einen Schrei. Aber ich kann mich nicht hören, meine Lippen bewegen sich nicht, nur meine Augen sind dazu in der Lage. Als wäre ich nicht ich, sondern nur der Beobachter meines Körpers.

Jetzt flackern die Bestien auf meiner Haut auf wie tausend Kerzen im Sturm und die Lichter im Bad auch. Elektrizität ist nur eine andere Form von Energie, das weiß ich von Hope.

Plötzlich.

Eins der Lichter zersplittert und Elektrizität schießt zu mir in den Raum, wie ein Blitz. Freigelassene Energie.

Weiße Lichter in der Luft, blaue Feuerbögen an der Decke, helle Flammen an meinen Füßen vertreiben die Wut, machen mir Angst.

Meine Tattoos erlischen und als bestünde zwischen ihnen eine Verbindung, erlischen auch die elektrischen Funken. Ich stehe im Dunkeln. Zittere, bebe ein wenig.

Was, um Gottes Willen, war das denn?

Hope würde vor Freude in die Luft springen, weil das definitiv mehr war, als so körperlicher Kram. Ich sinke auf meine Knie und muss meine Tränen zurückhalten, meine Augen vor dem Überfluten retten. Bin von meinen Gefühlen total überwältigt. Fühlte Hass und fürchtete mich zugleich. Ich denke an Adam und sehne mich nur nach seiner Nähe. Sehne mich nach einem anderen Gefühl, nach seiner Liebe. Ich hoffe nicht nach seinem Blut.

Kapitel 3

Irgendwann später, denke ich, weil sich die Zeit wie zähflüssiger Sirup anfühlt, humple, laufe ich frisch geduscht, gepflegt, nun doch nicht neu eingekleidet, aber dafür mit einer neuen Fähigkeit ausgestattet, die ich noch nicht einzuordnen weiß, zurück in meine Kammer.

Bevor ich beginne, die Welt zu retten, sollte ich wieder richtig laufen können, mich von dieser lästigen Schiene befreien, denke ich, als ich spüre, dass ich nicht alleine bin, dass ich beobachtet werde.

Meine Übersinne funktionieren immer besser.

Ich weiß, es steht jemand hinter der Panzerglasscheibe und beobachtet mich, trotzdem oder gerade deshalb tue ich so, als wüsste ich es nicht. Ich setze mich auf das Bett, rutsche nach hinten bis an die Wand, strecke meine Füße aus und lasse es zu.

Ich fühle es ganz deutlich. Jemand steht dort, studiert mich. Es sollte mir nicht gut gehen. Aber trotz aller Sorgen um Asha, wie sie mich angesehen hat? Um Hope, wie es ihr geht? Um Adam, was sie mit ihm machen und um Jesse und die anderen, wo sie sind? Trotz aller Ängste und Sorgen ist mir das alles hier vertraut. Das ist meine Kammer, meine Zelle. Hier bin ich daheim.

Ich werde beobachtet wie ein Objekt und es ist okay, als wäre es das normalste auf der Welt, wie eine Bestie eingesperrt zu sein und wie eine Laborratte studiert zu werden.

Ich betrachte den Sensor neben der Panzerglasscheibe. Er leuchtet rot. Ich müsste ihn lediglich betätigen und er würde auf grün umspringen. Grün bedeutet, dass die Scheibe zu beiden Seiten undurchsichtig ist. So wie es Asha getan hat. Warum verschließt sie sich vor mir? Vielleicht kennt er, der vor der Trennwand steht, die Antwort?

Ich stehe auf und humple nach vorne. Die Schiene summt mit jedem Schritt. Ich gehe dort hin, nicht um den Sensor zu betätigen, obwohl die Versuchung groß wäre, jetzt ungestört zu sein. Nein, ich will nun doch wissen, wer es ist, der mich anstarrt.

Ich bin da, berühre die Scheibe, fühle wie kalt sie ist. Aber nicht im Entferntesten so kalt wie meine Haut, wenn meine Bestien erwachen. Das Sichtfenster wird größer und ich halte durch, bis die ganze Wand transparent ist, bis ich alles und jeden sehen kann, der sich auf der anderen Seite befindet. Ich wage es nicht, die andere Seite Freiheit zu nennen, weil ich mich nicht eingesperrt fühle.

Der Mann trägt keine Uniform. Keinen roten Panzer, so wie die Vollstrecker. Er ist in einen schwarzen Stoff gekleidet, der mich an Sektion 13 erinnert. An den Finanzdistrikt, an die Menschen, die dort Tag für Tag zur Arbeit gehen und von all dem hier nichts wissen, nicht das Geringste ahnen. Wie unwirklich sich dieser Gedanke anfühlt. Als befände ich mich in einer anderen Welt.

 

Was die Menschen in Sektion 13 oder in all den anderen Sektionen machen würden, wenn sie über die Wahrheit Bescheid wüssten? Wäre das eine Möglichkeit, die Pfeiler, die Machtstrukturen der Gesandten zu erschüttern? Alle in Kenntnis zu setzen, um zu revoltieren?

Ich betrachte wieder den Mann. Alles an ihm folgt einer klaren Struktur, unbeugsamen, unsichtbaren Linien. Angefangen bei seiner wie aus Stein gemeißelten Nase, bis zu der Schnürung seiner Schnürsenkel. Wenn er Entscheidungen trifft, dann überlässt er nichts dem Zufall, denke ich.

Er lächelt mich an und etwas Wärme scheint von ihm, seinem Herzen zu mir, in mein Zimmer zu rieseln. Das Lächeln ist echt. Ich beobachte ihn ohne zu wissen, wie ich auf ihn, auf die mir geschenkte Freundlichkeit reagieren soll.

Nun begibt er sich zum Schließmechanismus oder Öffnungsmechanismus, wie man es sehen möchte und meine Zimmertür öffnet sich für mich. Jetzt, da er sich bewegt hat, erkenne ich ihn wieder. Er war es, der mir auf dem Dach der Forschungsstation das Leben gerettet hat. Der den Vollstreckern befohlen hat, das Feuer einzustellen, ihre Waffen nach oben gerissen hat, damit sie den Himmel treffen und nicht Hope oder mich. Auf dem Dach trug er etwas Militärisches - erinnere ich mich. Ganz anders als jetzt. Er sieht vielmehr aus, als wäre er ein Geschäftsmann.

Mit mir ist schlecht Geschäfte zu machen. Ich habe nicht viel zu bieten. Außer einem in die Jahre gekommenen, blauen Teddy und ein paar Fähigkeiten. Körperlicher Kram würde Hope sagen und etwas anderes. Etwas, das dort oben auf dem Dach passiert ist und eben im Badezimmer. Etwas, das ich noch weiter erforschen muss. Etwas, das mich dazu befähigte, Hope das Leben zu retten und ich bezweifle, dass es an der Qualität meiner Stimme, meines Gesangs lag, dass sie nicht gestorben ist, sondern ihre Augen geöffnet hat, um einen Scherz zu machen. Gute, alte, lebenslustige Hope.

„Mein Name ist Fischer, ich bin verantwortlich für die Sicherheit dieses Komplexes.“ Für die Sicherheit? Seltsam, dass er immer noch lächelt. Hope und ich müssen ihn in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht haben.

„Mein Name ist Freija und ich wurde hier geboren“, sage ich und Fischer nickt mir zu. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn in meiner Vergangenheit einmal gesehen zu haben. Nur an den Professor kann ich mich erinnern, an die acht Jungs und an Asha, die sich jetzt vermutlich hinter der undurchsichtigen Glasscheibe gegenüber befindet. Ob Fischer wohl weiß, dass ich hier geboren wurde und dass Asha und ich Zwillingsschwestern sind?

„Folge mir bitte.“ Es ist das Bitte, der Ton und sein Lächeln, die den Unterschied ausmachen. Ich kann nicht sagen wieso, aber ich vertraue ihm.

Wir verlassen die Halle mit den Kammern? Zellen? Laboratorien! Folgen einem unendlich langen Korridor, an dessen Ende ein Aufzug auf uns wartet.

„Keine Vollstrecker, um mich in Schach zu halten?“, frage ich beiläufig, weil mir auffällt, wie ruhig und furchtlos er in meiner Gegenwart ist.

„Du wirst mir nichts tun, solange du deine Freunde nicht in Sicherheit wiegst. Wir werden sie töten, wenn du etwas Unüberlegtes tust.“ Er sagt das, ohne dass es sich wie eine Drohung anfühlt. Er spricht einfach nur von der Wahrheit.

Vier Sektorebenen höher, zwei nicht enden wollende Gänge mit dutzenden Türen weiter, erreichen wir eine Galerie. Sonnenlicht flutet durch kristallklare Glasfronten und kitzelt mich dort, wo das blütenweiße Hemd meinen Körper nicht bedeckt. Auf meinem Gesicht, meinen Armen und meinen Beinen.

„Wo sind wir?“

„Nach wie vor in der Forschungsstation.“

„Es ist schön hier.“ Fischer sieht mich an, als habe ich etwas Geheimes ausgesprochen. Etwas bewegt ihn, aber er spricht nicht, verrät mir nicht, was es ist, das seine Augen in traurige Ovale verwandelt.

„Wo bringst du mich hin?“

„Freija hör zu, es ist mir nicht gestattet mit dir…“, er stockt mitten im Satz.

„Mit einer Gefangenen zu sprechen?“, helfe ich ihm. Fischer nickt. „Das ist deine individuelle Entscheidung, ob du mit mir redest oder nicht.“

„Nein, das ist es leider nicht. Es schreibt das Protokoll vor.“

„Das Protokoll? Ist das nur ein weiterer Fetzen Papier?“

„Es sind Regeln, an die wir uns zu halten haben.“

„So wie die Sieben Gebote, nehme ich an?“

„Vergleichbar. Die Inhalte sind für Vollstrecker gemacht, aber im Kern sind es die gleichen Grundsätze.“

„Das heißt, du hast auch keine Familie? Ich meine, du kennst deine Familie nicht?“ Fischer schweigt und hält sich an das Protokoll, dessen Inhalt ich nicht kenne, aber ich spüre, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen habe. Wir haben gleich das Ende der Galerie erreicht, abrupt bleibt Fischer stehen.

„Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dich zum ersten Mal sah. Deine Haare erinnern mich an das Haar meiner Tochter“, sagt er wie aus dem Nichts. Ich schaue ihn an, bin im Moment gerade sprachlos und dann öffnet sich die Tür, der wir uns die ganze Zeit schon genähert haben. Durch Stockwerke, Gänge, Korridore und zuletzt durch die lichterfüllte Galerie, in der Fischer nun doch mit mir Persönliches ausgetauscht hat. Gegen die manifestierten Regeln, gegen das Protokoll verstoßen hat.

„Du hast recht. Man hat immer eine Wahl. Das ist die Freiheit jedes Menschen“, sagt er leise, als wären wir geheime Verbündete.

„Jedes nicht programmierten Menschen“, flüstere ich, dann wende ich mich von Fischer ab, bin noch immer über die Vertrautheit, diese Wendung seines Verhaltens, seine Entscheidung verwirrt. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, scheint es uns beiden dennoch viel zu bedeuten. Ich blicke zur geöffneten Tür und bin gespannt, was oder wer mich jetzt erwartet. Sie geht in diesem Moment ganz auf und ich sehe…

„Trish…?!“

Sie materialisiert sich dort in dem Durchgang zu dem unbekannten Raum und schaut mich mit nüchterner, verdrießlicher Miene an. Ich starre sie an wie ein erschrockenes Reh. Dann überkommt mich ein Gefühl, dass ich ihr jetzt sofort am liebsten um den Hals fallen würde, aber ich tue es nicht, weil ich spüre, dass ich es nicht vermag, ihre eisige undurchdringliche Ruhe anzukratzen. Trotzdem.

Sie sieht gut aus. Gesund und frisch.

Das braune Haar fällt ihr locker über die Schultern, das elegante, in Erdtönen gehaltene Kleid und die hochhackigen Schuhe stehen ihr unwahrscheinlich gut.

Sie gibt mir mit einem gastlichen Wink zu verstehen, dass ich eintreten darf. Ich folge ihrer Einladung.

Es werde Licht.

Der Raum besteht aus goldenen Sonnenstrahlen. Wir müssen uns an dem äußersten Winkel des Gebäudes befinden. Zwei in bernsteinfarbenes Licht getauchte Glaswände vom Boden bis zur Decke trennen mich von der Welt dort draußen. An der gegenüberliegenden Seite recken sich Regale mit tausend Büchern hoch bis zur Decke. Davor wurde ein unglaublich weißes Sofa perfekt, stilvoll im Raum platziert. Der Konferenztisch aus Kristallglas fällt kaum auf. Im Gegensatz zu dem vertrauten Menschen, der mir die Tür geöffnet hat. Ich kann es immer noch nicht fassen. Trish ist hier. Ich trete tiefer ein, aber Fischer kommt nicht mit.

„Trish? Was machst du denn hier?“, frage ich, während sie die Tür hinter mir schließt.

„Ich weiß, ihr kennt euch persönlich. Aber das war, bevor ich Trishtana zu meiner Assistentin ernannt habe und bevor ich von der Existenz dieses Buches erfahren habe“, sagt jemand, der sich mit Trish und mir in dem Lichtraum befindet und der ein kleines weißes Buch auf den riesigen Konferenztisch, quer durch den Raum schleudert.

Ich blicke in die Augen des Mannes, der keine zwei Meter vor mir steht. Sie sind blau. Blau wie das Meer, das ich durch die Scheiben des Helikopters gesehen habe, der mich in die Sektion 0 geflogen hatte.

Seine Augen scheinen sich in mein Inneres bohren zu wollen und ich halte seinem Blick nicht lange stand, lasse es zu. Es ist wie ein Kampf ohne Waffen, nur mit unseren Blicken, den ich verliere.

Vorerst.

Er lächelt mich an, aber es sind nur seine Mundwinkel, die sich zu einem Ausdruck gesellschaftlicher Freundlichkeit verformen. Seine Augen lachen nicht. Sind kalt und frostig und prüfen mich.

Ich lächle nicht, nehme mir stattdessen Zeit, ihn zu mustern. Er ist vierzig, vielleicht etwas älter, vielleicht auch jünger. Schwer zu sagen, denn es ist seine Ausstrahlung, die mir das verrät und nicht seine Haut, die kaum Falten trägt. Sein Gesicht ist kantig, hat die Form eines Raubvogels, seine Haare sind kurz geschnitten und blond, fast so wie meine.

Er ist so groß wie Adam und der maßgeschneiderte Anzug liegt perfekt an seinem schlanken Körper an. Die Ärmel hat er zurückgekrempelt, als wollte er körperlich arbeiten. Ich nehme Notiz von seinen muskulösen, drahtigen Unterarmen. Er ist hässlich, was nicht an seinem Äußeren als vielmehr an seiner Aura liegt. Der Raum in seiner unmittelbaren Nähe scheint das Licht zu verschlucken, sodass er noch finsterer und böser erscheint.

Als wäre er direkt aus der Hölle gestiegen. Ich habe eine Vermutung, wer er ist, auch wenn alles logische Denken in mir rebelliert, wie ein hysterisches Kind.

„Ich grüße dich, Freija. Ich habe die Käfigtür geöffnet und jetzt bist du endlich hier.“ Käfigtür? Der Ausdruck passt zu einer Bestie. Zu mir. Mein törichtes Herz beginnt wild zu klopfen. Ich sehe ihn das erste Mal und auch wenn ich ihn mir schon so oft vorgestellt habe, von ihm gehört habe, wage ich es nun kaum, zu ihm aufzublicken. Er jagt mir Angst ein.

„Glaubst du nicht, dass das gefährlich sein könnte, sich in meiner Nähe aufzuhalten?“, frage ich trotzdem, aber es klingt nach einem piepsenden Vögelchen. Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Wieder ein unechtes Lächeln.

„Nein, du wirst mir nichts tun.“ Ich schweige, weil mein Herz so stark pocht, dass ich kein weiteres sinnvolles Wort heraus bekomme. Seine Augen scheinen mich auszuhorchen, mich zu durchschauen. Ich höre, wie Trish die Tür verriegelt und beobachte ihn, wie er sich nähert, an mir majestätisch vorbei schreitet, mir den verwundbaren Rücken zuwendet und sich dann an den Konferenztisch setzt.

Er fürchtet mich nicht oder er zeigt es mir nicht. Aber ich fürchte mich.

„Setz dich bitte neben mich“, sagt er und klopft auf den Stuhl neben sich. Er hat bitte gesagt? Aber es hört sich anders an als bei Fischer.

„Ich stehe lieber“, sage ich nervös.

„Das war eine Bitte, kein Befehl.“ Und es ist doch ein Befehl, denke ich.

Ich humple also zu ihm, setze mich neben ihn. Adam duftet hunderttausendmal besser.

„Weißt du, warum du hier bist?“

„Nein“, sage ich ehrlich.

„Weil ich dir ein Geheimnis verraten möchte.“

Ich nicke und weiß nicht wieso.

„Ich bin der Oberste Gesandte. Bist du überrascht über die Tatsache, dass ich hier neben dir an diesem Tisch sitze?“

„Ich könnte überrascht sein, weil ich dachte du wärst älter. Viel älter.“ Er lacht. Dieses Mal echt.

„Der Oberste Gesandte ist ein Titel und kein Mensch. Das Alter spielt nicht die geringste Rolle“, sagt er.

„Hast du den Titel geerbt?“ Er lacht wieder.

„Gott, nein. Niemand erbt diese Position. Ich habe sie mir verdient.“

„Hört sich gerecht an.“

„Korruption, Macht und Angst sind die wesentlichen Faktoren, die den Ausgang bestimmen.“ Ich werde mir langsam sicherer, mein Herz verliert etwas von der anfänglichen Aufgeregtheit und ich bin in der Lage, meine Gedankengänge zu kombinieren und zu ordnen.

„Dann musst du sehr reich sein“, stelle ich fest. Er schweigt.

„Wie gesagt, du bist hier, weil ich dir etwas zeigen will. Kannst du dir vorstellen, was es ist?“

„Ich nehme an, du wirst es mir gleich verraten.“

„Hast du denn keine Vermutung?“

„Es gibt einen Grund, warum Asha und ich erschaffen wurden und der Grund bist du.“

„Du weißt es also?“

„Ja, ich habe mich erinnert.“

„Erinnert? Das ist interessant. Ich dachte, wenn man einmal gelöscht wurde, dann wäre das nicht möglich. Mir ist kein einziger Fall bekannt, dass das einem Vollstrecker oder einem Sektionsteammitglied jemals gelungen wäre.“