Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5

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Aus der Reihe: Violet #2
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„In Anbetracht dessen bin ich anscheinend zu Erstaunlichem fähig.“

„Offensichtlich. Ich habe mir Fischers Bericht auf dem Weg hierher durchgesehen. Ist das wahr? Kannst du tatsächlich fliegen?“ Ich nehme erstaunt Notiz davon, wie sorgfältig gefeilt seine Fingernägel aussehen. Meine sind gerissen und gebrochen. Nicht abgenagt.

Fliegen hat er gesagt. Ich denke an den Kampf mit den Drohnen.

„Nein. Hope hat mich geworfen“, sage ich und schaue zu Trish, die uns regungslos beobachtet.

„Hope? Das ist also ihr Name.“ Mich beschleicht das Gefühl, ihm bereits zu viel verraten zu haben.

„Ist das ein Verhör?“, frage ich und denke, dass ich nichts mehr über Hope sagen werde.

„Diese Hope, wie hast du sie kennengelernt?“ Ich schweige.

„Und er? Ihren Bruder? Liebst du ihn?“

„Was?“, rutscht mir das Wort aus dem Mund.

„Er fragt die ganze Zeit nach dir. Ohne Zweifel empfindet er sehr viel Zuneigung. Ich gehe soweit und sage, dass er sich mit dir identifiziert. Identifikation kann Liebe auslösen. Man teilt Freude und Kummer. Empfindet mit dem anderen und versteht ihn. In einem solchen Prozess werden unsichtbare Kräfte wach, die in den besten menschlichen Eigenschaften – Treue, Hingabe, ja sogar Selbstaufopferung – zum Ausdruck kommen. Was haben Menschen nicht schon alles auf sich genommen. Was haben sie alles ertragen. Nun, davon spreche ich. Und? Liebst du ihn?“

Ich bin stumm.

„Und Asha? Liebst du sie?“

Sein Verstand scheint mich zu benebeln. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich weiter schweige.

„Verstehe. Du vertraust mir nicht und du hast allen Grund dazu. Kann ich etwas für dich tun? Wasser? Etwas zu Essen? Etwas anderes? Willst du Adam sehen?“, fragt er. Er kennt seinen Namen. Ich darf ihn sehen? Damit er mein Vertrauen gewinnt? Das wird niemals geschehen, denke ich.

„Das Licht im Bad in meiner Kammer muss repariert werden“, ist das Absurde, was ich sage, aber er geht nicht darauf ein.

„Freija, ich will mit offenen Karten spielen. Ich will deine Hingabe, Loyalität. Ich will, dass du kooperierst.“

Der Oberste bedient ein Touchfeld am Rand des Konferenztisches und im nächsten Augenblick erscheinen auf der Oberfläche Gebirgszüge, Flüsse, Täler, ganze Landschaften, Städte und Felder und an den Seiten ein blauer Ozean. Ein Miniaturmodell so realistisch, als könne man es tatsächlich anfassen.

„Weißt du, was das ist?“, fragt der Oberste. Trish bleibt weiter stumm. Die Frage ist an mich gerichtet.

„Eine Karte eines Kontinents. Nordamerika“, sage ich.

„Vor 60 Jahren wäre diese Frage eine der einfachsten auf der Welt gewesen. Heutzutage ist es keine Selbstverständlichkeit, das zu wissen. Aber ich muss gestehen, ich habe damit gerechnet, dass du die Antwort kennst. Genauso wie du bestimmt weißt, dass es nicht die Bestien sind, denen dieses Land gehört, sondern dass ich es bin.“

Ich sage nichts, schaue zu Trish, die mir direkt in die Augen sieht. Nicht wie damals im Skygate, sondern interessiert, neugierig, ja fast schon so, als würde sie jede meiner Bewegungen, meiner Gebärden und Äußerungen studieren. „Weißt du, warum das so ist? Warum es wichtig ist, dass sich die Anzahl der Wissenden in überschaubaren Grenzen hält?“ Ich sitze da und sage, wie schon fast die ganze Zeit über, nichts, komme mir vor wie bei einer Prüfung der Gesandten.

„Weil Wissen Macht bedeutet“, antwortet Trish anstatt mir. Es ist das erste, das sie sagt. Sie hört sich an wie immer.

„Würdest du sagen, dass ich mächtig bin?“, fragt er mich jetzt. Wieder eine Frage, die für mich nichts bedeutet, außer dass ich mehr über meinen Feind erfahre, dem ich noch nie so nahe war.

Könnte ich alles beenden, wenn ich ihn hier und jetzt umbringen würde? Wäre Nordamerika dann frei? Ist es das, was die Prophezeiung von mir erwartet? Das Ende, das in dem kleinen Buch beschrieben wird, das direkt vor mir auf dem Tisch liegt. Er hat es gelesen und fürchtet sich nicht vor mir. Warum fürchtet sich niemand vor mir?

Wegen meiner Freunde, fällt mir Fischers Erkenntnis wieder ein. Wegen Adam, denke ich. Plötzlich habe ich einen Gedanken, der mich aus der Spur wirft. Der Oberste ist im Besitz des weißen Buches, der Prophezeiung. Hat er womöglich auch Jesses Flexscreen mit den geheimen Botschaften und hat er auch mein Tagebuch? Er weiß, dass ich Adam liebe. Hat er mich dadurch in seiner Hand?

„Ja, ich denke du bist mächtig“, sage ich dann und hoffe, dass meine plötzliche, zurückgekehrte Nervosität niemand bemerkt. Bei Trish bin ich mir da nicht sicher, sie hat eins ihrer Augen wie früher verengt und sieht mich scharf an. Der Oberste tippt etwas Neues auf dem Touchfeld ein und die Karte von Nordamerika schwebt jetzt über dem Tisch und verformt sich, erweitert sich, bis sich daraus eine Kugel, ein blauer sich drehender Ball manifestiert. Die Kugel ist der Planet Erde, nur hunderttausendmal kleiner.

„Falsch“, sagt der Oberste und ich schrumpfe unwillkürlich ein paar Zentimeter zusammen. „Der, dem das alles gehört, der kann sich wahrhaftig mächtig nennen.“

Er spricht von der ganzen Welt. Er ist geisteskrank.

„Sieben Kontinentalplatten werden von sieben Obersten regiert.“ Ich denke, Regieren ist nicht der richtige Ausdruck, aber ich schweige. „Überall gibt es Bestien. Hier und hier und hier“, sagt er und tippt wahllos auf die Erde, die dabei flimmert, als gefiele es ihr, der Projektion, nicht von ihm berührt zu werden. „Und jeden Tag kommen Tausende dazu. Wir halten sie überall auf allen Kontinenten in Schach.“ Genauso wie alle unwissenden Menschen, ergänze ich in Gedanken. „Aber stell dir vor, es gäbe eine Möglichkeit, sie zu mobilisieren, alle zu kontrollieren.“ Jetzt weiß ich, was er vorhat.

„Asha“, purzeln die zwei Silben über meine Lippen. Trish zieht eine Augenbraue hoch. Der Oberste sieht mich verwundert an, dann spricht er weiter. Mist, denke ich, sie wissen nicht, dass ich es weiß. Dass ich Ashas Fähigkeiten kenne. Sie können nicht im Besitz von Jesses Flexscreen sein, denn sonst wüssten sie, dass Asha mit Bestien kommunizieren kann.

Aber wer hat es stattdessen? Fischer, überlege ich. Der Mann, der für die Sicherheit zuständig ist und die Röhren hat durchsuchen lassen, aus denen Hope, Neo, Adam und ich gekrochen kamen.

Ich folge wieder den Ausführungen des Obersten und wünsche mir, ich hätte keine Ohren, wäre taub für seine Ansichten der Dinge. Während er von der Herrschaft über die Erde spricht, blicke ich immer wieder zu Trish. Erkennt sie mich tatsächlich nicht wieder? Und kann sie das gut finden, was dieser kranke Geist neben mir von sich gibt?

Als sich unsere Blicke wieder treffen, lächle ich. Ein Versuch, die alten Zeiten zurückzuzaubern. Wir haben uns nie gut verstanden, fällt mir jetzt ein. Aber sie hat mich ans Ende der Liste bei der Prüfung gesetzt, als ich schwer verletzt war. Ich war ihr nicht gleichgültig. Ich weiß, sie wurde gelöscht, aber sie ist immer noch Trish.

Ich weiß nach dem Aufenthalt in Kristens Einrichtung nur zu gut, wie sich die Welten, die äußere und die innere anfühlen, wenn man gelöscht wurde. Aber ich weiß auch, dass ich einen freien Willen hatte. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ich Adam an die Kehle gesprungen bin. Ich frage mich, wie ich einen Zugang zu ihr bekommen kann? Eine Tür aufstoßen kann, denn meine innere Stimme sagt mir, dass wir sie mehr brauchen als sie ahnt. Nun, vermutlich lächle ich genau aus diesem Grund und weil mir nichts Besseres einfällt. Trish lächelt aber leider nicht zurück. Sieht mich stattdessen nur weiterhin ununterbrochen kühl und forschend an. Ich könnte sie etwas fragen, aber ich will nicht, dass der Oberste das Vertrauen in seine Assistentin in Frage stellt. Sie kann uns allen helfen, wenn sie nur auf der richtigen Seite stehen würde.

„Du erinnerst dich, hast du gesagt. Du weißt also, dass Asha deine Schwester ist. Du liebst deine Schwester und ich will, dass du deine Schwester überzeugst, dass sie mir dient“, sagt der Oberste jetzt. „Ich habe Symbionten erschaffen und ihr beide seid die einzigen Überlebenden. Bis vor wenigen Tagen dachte ich, dass ihr keine Fähigkeiten entwickelt habt, dass ihr nichts wert seid. Bis Asha die Bestien kontrolliert hat. Das ist mehr wert als tausend Symbionten. Ich will, dass sie die Bestien für mich in den Krieg schickt und du wirst sie davon überzeugen, dass es richtig ist, das für mich zu tun.“

Ich bin taubstumm. Er weiß es doch.

„Freija, hör mir zu, ich werde dir keine zweite Chance geben zu kooperieren. Entweder bist du für oder gegen mich. Es gibt kein Dazwischen. Entweder identifizierst du dich mit mir, oder ich werde Adam und Hope und alle, die dir lieb sind, vernichten“, sagt er und ich bemerke, wie er zu Trish sieht. Sie nimmt davon keine Notiz. Ich schon.

„Ich habe die Lampe im Bad aus Versehen kaputt gemacht“, sage ich wieder.

„Was?“

„Die Lampe im Bad ist kaputt“, sage ich.

„Was erzählst du da für einen Schwachsinn?“

„Die Lampe muss repariert werden…“, flüstere ich.

„Ganz wie du meinst“, sagt der Oberste.

Ich befürchte, er wird die Lampe nicht reparieren.

Kapitel 4

Die Zeit, Stunden verbringe ich wie in Trance. Die Uhr, die ich nicht besitze, zehrt Minuten auf. Ich kann nicht sagen, wie viele Stunden später es sind, als mich Fischer aus meiner Zelle befreit. Als ich zerknirscht hinter ihm herhumple. Schwerfällig dem Mann folge, der kein Gesandter ist, aber der die Drohnen kommandiert, die mich und Hope fast getötet haben. Er ist der Sicherheitschef von Halo. Das ist der Gesandte, der diese Forschungseinrichtung kontrolliert. Und er ist der, der gegen das Protokoll verstoßen hat, weil er mit mir gesprochen hat.

 

Ich weiß nicht, wohin es geht, weiß nur, dass er mir etwas zeigen will. Ich denke an das Gespräch mit dem Obersten zurück und erwarte nichts Gutes.

Uns folgen schwer bewaffnete Vollstrecker. Ich hätte nicht die geringste Chance zu kämpfen oder zu fliehen, bestimmt auch nicht mit einem gesunden Bein, denn ich fühle mich schwächer, so als ob das Gespräch mit dem Obersten von meinen Energiereserven gezehrt hat. So als ob mich seine bloße Anwesenheit erschöpft hat.

Die Halle mit den Laboratorien, mein Zuhause, haben wir vor mehr als einer halben Stunde verlassen. Wir sind jetzt ein paar Sektorebenen nach unten, tiefer gefahren und folgen hier Gängen und Schächten, wo Wasser von der Decke tropft, in denen Rohre und Leitungen offen liegen. Durchqueren Hallen in unterirdischem Fels, auf Stegen und Brücken aus Metall, die alt und verrostet sind. Ein Wirrwarr aus verschachtelten Höhlen. Ein Labyrinth.

Das ist kein offizieller Weg, denke ich.

„Das ist keine Abkürzung“, sagt Fischer, als könnte er meine Gedanken gelesen. „Ich habe diesen Weg gewählt, weil er nicht überwacht wird. Hier werden wir nicht belauscht.“

Warum verrät er mir das? Kann ich ihm vertrauen? Keiner meiner Sinne schlägt Alarm. Fischer bleibt stehen, damit ich zu ihm aufschließen kann. Er trägt eine wattierte Weste, eine braune Cordhose und schwarze Stiefel. Hat den Anzug eines Geschäftsmannes abgelegt. Eine seltsame Wandlung? Sicherheitschefs können offensichtlich tragen, was sie wollen. Anders als Vollstrecker in ihren kitschigen roten Rüstungen.

Wir stehen auf einer wackeligen Brücke. Auf einem Metallgitter, das mir Blicke auf den 20 Meter entfernten, unter uns liegenden Boden ermöglicht, gerade so breit, dass wir nebeneinander Platz haben. Die Vollstrecker bleiben hinter uns zurück, die Waffen immer im Anschlag. Ich muss mich am Geländer festhalten, bin etwas außer Puste, vom langsamen Humpeln. Prima.

Mechanischer Lärm umgibt uns.

Diffuses, dumpfes, graues Licht.

Beides stammt von einer gewaltigen Maschine mit tausenden blinkender Lämpchen und Rohren und metallenen Aufbauten, Kesseln Platten, Leitern und Leitungen. An einigen Stellen ist sie triefnass. An anderen staubtrocken. Die Maschine sitzt wie ein gewaltiger Drache aus Metall in dieser, ich nenne es: Höhle. Sie speit Dampf und heiße Luft hier und da aus. Es fehlt nur das Feuer, dann wäre alles perfekt inszeniert.

Fischer spricht und ich habe Mühe ihn zu verstehen, weil die Maschine, der Drache zu laut atmet.

„Faszinierend, wozu Ingenieure in der Lage sind. Sie kann Wasser und Sauerstoff wiederaufbereiten. Ein Relikt aus der Zeit vor der Sektionierung. Eine Vorkehrung für den Fall, dass man lange unter der Erde verbringen muss.“

„Wozu sollte das nötig sein? Lange unter der Erde leben zu müssen?“, frage ich nach einer Sekunde heißer.

„Die Angst vor Atomwaffen. Ein paar Kilo einer Substanz, die millionenfache Energie freisetzen kann. Der Komplex der neuen Forschungseinrichtung wurde über sehr alten Strukturen, alten militärischen Anlagen errichtet. Ab Sektorebene fünf kann alles abgeriegelt werden. Kein Luftmolekül, keine Funkwelle, nichts kann dann mehr raus oder herein. Bis sich die Schleusen wieder öffnen. Ein verlockender Gedanke. Findest du nicht?“

Ich sage nichts, versuche mich nur irgendwie auf den Beinen zu halten, was ein Großteil meiner Aufmerksamkeit erfordert.

„Die Maschine wurde nie abgeschaltet. Aus Furcht, man bekäme sie nicht mehr zum Laufen. Ich denke, es gibt keine Welt ohne Angst. Wirst du das tun, was der Oberste von dir verlangt?“, fragt Fischer.

„Was verlangt er denn von mir?“

„Dass du seiner Gruppe angehörst, seine Ziele verfolgst.“

„Niemals“, sage ich. „Und du? Bin ich hier, weil du mich aushorchen willst, oder ist es etwa das hier, das du mir zeigen willst? Eine Maschine aus der Vergangenheit“, frage ich. Eine Vergangenheit, die sich nicht besser als meine Gegenwart anhört. Angst vor Atomwaffen? Streben die Menschen denn immer danach, etwas zu erfinden, das dazu geeignet ist, sich selbst auszulöschen.

„Ja. Sie gehört dazu. Die Maschine soll dir zeigen, dass sich manche Dinge nie ändern, aber andere schon“, sagt er und dann holt er etwas aus seiner Jackentasche.

Ich sehe ein kleines Buch. Kein zusammengefaltetes Flexscreen. Es ist altmodisch. Es besteht aus Papier, so wie mein Tagebuch. Mein Tagebuch, das ich verloren habe und ich nicht weiß, wer es hat.

Fischer schlägt es auf, blättert durch die Seiten und ich sehe Bilder. Eine Frau mit braunen Haaren, mittleren Alters. Sie trägt einen locker gestrickter Pullover. Er ähnelt vom Stil Fischers Weste. Sie trägt eine Mütze und darunter befindet sich ein Gesicht, das lächelt und so glücklich wirkt. Sie umarmt zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Das Mädchen ist klein und zierlich, sieht aus wie eine Maus. Wunderhübsch und der Junge hat ein Lächeln, dass mir das Herz wild in der Brust flattert. So unbekümmert und mild. Eine Familie. Eine echte Familie, denke ich wehmütig.

„Das ist meine Liebe“, sagt Fischer und ein Lächeln ruht in seinen Mundwinkeln. Ich schweige und schlucke Staub in meiner Kehle hinunter.

„Ich hoffe, ich werde sie eines Tages wieder in meine Arme schließen können. In einer besseren Welt. Ohne Angst.“

Warum sagt er mir das?

Kapitel 5

Ich habe es von Fischer nicht erfahren, warum er mir seine liebe Familie offenbart hat.

Stattdessen gehen wir weiter, lassen die Bilder, Erinnerungen an Frau und Kinder bei dem Drachen zurück.

Ich folge ihm, humpelnd.

Wir erreichen nach einer gefühlten Unendlichkeit eine Tür aus feuerfestem Stahl, das verrät mir das Piktogramm an ihrer Seite. Wir gehen hindurch, stehen wieder in einem Korridor. Weiße Fliesen, helle LEDs, kein Rost und Lärm. Hier ist es kälter oder bilde ich mir das nur ein. Die Gänge riechen nach Sauberkeit.

Wir befinden uns wieder im überwachten Bereich, in offiziellen, unterirdischen Sektoren, erfahre ich von Fischer, der mir etwas verheimlicht, der aber auch auf meiner Seite zu stehen scheint. Hoffe ich. Oder will er auch nur, dass ich auf seine Seite wechsle?

Noch eine Tür und ein weiterer Korridor. Diese Anlage ist so unüberschaubar, so groß, so unterirdisch und unnatürlich. Ich vermisse die Bäume und das Spiegeln der weißen Wolken im See. Den blauen Himmel und den Wind, der an meinen Haaren zieht.

Wir sind angeblich da. Kommen jetzt in eine kleine Halle, blicken in etwas hinab, das mich an ein riesiges Hallenbad, nur ohne Wasser, erinnert. Unter mir, in den Wänden des großen Beckens, entdecke ich die gleichen Panzerglasscheiben wie die in meiner Zelle.

Ich kann nicht sehen, wer oder was sich dahinter befindet und hier sind noch mehr Vollstrecker in Rüstungen, die uns gegenüber stehen und ihre Waffen in das Becken und auf mich richten. Ich habe schreckliche Vorahnungen und im Augenblick nur einen Wunsch, nicht an einem solchen Ort sterben zu müssen.

Fischer führt mich in einen weiteren Raum, nebenan. Weiß gekalkte Mauern und eine Scheibe mit Blick in das Becken. Es ist hier so hell, dass sich meine Augen erst daran gewöhnen müssen. Dann sehe ich Screens, wo immer meine Augen hinblicken und Schaltpulte. Ich sehe Korridore auf den Screens und Zellen in denen Menschen, junge Männer wie Sardinen in einer Büchse zusammengepfercht wurden. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Für einen Moment glaube ich, ich habe etwas gesehen.

Nicht etwas, sondern jemanden.

Ich schüttle den Gedanken ab, weil ich mich getäuscht haben muss. Jetzt erst entdecke ich den Mann, der hinter mir steht. Wie ist er da hingekommen?

Der Mann ist mir so nahe, dass ich die Staubkörner auf seinen Brillengläsern sehen kann.

Er ist attraktiv, daran besteht kein Zweifel. Hat eine fast schon dramatische Ausstrahlung, die den Raum in seiner unmittelbaren Nähe zu krümmen scheint, sodass er in noch hellerem Licht erscheint. Als hätte jemand einen Spot auf ihn gerichtet.

Er ist außerordentlich groß, wirkt extrem hoch, groß, breit, kraftvoll, etwas Felsiges geht von ihm aus und wenn ich Fischer neben ihm betrachte, wirkt er noch größer. Seine Gesichtszüge, sein dunkles Haar, die braunen Augen sind bemerkenswert schön. Sein Körper sieht zäh, geschmeidig, muskulös aus, von animalischer Grazie und herausfordernder Sexualität.

Sein Mund ist breit und markant, sein Kinn breit und viereckig, wie es sein muss, um ein Gegengewicht zur Stirn zu bieten.

Es ist seine Ausstrahlung, sein Aussehen, das mir einen Schauer verursacht. Nur der teuflische Ausdruck in seinen Augen macht mir Angst und jagt mir einen Schrecken ein. Wer ist er? Kenne ich ihn oder bilde mich mir das nur ein?

„Fischer, schaffen Sie Ihren verdammten Arsch hier raus und lassen Sie mich mit dieser Missgeburt allein.“

Ich spüre, wie meine Fasern zittern, meine Beine noch wackeliger werden. Ich lehne mich hilfsbedürftig an die Glasscheibe und wünsche mir eine Gelegenheit zum Hinsetzen, die es hier nicht gibt. „Ich bin Halo, der schlimmste Alptraum, den du dir vorstellen kannst.“ Er macht mir solche Angst. Er ist Halo. Der Gesandte, der diese Forschungseinrichtung leitet. Das weiß ich von Fischer. Wollte er mich auf dieses Gespräch vorbereiten? Mich warnen?

Ich blicke Halo an und verfolge ängstlich jede seiner Bewegungen.

„Erstaunlich“, sagt er. „Du siehst aus wie sie. Es gibt nur einen winzigen Unterschied. Du bist noch am Leben.“

Ich habe keine Ahnung, von was er spricht. Oder von wem? „Das hier habe ich gefunden. Es gehört dir“, sagt Halo dann, aber es ist keine Frage, es ist eine Feststellung.

Er hat etwas bei sich.

Zwei Dinge die drohen, meine Gefühlswelt hier auf der Stelle, sofort zu überwältigen. Die mich ihm ausliefern, umstülpen, mein Innerstes nach außen kehren.

Ich blicke auf mein Tagebuch in seinen Händen und die Versuchung ist groß, es ihm aus den Fingern zu reißen, egal mit welchen Konsequenzen ich zu rechnen hätte. Ob sie mich wirklich erschießen würden? Wegen einem Tagebuch? Vermutlich würde er es selbst erledigen, denke ich und blicke auf die Pistole an seinem schmalen Gürtel, auf seine gewaltigen Hände und seine Muskeln.

Aber es mir zurückzuholen, ist natürlich sinnlos. Halo hat es längst gelesen. Weiß, was ich geschrieben habe. Weiß, was mich bewegt, wen ich liebe, was ich vermute, an was ich mich erinnere. Mein Gehirn ist wie schockgefrostet, meine Knie zittern wie Espenlaub, als er weiterspricht.

„Aber ich weiß nicht, wo derjenige ist, dem das hier gehört. Aber du wirst es mir gleich sagen. Du wirst ihn mir ausliefern. In den nächsten paar Minuten“, sagt der Gesandte Halo und bewegt Jesses Flexscreen in seiner anderen Pranke hin und her.

Ich bin taubstumm, teilnahmslos. Das ist wahrhaftig ein Alptraum.

„Deine Schwester und du, ihr habt einigen Staub aufgewirbelt. Aber das kümmert mich nicht. Ich weiß, wer du bist. Was du bist“, sagt er dann. „Du bist eine Missgeburt und für Wesen wie dich gibt es nur eine Bestimmung auf dieser Welt“, sagt er, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Er hat mein Tagebuch gelesen und er hat Jesses Flexscreen.

Dann zeigt er mit seiner riesigen Hand zur Tür.

„Raus mit dir, Missgeburt!“, lacht er und es ist ein einzigartiges, aggressives und überhebliches Lachen.

Plötzlich will ich ihn nur noch umbringen, dafür, dass er mich Missgeburt nennt, dafür, weil ich spüre wie abgrundtief böse er ist. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, will dass meine Tattoos erwachen, aber es passiert nichts. Halo zückt blitzschnell seine Waffe und drückt sie mir mitten auf die Stirn.

„Netter Versuch, aber du musst noch einiges lernen. Jetzt beweg dich, bevor ich es mir anders überlege und dich doch noch abknalle!“

Ich befolge seinen Befehl, denn es gibt nichts entgegenzusetzen. Ich habe nichts entgegenzusetzen.

Ich stehe jetzt direkt über dem kahlen, leeren Becken und mein Tagebuch und Jesses Flexscreen sind in greifbarer Nähe und doch Welten entfernt. Ich wünsche mir, ich könnte zaubern. Die Vollstrecker wegzaubern, damit ich mir das zurückholen kann, was mir gehört.

„Wir führen genaue Statistiken über unser Kapital. Aber in dem ganzen Chaos, das deine Schwester und du angerichtet haben, sind unsere Systeme etwas durcheinander geraten. Ich weiß dennoch genug“, sagt Halo. Er macht eine abfallende Bewegung mit seiner Hand. Wenn sich Menschen kennenlernen, prägt sich zuallererst das Äußere ein. Ich erinnere mich jetzt gerade daran, wie ich Adam das erste Mal sah. Ich fühlte mich angezogen, war irgendwie sofort verliebt. Halo stößt mich ab. Ich hasse ihn, als wären wir Todfeinde aus einem vergangenen Leben.

 

„Die da sind nicht registriert und haben das passende Alter. Und du wirst mir sagen, wer es ist, dem das Flexscreen gehört“, sagt er und dann öffnet sich plötzlich eine der Trennwände in dem Becken unter uns.

Ein Vollstrecker mit tiefer Bassstimme erteilt einen Befehl und einer nach dem anderen torkeln junge, erwachsene Männer aus dem Raum dahinter heraus in das Becken. Ihre Augen sind leer wie die von Zombies, ihre Bewegungen gequält langsam. Ein gewaltiger Geruch nach ungewaschener Haut steigt zu mir empor und ich zähle sie. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn Gelöschte.

Plötzlich höre ich abrupt auf zu zählen. Er betritt den Raum. Mein Herz macht einen Aussetzer. Es ist tatsächlich Jesse, der jetzt das Becken betritt. Und er verhält sich wie die anderen, blickt nicht hoch, sieht mich nicht. Ist wie ein Zombie. Oh Gott, nein!

Mein Herzschlag setzt aus. Schon wieder. Mein Mund ist staubtrocken, ich kann nicht schlucken.

Jesse ist der Vorletzte. Nur noch ein blonder Junge folgt ihm, dann kommt keiner mehr. Ich schaue hinab, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Unfähig mir auszumalen, was als nächstes passieren könnte. Dort unten steht Jesse. Nur ein paar Meter von mir entfernt. Ich versuche zu atmen, ruhig zu bleiben, mir keine Sorgen zu machen. Plötzlich treffen sich unsere Blicke und ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen, dass mir verrät, dass er nicht so ist wie die anderen.

Er wurde nicht gelöscht. Noch nicht. Verstört schaue ich mich zu Halo um und hoffe, er hat nichts bemerkt und hoffe, er hat nicht die Angst, so wie ich, in Jesses Augen gesehen. Und sieht jetzt nicht die schreckliche Furcht in meinen Augen.

„Es gibt unendlich viele wissenschaftliche Abhandlungen und philosophische Betrachtungen darüber, wie man einen Menschen am einfachsten dazu bringt, mit der Wahrheit herauszurücken. Alles Quatsch. Ich kenne die effektivste Methode.“ Halo zielt mit seiner Pistole auf den Kopf von einem der Jungs und drückt ab. „War er das?“, fragt mich Halo. Oh Gott, der Junge ist tot. Einfach so. Ich weiß, was Halo wissen will, aber ich weiß nicht, was ich antworten soll, was für Folgen meine Antwort hätte. Wie viele wird er noch erschießen?

Ich schweige für einen Moment, versuche Zeit zu gewinnen, mir etwas einfallen zu lassen, die Wahrheit zu verschweigen. Aber mir fällt nichts ein. Nicht in der kurzen Zeit, bis Halo wieder das Wort ergreift, wieder seine Waffe erhebt.

„Ist er dabei. Jesse ist sein Name. Ist er dabei?“, fragt er mich und nicht die Menschen, die wie Schlachtvieh unter uns in dem Becken stehen und auf etwas warten, für das ich in meinem Verstand keinen Raum gewähre. Und dann zittern meine Knie, weil diese Situation so surreal ist und die Schiene an meinem Bein will mein Zittern ausgleichen und summt mechanisch und elektrisch, als hätte sie einen Defekt.

„Schweigen ist auch eine Antwort“, sagt Halo. „Erschießt sie alle“, befiehlt er so plötzlich, ohne mir eine weitere Gelegenheit zu geben. Die Vollstrecker laden die Gewehre durch.

Oh Gott.

Ich sehe Unmengen von Blut vor meinem inneren Auge. Ich kann den Befehl nicht rückgängig machen, dazu ist keine Zeit. Es sind die Bruchteile einer Sekunde, die ich nutze, weil ich es kann, weil ich immer noch ein Symbiont bin, weil sich die Zeiger der Uhren für mich langsamer drehen. Weil eine Sekunde in meiner Welt mehr ist als 100 Hundertstel.

Ich habe keine Gelegenheit, keine Hundertstel für Worte. Der Schall ist zu langsam, das Gehirn der Vollstrecker zu träge, um das Unvermeidliche zu unterlassen, um den Tötungsbefehl nicht auszuführen.

Die Vollstrecker schießen und ich springe im gleichen Augenblick.

Bin über dem Becken und weiß nicht was ich tue, versuche es nur so zu machen, wie Hope es machen würde.

Das Schild, es ist da, tatsächlich und es hält die Kugeln ab, sie alle zu töten. Wie dumpfe Schläge prallen sie auf und ich kann jede einzelne von ihnen spüren, wie sie die Waffen verlassen und in das Schild eindringen und dort alle ihre ballistische Energie verlieren. Und dann schreie ich, während ich weiter hinab falle.

„Oh Gott, nicht schießen. Nicht schießen, er ist es. Er ist dabei.“

Ich stürze, falle, höre Halos Befehl in meinen Ohren nachklingen und die letzten Schüsse explodieren. Ich spüre das Schild verschwinden, das nur für einige Sekunden da war. Zu mehr war ich nicht imstande.

Ich hoffe, bete einsilbig, inbrünstig zu Gott.

Und das alles in dieser kurzen Zeit und dann komme ich auf, weicher als gedacht. Körper haben mich aufgefangen und ich weiß nicht, ob es mit Absicht war, ob sie lebendig sind. Oder tot.

Jesse?

Ich sehe Blut, ein Junge, der in der Brust getroffen wurde, liegt unter mir. Oh Gott, wie schrecklich. Er ist fast tot, aber er ist nicht Jesse. Was ist das nur für ein schrecklicher, egoistischer Gedanke? Ich schaue mich um, sehe noch mehr Jungen die bluten, aber leben. Ich habe sie gerettet.

Alle, wenn sie jetzt schnell ärztliche Hilfe bekommen.

Dann ist er da. Endlich.

Jesse ist über mir, sammelt mich auf. Ich liege in seinen Armen, seinem Gesicht so nah und dann treffen sich unsere Blicke und wir lächeln uns an. Und das Lächeln strengt mich so sehr an. Ich bin so unendlich schwach und habe mich total verausgabt.

Ich lächle gequält. Ich lächle, weil ich Angst habe, dass es das letzte sein könnte, das ich tue. Weil ich mich so freue, ihn wieder zu sehen. Weil ich seinen Wunsch, den er mir über das Flexscreen mitgeteilt hat, nicht vergessen habe. Ich spüre nichts außer Vertrauen und Zuneigung und denke fast nicht daran, wie weich seine Lippen sich anfühlen könnten, oder wieso wir uns nicht jetzt und hier küssen sollten.

Ich bekomme nicht mit, wohin plötzlich alle anderen verschwunden sind. Selbst die Verletzten und der arme, fast tote Junge. Nur Jesse, Halo, Fischer, die Vollstrecker und ich sind noch da, als sich unsere Blicke wie Lippen voneinander lösen. Als ich mich hinstellen möchte, auf eigenen Füßen stehen will, aber ich es nicht aus eigener Kraft schaffe, als ich jemanden in die Hände klatschen höre, als ich noch so vieles andere um mich herum wahrnehme. Als die Welt erneut zusammenzubrechen scheint.

Halo klatscht spöttischen Beifall.

Es sind sein Blick, seine hasserfüllten Augen, seine abgrundtief böse Ausstrahlung, die mir unendlichen Kummer bereiten.

Es ist Halo. Er ist der, der mich ansieht, als wäre er ein Gewinner. Er, der gesehen hat, wie ich versucht habe, alle zu retten, weil ich so dumm war, Jesse nicht zu verraten.

Es sind seine grausamen, schönen Augen, die mir dabei zugesehen haben. Verdammt. Halo.

Er hat das eingefädelt. Er hat den Tötungsbefehl ausgesprochen, er ist ein Monster.

Es ist alles ein Spiel. Mit mir wird gespielt. Ich spüre erneut die Wut und den Hass in mir, mit dem ich eine Lampe zerstören konnte. Wow, eine Lampe. Wie mächtig ich doch bin.

Aber ich weiß, es bedeutet so viel mehr. Ich habe mehr Fähigkeiten, habe Adams Computer mit Energie versorgt und Elektrizität erzeugt, habe Hopes Schild für einige Sekunden erschaffen. Ich bin zu mehr fähig, als nur die Luft anzuhalten und schnell zu rennen. Wenn nur mein Bein wieder funktionieren würde, wenn ich mich doch nur nicht so schwach, leer und ausgesaugt fühlen würde.

Ich will Halo umbringen. Jetzt. Will ihm die Kehle aufschlitzen und sein Leben aussaugen. Ich bin eine Missgeburt, hat er gesagt.

Ich löse mich aus Jesses Armen und mache einen Schritt auf meinen Feind zu und breche einfach nur hilflos auf der Stelle zusammen, bin tatsächlich leer, ausgebrannt, ohne Energie. Habe alle Reste aufgebraucht. Verdammt.