Begnadet - Wiedergeburt - Buch 3

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Aus der Reihe: Begandet #3
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Naomi - Gesetze der Mathematik

Liebend gerne wäre ich sitzen geblieben, nicht dem Strom der Studenten hinaus gefolgt. Es bleiben mir fünfzehn Minuten bis zur Mathevorlesung, von denen ich jede einzelne auf der Mädchentoilette verbringe. Ich bin vor ihm geflüchtet oder eher vor mir selbst?

Als ich als letzte den kleineren Hörsaal betrete, muss ich feststellen, dass sich Zac neben Nike gesetzt hat. Ein hübsches Mädchen und ein guter Mensch ist sie, soweit sich das aus ihrem beobachtbaren Verhalten ableiten lässt. Ich bin erleichtert, dass er nicht neben mir sitzt und trotzdem fließt die Mathevorlesung an mir vorbei wie ein rauschender Fluss. Ich sehe die Spiegelungen auf seiner Oberfläche, höre seine Geräusche, bin aber nicht in der Lage in die Tiefen abzutauchen. Dreimal mache ich den Fehler und blicke mich zu Zac und Nike um. Ich bin durcheinander, komme mir schließlich nur furchtbar naiv vor, weil ich sehe, wie die beiden auf einem Blatt Papier geheime Botschaften austauschen. Und trotzdem oder gerade deswegen, fühlt es sich plötzlich wie ein Befreiungsschlag an.

Die nächste Stunde habe ich Yoga und anschließend Jiu Jitsu. Ich habe gehofft, Phoenix wiederzusehen. Ich muss unbedingt mit meiner Psychotante reden, aber die Schlafmütze ist wohl noch immer nicht aus ihrem Bett geschlüpft. Da die Jungs - bis auf wenige Ausnahmen - die Muckibude besuchen, habe ich vor Zac und meinen verwirrenden Gefühlen ihm gegenüber Pause. Warum sich allerdings Nike genau neben mich mit ihrer Yogamatte legen muss, ist mir ein Rätsel. Vielleicht will sie damit prahlen, zweideutige Nachrichten mit Zac ausgetauscht zu haben. Ich versuche diese Tatsache, die ich während des Matheunterrichts beobachtet habe, zu ignorieren und konzentriere mich stattdessen darauf, meinen Bewegungsablauf zu verbessern, damit ich irgendwann beim Laufen nicht mehr aussehe wie eine wandelnde Maschine.

»Ist das nicht furchtbar unbequem, den ganzen Tag so ein Exoskelett zu tragen?«, fragt mich Nike, während wir uns im Kopfstand befinden. Anscheinend ist das Exoskelett längst kein Geheimnis mehr.

»Ich habe mich daran gewöhnt.« Tatsächlich ist es fast nicht zu spüren.

»Wie lange hast du das denn jetzt schon?«

»Dieses Jahr werden es zwei Jahre.«

»Und warum musst du es immer tragen?«

»Hör mal, was soll das?«

»Wie? Was meinst du?«, heuchelt sie und gleichzeitig kommen wir aus dem Kopfstand heraus, sitzen nebeneinander auf unseren Yogamatten.

»Na dieser krampfhafte Versuch, mit mir ein Gespräch zu führen. Wir hatten noch nie etwas miteinander zu tun, bis darauf, dass wir zufällig beide in Geschichte fast nebeneinandersitzen, und auch zusammen in Mathe, Yoga und auch sonst alle Fächer gemeinsam haben. Moment mal, bist du eine Stalkerin?«

»Was? Spinnst du? Nur weil wir die gleichen Fächer haben?«, sagt Nike beleidigt.

»Aber trotzdem. Also was ist los? Hast du ein schlechtes Gewissen?«

»Was? Wieso sollte ich?«

»Ich ...? Ach vergiss es!« Als Nächstes praktizieren wir den Schulterstand, diese Asana ist für mich eine der schlimmsten, weil ich meine Halswirbel und das sich anschmiegende Exoskelett dort noch am schlechtesten kontrollieren kann. Die mikroskopisch kleinen Atome kann ich mehr als bei jeder anderen Übung spüren, als ich diese Asana von ihnen abverlange.

»Du bewegst dich so dermaßen sanft und perfekt, zu perfekt für einen Menschen«, sagt Nike, die mir zuschaut, anstatt selbst zu üben. Ich gleite aus dem Schulterstand heraus und durchbohre das blonde, hübsche Mädchen mit meinen Augen. So habe ich das noch nie gesehen, ich dachte stattdessen immer, ich bewege mich wie eine Maschine. Egal!

»Nike, jetzt hör mal zu. Entweder sagst du mir jetzt, warum du plötzlich einen auf guten Kumpel machst, oder lässt mich in Ruhe Yoga machen.«

»Es ist Zac«, platzt sie heraus. Das habe ich mir schon gedacht, sage aber nichts. »Er hat mich ausgefragt und wollte alles über dich und dein Exoskelett wissen. Warum du es trägst und wie lange und warum du noch so jung bist und trotzdem schon in den Vorlesungen bist und ...«

»Stopp. Stopp. Stopp. Bitte halt mal die Luft an. Er hat was?«

»Er will alles über dich wissen!«

»Und da fragt er dich? Du weißt doch gar nichts über mich«, sage ich und dann fällt bei mir der Groschen. »Moment mal. Jetzt verstehe ich. Du fragst mich aus, damit du ihm mehr über mich erzählen kannst und so Zeit mit ihm verbringen kannst?«

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Er gefällt dir, oder?«

Dieses Mal ist es Nike, die nicht antwortet. Das Ende der Stunde erlöst uns und wir machen uns auf zum Kampftraining. Das persönlich meist geliebte und gleichzeitig gehasste Unterrichtsfach.

Naomi - Jiu Jitsu

Jiu Jitsu und ich, das ist eine Hass-Liebe-Beziehung.

Ich schiebe langsam meine Hände nach vorn, als drücke ich gegen ein unsichtbares Hindernis. Strecke meine Arme zur Seite aus, hebe ein Bein und drehe mich langsam um mich selbst, wie eine Balletttänzerin in Zeitlupe. Es ist meine eigene, langsame Art, mich auf die Stunde vorzubereiten, mich zu konzentrieren.

»Wir beginnen mit den Wiederholungen aus der letzten Stunde«, unterbricht unsere Lehrerin meine Konzentrationsübung. »Nike! Naomi! Ihr fangt an.«

Wir begeben uns in die Mitte des Raums, der einer kleinen Sporthalle mit riesiger Glasfront gleicht. Nike steht einige Meter entfernt und schon geht es los.

Mit einem Flick Flack wirbelt sie auf mich zu. Sie ist unglaublich schnell. Ihre Faust kommt aber im Vergleich dazu im Zeitlupentempo in Richtung meiner Brust. Ein Schritt zur Seite, den Unterarm in die Höhe reißend, entkomme ich mühelos ihrer Attacke. Das war zu einfach. Eine schnelle Körperwendung von mir und ihre Seite steht offen, völlig ungeschützt. Ich habe alle Zeit der Welt, den entscheidenden Treffer zu landen. Der Moment verstreicht. Nike sieht mir in die Augen. Sie versteht nicht, warum ich sie nicht angegriffen habe und ich finde nicht heraus, ob sie in der Lage gewesen wäre, mir auszuweichen. Offensive Gewalt liegt mir nicht. Außerdem heißt Jiu Jitsu im übertragenen Sinn: Siegen durch Nachgeben.

»Keinen Punkt. Der Kampf endet unentschieden!«, raunt Kyala, unsere Lehrerin in fernöstlichen Kampfkünsten. Sie ist eine gute Freundin meiner Mutter. Eigentlich bin ich auch nur wegen meiner Mutter in diesen Kampfkurs eingestiegen. Sie meinte, ich würde ihr eines Tages dankbar dafür sein, mich selbst verteidigen zu können. Mittlerweile liebe ich diese Stunde, die Art mich zu bewegen und zu reagieren. Einzig die Attacken hasse ich.

Nike und ich verneigen uns voreinander und ich habe das seltsame Gefühl, dass keiner von uns beiden seine zur Verfügung stehenden Potentiale in diesen Kampf gelegt hat.

»Jayden! Noah! Hört auf zu lästern! Ihr seid dran!« Ein paar der jüngeren weiblichen Anwesenden lachen und tuscheln, als die beiden Jungs lässig aus der Menge schlendern und Nike und ich den Kampfplatz für sie räumen. Ich bin mir sicher, die säuselnden und kichernden Grüppchen kommen nur wegen den beiden Jungs so overdressed oder besser gesagt, halbnackt ins Training. Ich muss zugeben, die beiden sehen durch die Augen einer Frau betrachtet, wirklich klasse aus. Sexy und interessant wie vermutlich alle Jungs Anfang zwanzig, die Wert auf das Formen ihres Körpers legen. Ich bin davon überzeugt, sie denken hundertprozentig das gleiche von den Mädchen. Hoffnungslose hormongesteuerte Teenagergehirne! Seltsam, dass unserer Rasse, der ich zur Hälfte angehöre, den Menschen in ihren Fähigkeiten überlegen ist, aber die Pubertät erst viel später einsetzt und erst mit dem einundzwanzigsten Lebensjahr, mit dem Ritual, seinen Abschluss erreicht. Pubertät hin oder her. Das alberne Getue nervt.

Der Kampf zwischen Jayden und Noah ist eine komplett andere Welt. Während auf Nike und mich Attribute wie Geschmeidigkeit, Tanz, vorausschauendes Handeln zutreffen, passen auf das Aufeinanderprallen der Jungs Ausdrücke wie Kraft, Tempo und Dynamik. Die Mädchen im Trainingsraum halten den Atem an. Noah kommt überraschend mit einem direkten Vorstoß durch. Seine Faust stoppt einen Zentimeter vor Jaydens Kinn.

»Treffer! Punkt für Noah«, kommentiert Kyala das beispiellose Manöver.

In diesem Augenblick geht die Tür zur Sporthalle auf und alle schauen hin, bekommen mit, wie Herr Davidi in Begleitung von Zac das Kampftraining unterbricht. Der Institutsleiter wirkt mehr denn je alt, krank und gebrechlich, so als würde er eine zentnerschwere Last herumtragen und langsam unter ihr zerbröckeln. Er sieht mich, lächelt melancholisch und dann wendet er sich an Kyala. Kurz darauf werden die anwesenden Begnadeten aufgeklärt, was das zu bedeuten hat und wer Zac ist.

»Das ist Zac«, teilt uns Kyala mit und wir sollen uns um ihn kümmern. Das alberne Gackern der pubertierenden Mädchen im Raum ist nicht auszuhalten. Gott, hoffentlich werden die bald erwachsen.

Irgendwann verstummt das Kichern im Raum und schon geht das Training weiter. Für einige Augenblicke zieht Zacs lässige und coole Art einmal mehr meine Aufmerksamkeit in seinen Bann. Ich könnte noch immer nicht behaupten, dass er besonders hübsch wäre, aber auf alle Fälle hat seine Erscheinung etwas Auffallendes, dessen Ursprung ich immer wieder an seinen Augen festmachen könnte, dann geht der Kampf weiter und alle sehen zu.

Noah entscheidet das Duell mit drei zu null Treffern für sich. Best of five.

Während Kyala in den nächsten Minuten erklärt, wie wichtig die Blocktechniken sind, beobachte ich den Jungen, der meine Gefühle ganz schön durcheinanderwirbelt. Mir gehen die Briefchen aus der Geschichtsvorlesung nicht aus dem Kopf und auch nicht, dass er Nike nach mir ausgequetscht hat. Wie er da so bequem steht und mit den anderen Jungs spricht, das bringt mich zum Nachdenken und ich ringe mit mir, ob ich ihn nun süß finden soll oder arrogant.

 

Just in diesem Moment wendet er sein Gesicht mir zu, als würde er es merken, dass meine Gedanken um ihn kreisen. Unsere Blicke treffen sich und ich halte seinen durchdringenden, blauen Augen stand, dann lächeln wir beide fast zur gleichen Zeit und mein Herz macht einen Aussetzer. Ich habe definitiv Schmetterlinge im Bauch. Ich hasse meinen Körper für diese unangekündigten Reaktionen.

Mein Verstand schaltet sich wieder ein und ich entsinne mich an einen schlauen Spruch von Eve: Liebe ist nur eine Illusion, die wie eine Welle an den steilen Klippen der Realität bricht und sich in der Gischt verliert, sobald man den wahren Menschen hinter den eigenen Wunschvorstellungen kennenlernt. Himmel, ich spreche von Liebe. Ich bin definitiv geistesgestört, benötige dringend eine Sitzung auf der Psychocouch von Phoenix.

»Und übrigens: Egal, für welche Technik ihr euch entscheidet, im Moment des Auftreffens der Faust muss das hintere Bein Bodenkontakt haben. Damit erhält der Schlag die nötige Stütze und er wird dadurch viel kräftiger«, erklärt Kyala. »Das nennt sich Anschieben.«

Wir üben das Anschieben gegen imaginäre Gegner und ich verbinde die Schlagtechnik mit der Atmung, die ich im Yoga gelernt habe. Kyala bemerkt meine eigenwillige Kombinationsgabe und duldet es mit einem Augenzwinkern. Sie hat einmal gesagt, ich wäre eins ihrer hoffnungsvollsten Talente. Wenn sie wüsste, dass ich nachts Jagd auf Bösewichte mache, dann würde sie das aus einem anderen Blickwinkel sehen.

»Wenn ihr das ein paar Mal gemacht habt, könnt ihr versuchen, das Anschieben mit der eigentlichen Schlagbewegung zu verbinden. Erst ganz langsam und fließend, dann, mit zunehmender Sicherheit, immer schneller werdend. Und denkt daran, die Arme im Interesse des Ellenbogengelenks nicht bis zur Vollstreckung zu bringen, ja?«

Wir üben auch diese Form ein paar Minuten, bis Kyala zum nächsten Element kommt.

»Soll Distanz zum Gegner überwunden werden, ist es möglich, den Schlag gleichzeitig mit einem Ausfallschritt zu kombinieren. Das sieht dann so wie bei den Fechtern aus. Ist jemand von euch im Fechtunterricht?«

Zac hebt als einziger seine Hand.

»Oh das ist super. Würdest du das bitte einmal vormachen?«

Zac nickt, tritt in den inneren Kreis unserer Gruppe und zeigt uns, wie es geht.

»Super! Beobachtet sein plötzliches Voranstürmen, das ist der überraschende Moment, mit dem der Gegner nicht rechnet. So und jetzt sucht euch einen Partner und übt zusammen. Während der eine angreift, versucht der andere, den Schlag zu blocken oder auszuweichen. Nach ein paar Versuchen wechselt ihr die Rollen.«

Ich schaue mich um. Alle finden ihre gewohnten Trainingspartner nur ich bleibe gerade allein, weil meine Partnerin noch immer nicht zum Unterricht erschienen ist. Wo verdammt noch mal ist Phoenix?

»Willst du zuerst angreifen oder dich verteidigen«, fragt mich plötzlich jemand, der von hinten auf meine Schulter tippt. Zac!?

Ich drehe mich um, ertappe mein Herz dabei, wie es sein verschmitztes Lächeln ganz reizend findet. Er und ich sind die beiden letzten Übriggebliebenen.

»Du und ich?«, frage ich.

»Sonst sind alle vergeben, wie es aussieht.«

»Ich will verteidigen. Ich bin nicht sonderlich gut darin, die Initiative zu ergreifen.«

»Anzugreifen hat nichts mit Initiative zu tun. Tatsächlich verhält es sich gegensätzlich. Durch die Art und Weise wie sich der Verteidiger verhält, wie er dreinblickt, aggressiv oder passiv, ob er sich nach vorne oder hinten bewegt, die Haltung seiner Arme, also die ganze Körpersprache sind entscheidend, ob er einen Angriff wie einen entgegengesetzten Pol anzieht. So gesehen ist sogar der Verteidiger derjenige, der die Initiative ergreift.«

»Wie ein Pol? Interessanter Vergleich. Und was sagt dir meine Körpersprache? Bin ich ein Plus oder Minuspol?«

»Das kann ich noch nicht beantworten.«

Eine kurze Pause entsteht, in der keiner etwas sagt. Ich habe den Eindruck, Zac sammelt sich, dann zieht er scharf die Luft ein.

»Egal ob Plus oder Minus, auf alle Fälle zieht es mich seit gestern immer wieder zu dir hin. Ich würde ganz gerne einen Vorstoß wagen«, sagt Zac dann mit einem entwaffnenden Lächeln.

»Ich muss dich aber warnen, ich bin eine Spezialistin für Blocktechniken.«

»Alles andere würde mich sehr verwundern.«

Dafür ramme ich Zac meinen Ellenbogen in die Seite. Es sollte eine neckische Geste sein, stattdessen bleibt ihm für einen Moment die Luft weg und er geht mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie. Damit hat er wohl nicht gerechnet. Ich auch nicht. Eigentlich bin ich gar nicht so tollpatschig.

»Oh, das tut mir leid.«

»Du hast Glück, dass du ein Mädchen bist.« Ich reiche Zac meine Hand.

Wir stehen uns gegenüber und ich halte immer noch Zacs Hand fest, als meine Reflexe die Kontrolle übernehmen und ich meinen linken Arm hochreiße. Ich wirble in die gleiche Richtung herum. Zac taumelt und ehe er wieder einen festen Stand hat, stelle ich ein Bein hinter ihn, greife quer über seine Brust und werfe ihn mit meinem Körpergewicht um. Die Verblüffung steht ihm ins Gesicht geschrieben und während ich gerade realisiere, dass ich ihn schon wieder von den Beinen hole, schlägt Zac auf dem Boden auf und bleibt erst einmal liegen.

»Wow, das war ein perfekter Angriff!«, lobt mich Kyala und geht gleich weiter zum nächsten Paar.

»Sie ist aber die Verteidigerin«, beklagt sich Zac atemlos, aber Kyala hört es nicht.

»Scheiße! Es tut mir leid«, sage ich und suche Blickkontakt.

Seine blauen Augen funkeln wütend und er sieht aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. Er bekommt wieder Luft, kriegt aber immer noch fast keinen Ton heraus.

Ich reiche ihm meine Hand.

Verstört und irritiert zugleich schaut er erst mich und dann meine Hand an, als wäre es eine gefährliche Waffe oder etwas Vergiftetes oder dergleichen.

Zac setzt sich auf und dann fängt er plötzlich an, zu lachen. Er lacht so heftig, dass ihm die Tränen kommen, er kaum noch Luft bekommt und alle im Trainingsraum zu uns hergucken.

»Alles klar?«, frage ich perplex.

»Natürlich«, erwidert Zac sarkastisch.

Ich reiche ihm wieder meine Hand.

»Nein, danke, ich ziehe es vor, dieses Mal alleine aufzustehen.«

»Kann ich sogar ein wenig verstehen«, räume ich ein.

»Das war verdammt gut. Respekt!« Ich lache leise und schaue dann zu ihm auf.

»Bist du nicht sauer? Ich kann es ja selbst nicht fassen, was ich gerade getan habe.«

Er sieht mich stirnrunzelnd an.

»Du hättest mich ruhig darauf vorbereiten können. Also, dass der Kampf schon anfängt und dass du jetzt doch die Rolle der Angreiferin übernehmen willst.«

»Hätte ich, klar! Ich habe das aber nicht unter Kontrolle. Dieses Exoskelett hier, das macht manchmal einfach, was es will«, erkläre ich, aber ich bezweifle, dass er versteht, von was ich spreche. Ist auch ziemlich kompliziert zu erklären, dass mein Exoskelett direkt mit meinem Zentralnervensystem gekoppelt ist. Es analysiert Bewegungsmuster, erkennt Gefahr und löst Reflexe und Abläufe aus, bevor mein Gehirn es verhindern kann. Das muss ich unbedingt noch besser in den Griff bekommen, nicht das mal etwas Schlimmes passiert.

»Es schaute aber alles andere als unkontrolliert aus«, meint Zac. Manchmal hasse ich mein Exoskelett. »War aber ganz nett, von dir aufs Kreuz gelegt zu werden«, ergänzt er lächelnd.

»Bist du mir nicht böse?«

»Du siehst gerade dermaßen zerknirscht drein, dass ich dir unmöglich böse sein kann. Du musst mir erklären, wie du das gemeint hast. Also die Sache mit dem Exoskelett und der Kontrolle darüber.«

»Hat dir das Nike nicht schon alles erzählt?«

Zac schaut überrascht, dann realisiert er, was ich meine.

»Bist du sauer, dass ich sie nach dir ausgefragt habe?«

»Nein, eher verwirrt!«

»Warum?«

»Weil du mich nicht selbst gefragt hast.«

»Tut mir leid!« Einen Augenblick später fügt er hinzu: »Ich hätte dich fragen sollen, aber du warst nicht auffindbar. Ich habe dich nach Geschichte überall gesucht.«

»Ich habe mich auf dem Klo versteckt.«

»Wovor?«

»Vor dir oder mir. Ach ich weiß es selbst nicht genau«, sage ich und senke meinen Kopf.

»Alles okay?«, fragt er mich und hebt mein Kinn mit seinen Fingern wieder an.

»Denke schon.«

»Ich finde dich wirklich sehr hübsch«, sagt er.

Wow, das ist mal direkt.

»Ich dich nicht. Also nicht sehr ...« Ich verstumme. Oh, mein Gott! Könnte mich mal bitte jemand sofort aus dem Fenster schmeißen! Habe ich das jetzt gerade wirklich gesagt?

»Autsch!«, sagt Zac und verzieht sein Gesicht, als hätte ich ihn mit einem erneuten Schlag getroffen.

»Aber nach der Geschichtsvorlesung und in Mathe, da habe ich an dich gedacht«, versuche ich, den Moment gerade irgendwie zu retten. Geschafft, er lächelt wieder.

Wir sollten weiter trainieren, stattdessen flirten wir. Auf eine eigene, ganz spezielle und intime Art bekunden wir unser gegenseitiges Interesse. Aus dem Augenwinkel sehe ich Jayden. Er beobachtet uns. Beobachtet mich. Aber seine Aufmerksamkeit lässt mich gerade völlig unberührt. Er ist Phoenix Freund, was guckt er also so?

Ich habe jetzt keine Lust mehr zu trainieren. Das hatte ich eigentlich noch nie, aber jetzt gerade sinkt meine Motivation auf den absoluten Gefrierpunkt und ich würde viel lieber mit Zac von hier verschwinden und mich mit ihm irgendwo an einem abgelegenen Fleckchen weiter unterhalten.

In diesem Augenblick geht die Tür zum Trainings-Raum schon wieder auf, alle blicken hinüber, wer uns dieses Mal stört. Es ist wieder Herr Davidi.

»Herr Davidi? Sie schon wieder?«, fragt Kyala.

»Naomi!«, sagt er dann streng und geradeheraus. Ich hasse es, wenn so mit mir umgesprungen wird. »Ich muss dich bitten, sofort mitzukommen.«

Naomi - Genesungsgate

»Ich verstehe das nicht«, sagt Jayden. »Sie war gestern Abend noch so gut drauf. Ich bin sprachlos. Wir sind jetzt seit einem halben Jahr zusammen. Ich meine, ich hätte doch merken müssen, wenn mit ihr etwas nicht gestimmt hätte«, flüstert Jayden vor sich hin, während er ununterbrochen Phönix Hand streichelt.

Ich sollte aufstehen, um das Bett herumgehen und ihn in den Arm nehmen, aber ich bin nicht dazu in der Lage, mir fehlen die tröstenden Worte und mich beschäftigen die gleichen Fragen. Das Ausbleiben der Antworten, lässt eine nicht vorstellbare Leere zurück. Ich fühle mich hilflos, seit dem Moment als mir Herr Davidi vor ein paar Stunden gesagt hat, das Phoenix bewusstlos im Genesungsgate liegt.

»Morgen ist sie wieder auf den Beinen«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Dabei geht es gar nicht darum, was morgen ist, sondern, warum alle glauben, Phoenix hätte sich etwas angetan. Die beiden wichtigsten Tage deines Lebens sind der Tag, an dem du geboren wurdest, und der Tag, an dem du herausfindest, warum, sagte mir einst Eve. Sie liebt Weisheiten und gute Sprüche. Diesen hat sie von Mark Twain. Er wurde auch einer meiner Lieblingssprüche. Das Leben ist ein Geschenk, etwas Wundervolles und jeder von uns ist aus einem ganz bestimmten Grund hier, den es zu ergründen gibt. Das gilt auch für Phoenix. Das hat sie mittlerweile kapiert. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass sie sich das Leben mit einer Überdosis nehmen wollte. Mit meinen Medikamenten, die ich einnehmen muss, damit sich mein Leben verlängert. Nach Aussage der Heiler hat sie nur überlebt, weil sie einmal ein Junkie war und ihr Körper Gift in erhöhten Dosen gewöhnt ist.

»Bei der nächsten Zeremonie hätten wir verbunden werden können«, flüstert Jayden gedankenverloren vor sich hin.

»Ich weiß, alle reden von der Zeremonie.« Natürlich würde mich niemand zu der Zeremonie einladen. Erst bei Erreichen des einundzwanzigsten Lebensjahrs darf man dem Ritual beiwohnen. Erst nachdem man erwachsen ist, seine Wandlung durchgemacht hat, darf man das erste Mal zum Ritual. Dann wird man mit seinem männlichen Partner verbunden. Auf Lebzeiten und über den Tod hinaus, so heißt es in der Tradition, so steht es in den alten Schriften. Dort sollen angeblich alle unsere Namen stehen. Die aus den vergangenen Leben, aus dem Jetzigen und die aller zukünftigen. Dort stehen neben unseren Namen, die unserer Partner, die genetisch perfekt zu uns passen. Die Aufgabe der Priesterin ist es, die Schriften richtig zu deuten, damit da nichts schief läuft, damit die beim Ritual einander zugewiesenen, auch wirklich die, aus den alten Schriften sind.

 

Aeia hielt nicht viel von dem Hokuspokus. Für sie hat das Ritual nur symbolischen Charakter; mehr nicht. Letztlich ist es die Energie der Liebe, die die Partner zueinander hinzieht und keine Namen die nebeneinander auf altem Pergament stehen, sagt Aeia immer.

Ich bin da vollkommen ihrer Meinung und trotzdem bin ich wahnsinnig neugierig woher die alten Schriften stammen und warum das so wichtig ist, sich an die Partnerverbindung zu halten. Ich würde nur zu gerne einen Blick in diese Schriften wagen wollen. Nur aus Interesse. Was jedoch jedes Mal bei diesem Thema ein mulmiges Gefühl in mir zurücklässt, ist die Tatsache, dass sich Aeia und mein Dad schon vor Jahren getrennt haben und dass ihre Kinder, mein Bruder und ich, anscheinend nicht dazu bestimmt sind, die Volljährigkeit zu überleben. Dieses Band der wahren Liebe scheint also auch nicht ewig zu halten. Die Warnungen von Davidi, sich nicht mit einem Menschen zu paaren, waren wohl nicht unbegründet. Was wenn der Richtige für Aeia doch in den Schriftrollen steht? Was wenn es Onkel Vigor ist? Onkel? Natürlich ist er kein Onkel, sondern nur ein guter Freund von Aeia. Sie wurde mit Vigor beim Ritual verbunden, aber zusammen waren sie noch nie.

»Naomi?«

»Was?« Scheiße, es ist schon wieder passiert.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja klar! Was hast du gesagt?«

»Die Zeremonie findet nicht hier statt, sondern in Sankt Petersburg.«

»Was tut sie?«

»Die Zeremonie findet in Russland statt.«

»In Russland?«

»Ja. Dieser angebliche Austauschstudent. Wie heißt er gleich nochmal? Ich kann mir seinen Namen so schlecht merken.«

»Zac! Sein Name ist Zac.« Jayden schaut auf.

»Ja genau. Er hat uns davon erzählt. Er scheint alle anzusprechen, die für das erste Ritual bereit sind. Phoenix und ich müssen dort hin, um miteinander verbunden zu werden. Das ist, wie heiraten, nur für die Ewigkeit.« Jayden streicht zärtlich über Phönix Gesicht. »Meinst du die Heiler haben recht und sie ist morgen wirklich wieder auf den Beinen?«

»Ganz bestimmt«, sage ich und hoffe er hört die Unsicherheit nicht, die in meiner Stimme mitschwingt. Jayden scheint die Möglichkeit nicht zu sehen, dass es auch jemand anderes als er sein könnte, der mit Phoenix verbunden wird.

»Ich werde die ganze Nacht hierbleiben und ihre Hände halten«, sagt Jayden und lässt seinen Worten Taten folgen, holt sich auch ihre andere Hand. Ungeschickt reißt er dabei die Kanüle heraus, die in ihrem Handrücken steckt und Phönix Blut spritzt über die Bettdecke.«

»Ich denke, dieser Job ist leider schon vergeben«, sage ich und bringe innerhalb einer Minute alles wieder in Ordnung. »Du gehst jetzt besser und überlässt Phoenix den Profis«, erkläre ich ihm und es klingt einhundert Mal kompetenter, als ich mich fühle.

»Aber?«

»Kein Aber! Bitte geh jetzt! Ich versichere dir, du wirst der Erste sein, dem ich Bescheid gebe, sobald es ihr besser geht«, schwindle ich.

»Du kannst mich auch mitten in der Nacht aus dem Bett rauswerfen. Ich werde sofort kommen, egal zu welcher Zeit.«

»Das weiß ich Jayden«, sage ich ruhig und drücke seine Hand.

»Naomi, ich glaube an diese Sache. An das Ritual und das alles.«

»Okay Jayden. Das ist okay.«

»Naomi, ich meine nur, für den Fall, dass Phoenix nicht gesund wird, dann denke ich, ist das Schicksal oder so. Dann soll es so sein.«

»Jayden?«, frage ich und fürchte mich vor seinen nächsten Worten.

»Ich werde auf jeden Fall nach Sankt Petersburg fahren. Ich will, dass du das weißt.«

Als er das Gate verlassen hat, überfallen mich meine Gefühle. Sie kommen wie Meuchelmörder aus dem Hinterhalt. Rücksichtslos. Unbarmherzig. Zac spricht alle an, die für das Ritual bereit sind, nach Sankt Petersburg zu kommen. Ich erinnere mich an Davidis Worte:

In den alten Schriften steht, dass besondere Fähigkeiten, in der Nacht des Blutmondes auf ein auserwähltes Individuum unter den Begnadeten inkarniert. Fähigkeiten, die weit über das Maß hinausgehen, was wir uns darunter vorstellen können. Fähigkeiten, die einem Gott nahe kommen. Zac spricht alle an, weil sie nach jemandem ganz bestimmten suchen. Jemand der auserwählt sein soll.

Das ist wohl etwas, das nicht in den alten Schriften steht, wie man die oder den Auserwählten erkennt. Vielleicht sollte ich doch mal ausfindig machen, wo sich diese Schriftrollen befinden und mir selbst ein Bild davon machen. Wie auch immer. Phoenix muss aus diesem Zustand erwachen und zu diesem Ritual nach Sankt Petersburg reisen. Wer weiß, was ihr Jayden gestern Abend alles erzählt hat. Vielleicht denselben Schwachsinn wie mir. Phoenix ist so zart und innerlich vielleicht noch immer labil. Ich hoffe nicht, dass dies der Grund ist, weshalb sie sich das Leben nehmen wollte. Der Tod ist doch keine Alternative. Für nichts.

Phoenix muss nach Sankt Petersburg und ich werde dafür sorgen, dass sie hinkommt. Insgeheim hoffe ich, dass an diesem Ritual, an dieser Verbindung auf ewig, etwas dran ist, auch wenn ich nicht so recht daran glauben kann. Ich hoffe es für Phoenix, denn wenn jemand eine Liebe auf ewig über alle Zeiten verdient hat, dann ist es sie. Und ich hoffe noch eins. Dass es nicht Jayden ist, dieser Vollidiot. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gebe ich ihm die Schuld an ihrem Zustand. Er wird auch ohne Phoenix nach Sankt Petersburg fahren. So ein Depp! Phoenix hat echt einen Besseren verdient.

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