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Kunstkrimi


1. Auflage November 2019

© 2019 OCM GmbH, Dortmund

Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Menschen.

Umschlagbild: „akw2“ aus der Serie Lebensräume Menschenbilder, © Sigrid Drübbisch

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund

Verlag: OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-76-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für Detlev und Marvin

Der Weg zum Ruhm

macht einsam,

ist beschwerlich,

macht süchtig

und kann tödlich enden!

Sigrid Drübbisch

Inhaltsverzeichnis

1  Prolog

2  1. Wiedersehen

3  2. Preisträgerinnen

4  3. Urlaub

5  4. Polizeipräsidium

6  5. Strandwanderung

7  6. Telefongespräch

8  7. Fund

9  8. Ankunft

10  9. Mittagspause

11  10. Besprechung

12  11. Vernissage

13  12. Flyer

14  13. Video

15  14. Verabredung

16  15. Erwachen

17  16. Verschwunden

18  17. Beratung

19  18. Plan

20  19. Totenschau

21  20. Museumsfest

22  21. Ehemann

23  22. Spiele

24  23. Geständnisse

25  24. Berichterstattung

26  25. Festmahl

27  26. Fahndung

28  27. Zusammenbrüche

29  28. Verstärkung

30  29. Liebschaften

31  30. Flaute

32  31. Osteressen

33  32. Schreckminute

34  33. Stifter

35  34. Gescheitert

36  35. Expertenverhör

37  36. Hinweise

38  37. Auswertung

39  38. Großeinsatz

40  39. Ex-Freund

41  40. Versteckspiel

42  41. Verhör

43  42. Spurensuche

44  43. Update

45  44. Durchatmen

46  45. Umschlag

47  46. Verspätung

48  47. Hausbesuch

49  48. Täter

50  49. Rekapitulation

51  50. Opfer

52  51. Schock

53  52. Tod

54  53. Künstlerinnen

55  54. Frühstück

56  55. Atelier

57  56. Suche

58  57. Fundstücke

59  58. Jagd

60  59. Gefasst

61  60. Eingesperrt

62  61. Gefangenentransport

63  62. Krankenbesuch

64  63. Empfang

65  64. Freundinnen

66  65. Finale

67  66. Abschied

68  67. Pressekonferenz

69  Epilog

70  Nachwort

71  Danke

72  Anhang

73  Erklärungen

74  Die Autorin

75  Der Verlag

Prolog

– Zwischen Dagebüll und Wyk; Dienstag –

„Mist, ist das ein Schietwetter“, schimpfte Heinz. Er zog die Kapuze der Regenjacke bis zur Nasenspitze. Der kalte Wind fegte ihm um die Ohren. Eine dicke Mütze sollte seinen Glatzkopf vor der Kälte schützen.

Er stand am Heck des Schiffes, mit dem er von Dagebüll nach Wyk auf Föhr fuhr. Eine Hand hatte er am Geländer der Reling, mit der anderen führte er den Zigarettenstummel zum Mund, um kräftig zu inhalieren und ihn dann über Bord zu werfen.

Sturmtief Niklas tobte mit Windstärke zwölf an diesem Dienstag über Deutschland. Alle Fährfahrten hatte die Reederei storniert, sodass Heinz mehrere Stunden an der Schiffsanlegestelle hatte warten müssen. Erst nach siebzehn Uhr flachte der Wind ab. Um Viertel nach sieben wurde endlich eine Fähre in Richtung Wyk eingesetzt.

 

Der Regen peitschte. Er blieb an Deck, die Wärme im Unterdeck war ihm scheißegal. Kein weiterer Passagier war zu sehen.

Wut stieg in ihm hoch, den Blick auf das aufschäumende Meer gerichtet. Ununterbrochen blies ihm der Wind gnadenlos und eisig ins Gesicht. Mit beiden Händen umklammerte er das kalte Metall des Geländers. „Blöde Weiber! Die jungen Dinger haben sich doch nach oben geschlafen! Anders kann das nicht sein. Damit hat man heute Erfolg. Das lasse ich mir nach den Jahren harter Arbeit nicht gefallen! Querdenker sind nicht gefragt, die sind unbequem und bringen nur Unruhe. Aber ihr werdet sehen, was ihr davon habt. Wartet ab.“

Er schrie sich immer mehr in Rage. Doch niemand hörte ihn, der Wind verschluckte die Flüche sofort. Die aufgewühlte See applaudierte nicht.

Seine Hände zitterten. Mit aller Kraft kämpfte er gegen den Wind, um sich die nächste Zigarette anzuzünden. Schließlich gelang es ihm. Bis in die Lungenspitzen inhalierte er, hustete kräftig, zog an dem Glimmstängel.

Zum wiederholten Mal schickte er Schimpftiraden übers Meer.

Das Handy klingelte. Mit kalten, zittrigen Händen nestelte er es vorsichtig aus der nassen Regenjacke.

„Hallo? Hallooo?“ Er hörte nichts. „Hallooooo! Verdammter Mist!“ Im Display erkannte er, dass es Bernd war. Die Verbindung brach ab. „Scheiße“, brüllte Heinz. „Kein Saft mehr.“

1. Wiedersehen

– Elbtunnel; Mittwoch –

Fünf Kilometer bis zum Elbtunnel. Karla Lang kräuselte die Stirn. Ob es ihr glücken würde, ihn ohne Stau zu meistern? In der Regel gelang es ihr nicht, wenn sie in den Norden fuhr.

Sie rutschte auf dem Fahrersitz vor Freude hin und her. Ein ordentlicher Schluck aus ihrer Wasserflasche erfrischte sie.

„Föhr, ich komme“, rief sie aufgeregt.

Im letzten Jahr hatte sie gemeinsam mit Dirk den Aufenthalt in der friesischen Karibik genossen, wo sie am Südstrand in Wyk in einem Ferienhaus mit Reetdach gewohnt hatten. Von der Terrasse aus hatten sie freie Sicht auf das Meer. Bei klarem Wetter schien die Hallig Langeneß an den Strand heranzurücken. Man hatte das Gefühl, sie fußläufig in ein paar Minuten erreichen zu können.

Jetzt fuhr sie das erste Mal allein in Richtung Norden.

Es war ein gemeinsames Geschenk ihrer Familie und Freunde zum fünfzigsten Geburtstag gewesen. Eine wahrhaft außergewöhnliche Geburtstagsüberraschung. Vier Wochen in einem Haus direkt hinter dem Deich in Utersum. In Strandnähe mit Blick auf die umgebene Inselwelt. Die Nordspitze von Amrum und die Südspitze von Sylt lagen vor ihr.

Vor lauter Vorfreude hatte sie nicht gemerkt, dass der Elbtunnel bereits hinter ihr lag.

„Klasse, wenn alles klappt, erwische ich die Fähre um fünfzehn Uhr.“

Die Sonne schien. Im Radio spielten sie einen Song von Bob Marley: Get Up, Stand Up, Stand Up For Your Rights. Karla sang begeistert mit.

Karla arbeitete gern im Polizeipräsidium Bochum als Leiterin der zweiten Mordkommission. Zwischendurch musste sie aber immer mal wieder den Kopf freibekommen. Die Pause von der Arbeit kam ihr zu diesem Zeitpunkt gerade recht.

Ihr Leben war aufregend, die Ermittlungsarbeit anstrengend. Gut, dass im KK 11 ein hervorragendes Arbeitsklima herrschte. Unter diesen Bedingungen konnten sie die täglichen Herausforderungen stemmen.

Natürlich gab es bei der Aufklärung eines Falles oft Meinungsverschiedenheiten. Wenn aber die Basis der Zusammenarbeit stimmte, machte das nichts. Das Team musste zusammenhalten. Und das tat es. Wenn nötig wurde nächtelang durchgearbeitet. Das war leider häufig der Fall.

Jeder wusste, wie der andere tickte. Logisch – das funktionierte nur mit gegenseitiger Unterstützung. Die Arbeit bereitete Karla nach vielen Jahren immer noch Freude, die tägliche Herausforderung brachte Spannung, die sie mochte.

Das Team wusste, dass Karla die Kunst liebte. Hatte sie die Zeit, griff sie gern zum Pinsel und tauchte ein in die Welt der Farben. Sie besuchte Museen, um sich inspirieren zu lassen. Ein herrliches Ventil im Kontrast zur Arbeit. Die besten Ergebnisse peppten ihr Büro auf.

Das Team des KK11 und der MK hatten sich etwas Besonderes ausgedacht. Es hatte Karla mit einem Gutschein für Farben und Material überrascht. Beim Kunstgroßhandel Dröse in Herbede konnte sie sich nach Lust und Laune eindecken. Die Kollegen hatten Karla erzählt, dass Rolf ihren Geburtstag mit Elan vorbereitet hatte. Er war ihr Chef, Leiter des KK11 und aller sechs Mordkommissionen. Dauerhaft eingespannt, meistens nicht aus der Ruhe zu bringen, ein angenehmer Zeitgenosse.

Aber er konnte auch anders! Zum Beispiel beim Autofahren, wenn es nicht zügig voran ging oder wenn ihn Kollegen oder andere Menschen nervten.

Hinten in ihrem weißen Transporter rappelte es.

Die Kiste mit den Farben, Leinwände, die Staffeleien und ihr Gepäck waren die Ursache. Karla fuhr zügig über die Landstraße zur Schiffsanlegestelle. Es juckte ihr jetzt schon in den Fingern, sich an der Staffelei auszutoben. Ideen sausten durch ihren Kopf und ließen ihr Herz höherschlagen.

Vergnügt sah sie, dass es bis zum Fährhafen nicht mehr weit war. Fünfzig Kilometer bis Dagebüll las sie auf dem Straßenschild. Karla gab Gas.

Da, endlich! Das Schild Dagebüll Mole.

Sie steuerte den Bus in die erste Fahrspur. Eine beachtliche Warteschlange hatte sich aufgereiht. Die Rungholt legte an. Nachdem alle Fahrgäste das Schiff verlassen hatten, kam ein Mitarbeiter der Wyker Dampfschiff Reederei auf sie zu. Sie öffnete die Seitenscheibe.

„Moin, die Reservierungspapiere bitte.“

Karla reichte ihm die Unterlagen, zückte die EC-Karte und bezahlte.

„Geit klor1, die Fähre legt in 15 Minuten ab“, hörte sie den netten Nordfriesen sagen.

„Danke, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

„Jo.“

Er hob zum Gruß die Hand und stand schon am nächsten Wagen.

Karla schmunzelte.

Sie mochte die Art der Norddeutschen. Vor allem den trockenen Humor. Zack, zack! Alle Informationen kurz, knapp hintereinander. Den friesischen Dialekt liebte sie. Jo ist bei den Nordfriesen ein vollständiger Satz mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Moin, moin schon Gequassel.

Aber wenn die Friesen auf Föhr Fering sprachen, musste sie meistens passen …

Peu à peu kam Bewegung ins Spiel. Die ersten Autos fuhren auf die Fähre. Viele Touristen wollten die Ferien auf der Insel verleben; Ostern stand vor der Tür.

Karla schaute aufs Meer. Gut, dass das Sturmtief Niklas vorbei gezogen war. Es zeigte noch Nachwehen: Ein heftiger Wind und ein ordentlicher Seegang. Sie kniff die Lippen zusammen. Bewegte See mochte sie gar nicht.

Auf dem Autodeck wies man ihr einen Parkplatz zu. Die Autos standen eng aneinander, sodass sie vorsichtig die Tür öffnete. Es fegte ein stattlicher Wind durch das Parkdeck. Rasch zog Karla ihre Jacke an und eine weiße Mütze über die Ohren. Ein paar von ihren dunkelbraunen Locken blitzten hervor.

Im nächsten Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken. Kuschelig eingepackt lehnte Karla an der Reling und wärmte ihr Gesicht. An der Wasseroberfläche tanzten die lichtdurchfluteten Schaumkronen. Zufrieden schloss sie die Augen.

Ein starker Ruck riss sie aus den Tagträumen. Die Rungholt legte ab.

In der Jackentasche vibrierte ihr Handy. Dann vernahm sie ihren Klingelton: die Titelmusik von Miss Marple. Dirk strahlte sie auf dem Displayfoto an. Sie liebte seine klaren, grüngrauen Augen.

„Na, mein Schatz, wo bist du?“, begrüßte er sie freudig.

„Auf der Fähre. Sie legt in diesem Moment ab.“

„Oh, klasse! Wie hast du es geschafft, das Schiff um fünfzehn Uhr zu kriegen? Sei ehrlich, deine Reifen qualmen immer noch, oder?“

„Es lag eher daran, dass am Elbtunnel kein Stau war“, erklärte Karla. „Was machst du?“

„Ich? Na, ja, ich sitze bei Kerzenlicht und mit einem Glas Wein in der Badewanne, höre Musik. Genieße …“, provozierte Dirk.

„Oh, jetzt schon Feierabend?“

„Meine Vorlesungen fallen aus. Ich hatte am Vormittag nur noch einen Patienten, danach habe ich die Praxis geschlossen. Das war heute dringend nötig. Das Telefon ist auf ‚Notfall‘ umgestellt, dass die JVA mich erreichen kann. Auch Psychologen müssen mal ausruhen.“

„Gut, ich bin nicht auf Notfall, sondern auf totale Entspannung gepolt. Okay, Dirk, ich melde mich, wenn ich in Utersum angekommen bin. Tschüss.“

„Ich wünsche dir eine bewegte Überfahrt.“

„Ja, is klar, ich habe schon bessere Scherze gehört.“

Ihr Ehemann schmatzte einen dicken Kuss in das Telefon, den Karla erwiderte, bevor sie das Gespräch beendete.

Karla spürte ein flaues Gefühl im Magen. Die raue See bereitete ihr Probleme. Was hatte Dirk mal gesagt? „Visiere einen Punkt in der Ferne an und konzentriere dich darauf. Damit kannst du die Übelkeit austricksen.“

Ihre Konzentration lenkte sie auf den Fähranleger von Wyk.

„Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das“, murmelte sie vor sich hin.

Mit beiden Händen umklammerte sie das kalte Geländer der Reling und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Der Hafen von Wyk rückte näher. Das Schiff verlangsamte die Fahrt, die Passagiere setzten sich in Bewegung. Die einen liefen zu den Autos im Unterdeck und die Fußgänger warteten am Ausgang des Schiffes.

Karla stieg in ihren Bus, befreite ihre Locken von der Mütze und startete den Wagen.

Sie fuhr in die Hafeneinfahrt. Den Bus stellte sie auf dem Parkplatz ab und lief in Richtung Sandwall.

Der Himmel riss immer mehr auf. Die Sonne strahlte den geliebten Ort Wyk an.

„Was für ein Willkommensgruß“, freute sich Karla.

„Jetzt erst mal ab ins Café Steigleder! Friesentorte und Cappuccino warten auf mich“, verkündete Karla so laut, dass es alle hören konnten. Sie grinste die Passanten an, die sie kopfschüttelnd anstarrten. Das amüsierte sie.

Im Café erhaschte sie draußen einen schönen Platz. Sie stopfte sich eine Decke in den Rücken. Die Beine wickelte sie mit einer anderen ein. So saß sie windgeschützt hinter einer Glaswand. Die Insel zeigte ihre Schokoladenseite: Auf dem Wasser glitzerten die Sonnenstrahlen. Auf der Promenade lieferten sie ein exzellentes Schauspiel von Licht und Schatten.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie ihren Namen hörte: „Karla? Kaaarla? Ja, du bist es.“

Karla zuckte zusammen und schaute verdattert. „Inge? Ich glaube es nicht! Wo sind denn deine tollen langen Haare geblieben?“

„Unter der Mütze versteckt“. Inge zog die Mütze ab und die Haare flatterten im Wind.

„Was machst du hier auf Föhr?“

„Eine Reha in Utersum.“

„Reha? Was machst du denn in der Reha?“

„Brustkrebs.“

Karlas Betroffenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie nahm Inge in den Arm und drückte sie herzlich. Verlegen wischten sich beide Frauen die Tränen weg.

„Mensch, Inge, dünn bist du geworden. Na ja, dick warst du noch nie. Aber an deiner Schönheit hat sich nichts verändert.“

„Ach, hör auf. Du bist aber auch noch schlanker geworden, liebe Karla.“

„Das ist so gewollt und musste sein.“

„Wieso, bist du krank?“

„Nee, aber ich will im Alter nicht zur Matrone mutieren, ich laufe jetzt Marathon.“

„Klasse! Kein Wunder, dass du durchtrainiert bist.“

„I do my very best”, scherzte Karla. „Jetzt erkläre mir mal genau, was passiert ist.“

Inge setzte sich neben Karla und erzählte: „Es ging alles ruck zuck. Im Dezember wurde ein Knoten in der linken Brust festgestellt. Anfang Januar war die Operation. Jetzt bin ich hier zur Anschlussheilbehandlung.“

„Und? Wie ist deine Prognose?“

„Nicht schlecht, die Wächterlymphknoten sind frei. Das heißt, der Krebs hat noch nicht gestreut. Aber ich will jetzt gar nicht in die Tiefe gehen. Bestrahlung und die Chemo bleiben mir erspart. Ich habe großes Glück gehabt.“

Karla nahm Inges Hand und streichelte sie liebevoll.

„Nun mach dir mal keinen Kopf, ich packe das schon.“

Karla lächelte. „Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Was für eine Freude, deine Stimme zu hören, die mag ich an dir besonders gern.“

„Du olle Schmeichlerin, jetzt trieft es aus allen Löchern.“ Inge lachte. „Gefühlte zwanzig Jahre, oder mehr?“

„Mehr“, meinte Karla. „Ich hätte mir allerdings bessere Nachrichten bei unserem Wiedersehen gewünscht.“

„Es ist, wie es ist“, antwortete Inge.

„Stimmt.“

„Bist du noch beim Jugendamt in Witten, oder hast du den Rat deines Professors aus Mönchengladbach befolgt? Der wollte doch, dass du Jura und Kriminologie studierst. Ich erinnere mich noch gut daran.“

 

„Nee, die Stadtverwaltung habe ich vor sieben Jahren verlassen. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich einen Verband für Resozialisation von entlassenen Straftätern in Witten gegründet. Berufsbegleitend studiere ich seit zwei Jahren an der Ruhruni Bochum Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft. Wenn alles klappt, schließe ich zum Ende des Sommersemesters mit dem Master ab. Die Studiengebühren sind zwar krass, nehme ich aber gern in Kauf.“

„Was? Das ist ja ein Hammer, klasse.“ Karla war beeindruckt. „Hut ab! Na, siehst du, auf Umwegen erfüllst du dir noch deinen Herzenswunsch und den deines alten Professors. Und wie schaffst du das neben dem Job?“, wollte Karla genau wissen.

„Meine wöchentliche Arbeitszeit habe ich auf zwanzig Stunden reduziert. Ansonsten kannst du das bei dem Arbeitspensum, das wir im Verein bewältigen müssen, nicht stemmen.“

„Mein Mann Dirk ist Psychologe und Lehrbeauftragter an der Uni Bochum. Er arbeitet in der JVA Bochum ebenfalls an einem Projekt mit, in dem es um Strafgefangene geht, die kurz vor der Entlassung stehen.“

„Sag nur, das ist spannend. Wir haben bisher mit den Sozialarbeitern der JVA zusammengearbeitet. Meist dann, wenn die Entlassung kurz bevorstand.“

„Das denke ich“, lachte Karla. „Wenn du zurück bist, kannst du mit Dirk Kontakt aufnehmen und schauen, wie sich eine Zusammenarbeit organisieren lässt.“

„Oh ja, das ist eine gute Idee.“

„Und wie geht es weiter, wenn du den Master hast?“, fragte Karla.

„Keine Ahnung, einen Schritt nach dem anderen. Meinen Doktor vielleicht?“

„Genauso kenne ich dich, du hattest immer Power bis zum Abwinken. Das ist der beste Weg zum Gesundwerden.“

„Na ja, schauen wir mal, wie sich alles weiterentwickelt. Und du? Arbeitest du noch bei der Kripo?“

„Na klar, ich bin bei der Mordkommission gelandet. Dort bleibe ich bis zur Pensionierung, da kannst du Gift drauf nehmen.“

„Machst du Urlaub oder bist du dienstlich hier?“

„Meine Familie und Freunde haben mir zum Fünfzigsten den Urlaub geschenkt und die Kollegen haben mich mit Malutensilien beglückt. Ich plane nichts, lasse mich treiben, bin kreativ … Alles, was mir guttut, mache ich jetzt und gleich sehr viel davon.“

„Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Nach fünfzig siehst du nicht aus, immer noch die sportliche, fitte Karla.“

„Danke.“

„Ich werde auch noch in diesem Jahr fünfzig, wir sind doch ein Jahrgang“, erinnerte Inge sie.

„Genau.“

Karla nahm einen Schluck vom köstlichen Cappuccino. Sie genoss die Friesentorte und ließ die Föhrer Leckerei auf der Zunge zergehen.

„Ich muss los.“ Inge schaute auf die Uhr und sprang auf. „Der Bus fährt gleich zurück zur Klinik. Ich muss noch zur Powergymnastik.“

„Kann ich dich mitnehmen? Meine Ferienwohnung ist in Utersum.“

„Nee, komm du erst mal an, wir sehen uns. Wenn du magst, können wir was verabreden.“

„Klar, lass uns die Handynummern austauschen“, schlug Karla vor.

„Ach, schau mal. Hier habe ich das Veranstaltungsprogramm für April für dich, in der Klinik liegen genug aus. Dann weißt du, was auf der Insel angeboten wird. Im Föhrer Kunstmuseum läuft eine tolle Ausstellung und im Dörpshus in Nieblum ebenfalls. Die Vernissage im Museum war leider schon und morgen Nachmittag wird die Ausstellung in Nieblum eröffnet. Zwei Wittener Künstlerinnen stellen im Dörpshus aus und sind auch bei der Museumsausstellung dabei.“

„Ach ja, wer?“

„Violetta Fey und Lena Beck“, antwortete Inge.

„Nee, das glaube ich nicht. Die beiden haben den ersten und zweiten Kunstpreis aus der Jürgen-Grume-Stifung in Witten gewonnen.“

„Genau, stimmt. Leider habe ich die Preisverleihung im Märkischen Museum verpasst. Da war ich schon hier auf Föhr“, erzählte Inge.

„Und ich habe es in der Presse gelesen, hatte aber keine Zeit hinzugehen.“

„Eine Freundin hat mir berichtet, dass es unter den Bewerbern für den Preis Zoff gegeben haben soll. Den Gewinnerinnen gönnte man den Preis nicht und es wurde schmutzige Wäsche gewaschen. Vor allen Dingen haben die männlichen Künstler interveniert. Auch Kunstkritiker haben mitgemischt.“

„Neider gibt es viele unter den Künstlern.“

„Na gut, wenn du von der Kunst leben musst, geht es oft ums nackte Überleben!“

„Das ist richtig, doch deshalb muss man sich keinen Schlagabtausch in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzwerken liefern“, regte sich Karla auf.

„Stimmt“, pflichtete ihr Inge bei, „Violetta und Lena stellen jedes Jahr im Dörpshus aus. In diesem Jahr wurden sie auch für die Museumsausstellung ausgewählt.“

„Erstklassig, das haben sie verdient. Danke für die Infos, Inge. Hast du Lust, morgen Nachmittag mit mir in Nieblum die Vernissage zu besuchen?“

„Klar, gern.“

„Wann ist die Eröffnung?“

„Um fünfzehn Uhr. Sie wurde wegen der Osterfeiertage auf den Nachmittag verlegt, sonst findet sie immer abends statt.“

„Ich stehe pünktlich um halb drei vor der Klinik und hole dich ab.“

„Du kannst auch in der Cafeteria der Klinik auf mich warten.“

„Ich finde dich, Inge, da kannst du sicher sein. Und außerdem habe ich deine Handynummer.“

„Jetzt muss ich los, tschüss, wir sehen uns“, rief Inge und rannte im Affentempo in Richtung Bushaltestelle.

Karla lehnte sich entspannt zurück, blätterte im Veranstaltungskalender und verspeiste die restliche Torte. Die Beine ausgestreckt mit dem Gesicht zur Sonne, sog sie die klare Seeluft ein.

„Hallo Ruhrpottkollegin! Huar komst dü dach faan daan2?“

„Ach nee, Piet Dirksen! Die gesamte Inselpolitsei3!“, scherzte Karla. „Komm du mir mit Fering um die Ecke. Du weißt doch, dass ich der nordfriesischen Sprache nicht mächtig bin. Ich komme geradewegs aus Bochum!“

„Hü gunngt di det4?“

„Gut, siehste doch.“

Piet strahlte Karla an und sagte: „Tu doch nicht so, du verstehst Fering gut. Nix los in der Großstadt? Da musst du nach Föhr kommen, um dir Arbeit zu suchen, oder machst du hier Urlaub?“ Piet grinste über das ganze Gesicht. Der friesische Polizeihauptkommissar stellte das Fahrrad ab und fläzte sich auf den Stuhl neben ihr. Die Mütze nahm er ab. Piets strubbelige rote Haare leuchteten in der Sonne.

„Jau Piet, ich mache Urlaub, und zwar allein, ohne Dirk. Vier Wochen auf Föhr. Ein Geburtstagsgeschenk von Familie, Freunden und Kollegen.“

„Du hattest Geburtstag? Wie alt bist du denn geworden? Fiartig5?“

„Du alter Schmeichler, Föftig6“, antwortete Karla in Fering.„Nicht mehr lange bis zur Pensionierung.“

„Mann, Mann, Mann, dann bist du ja auch kein junges Täubchen mehr“, neckte sie Piet. „Mensch, darauf müssen wir einen trinken.“

„Das machen wir Piet, nur nicht jetzt und heute. Ich muss noch fahren. Wenn mich die Inselpolitsei betrunken erwischt, bin ich dran …“

„Oha, darauf kannst du wetten. Ruf mich an, oder komm auf der Wache vorbei, dann verabreden wir was. Huar wenest dü7?“

„In Utersum, Klaf8!“

„Gut gewählt, da kannst du ja die schönsten Sonnenuntergänge genießen.“

„Meine Familie hat alles ausgesucht. Ich bin schon ganz gespannt.“

„Du wirst begeistert sein. Ich muss weiter, damit die Insel sauber bleibt. Hier ist immer was zu tun. Nicht wie bei euch in der Großstadt.“

„Ja, sicher.“ Karla schüttelte den Kopf. „Tschüss Piet, bis bald.“

„Mach’s gut, Karla.“ Der lange Piet schwang sich auf sein Rad und fuhr in Richtung Hafen.

Karla zahlte. Gemächlich schlenderte sie über den Sandwall, schaute sich das Sortiment in den netten Boutiquen an, kaufte ein paar frische Lebensmittel und lief zurück zum Auto, um ihr Ferienquartier anzusteuern.

„Geht klar“

„Wo kommst du denn her?“

Inselpolizei

„Wie geht es dir?“

Vierzig

Fünfzig

„Wo wohnst du?“

Klaf – Straße in Utersum