Mord-Art

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5. Strandwanderung

– Föhr; Mittwoch –

Karla verspürte Hunger. Sie zog sich warm an und setzte ihren Rucksack auf. Vom Klaf aus stapfte sie durch den Sand in Richtung Deich, lief zum Strand runter und dem Sonnenuntergang entgegen.

Sie dachte an das letzte Jahr. Dirk und sie hatten oft in dem Strandlokal Sehliebe Kaffee getrunken und auf der Sonnenterrasse gesessen. Es gab dort vorzügliches Essen und Kuchen. ‚Genau da gehe ich jetzt hin.‘

Die Kommissarin beschleunigte ihre Schritte. Der kräftige Wind blies ihr ins Gesicht. Und wieder kam ihr der letzte Urlaub mit Dirk in den Sinn. Es war wunderschön gewesen, doch jetzt freute sie sich auf das Alleinsein.

Nach so vielen Jahren Ehe und anstrengender Arbeit war das Zusammenleben nicht immer einfach gewesen. Auf der einen Seite war es gut, dass ihre Kinder Arne und Luisa selbstständig waren und ihren eigenen Weg gingen. Aber seitdem war auch eine gewisse Leere entstanden, damit musste man in einer Partnerschaft erst mal zurechtkommen.

Karla sog die frische Seeluft ein und genoss es, wie der Wind an ihr riss. ‚Rolf hat recht‘, dachte sie. ‚Ich mache hier Urlaub. Die Arbeit läuft nicht weg, aber mein Leben ...‘ Sie durfte nicht darüber nachdenken, in was für lebensbedrohliche Situationen sie sich schon gebracht hatte, wie viele Straftaten sie aufgeklärt hatte. Im Stillen sprach sie einen Toast auf ihre Kollegen. ‚Also Jungs, auf euch! Ihr werdet es schon machen.‘

Schnellen Schrittes lief Karla durch den Sand. Es war anstrengend, aber sie mochte das Knirschen unter ihren Füßen. Schließlich erreichte sie die ­Sehliebe und stieg die Holztreppe zur Terrasse hoch. Sie blickte in Richtung Meer. Der Himmel war blutrot, die Sonne versank wie ein dicker Feuerball im Meer.

Karla öffnete die Tür. Es war nicht viel los und sie genoss einfach die Ruhe. Im Restaurant spielten sie passend zum Sonnenuntergang entspannende klassische Musik.

‚Jetzt bin ich angekommen.‘ Zufrieden lehnte sie sich zurück.

6. Telefongespräch

– Föhr, Wyk; Mittwoch –

Heinz stieg aus dem VW-Campingbus. Er hatte auf dem Parkplatz am Fähranleger geparkt und sich ein Schläfchen gegönnt. In dieser Zeit hatte er sein Handy an der Solar-Powerbank aufgeladen. Davon hatte er sich mehrere gekauft, alle waren leistungsstark. Sobald er das Handy einschaltete, piepste es unaufhörlich. Neun Anrufe in Abwesenheit, ebenso viele SMS-Nachrichten.

„Mist, Bernd!“, zeterte er. „Verdammt, wie lange habe ich geschlafen? Es ist ja schon Nachmittag. Ich hätte gestern Abend nach der Ankunft nicht noch eine Flasche Rotwein saufen sollen“, schimpfte er.

‚Ich muss schon ganz schön betrunken gewesen sein, dass ich nicht mehr an Bernd gedacht habe‘ Er rief ihn sofort an.

„Du Blödmann, wo steckst du? Schön, dass du dich endlich meldest“, hörte er Bernd brüllen. „Kurz vor Dagebüll bin ich in eine Polizeikontrolle gekommen. Ich dachte, dass die Bullen meine Kiste filzen wollten, dabei war es nur eine Routinekontrolle.“

„Und, warum regst du dich dann auf?“, erwiderte Heinz. „Was hätten sie finden können? Theaterutensilien? Schminke, Perücken ...? Was ist daran schlimm? Es ist doch alles gut gegangen, oder?“

„Ja, ist es! Aber du kennst die doch! Was die alles fragen. Ich komme in zehn Minuten mit der Fähre in Wyk an. Wo bist du?“

„Verdammt, du inszenierst ein Drama“, brüllte Heinz ins Telefon. „Ich stehe auf dem Parkplatz am Fähranleger und sitze in meinem Bus. Den Wagen wirst du vom Schiffsanleger aus sehen. Aber park deinen dicken, schwarzen Audi besser woanders, damit man sie nicht zusammen sieht. Komm dann hier rüber und klopfe dreimal an der Bustür. Einzelheiten besprechen wir später. Schalte jetzt dein Smartphone aus! Gleich aktivieren wir die beiden Prepaid-Handys, damit uns die Bullen nicht orten können. Vorsichtshalber habe ich noch zwei andere Prepaid-Karten besorgt. Man weiß ja nie.“

„Alles klar, bis gleich.“

Heinz atmete schwer ein und aus. Er versuchte sich nach dem Alkoholexzess und der Aufregung etwas zu entspannen, bis Bernd an der Autotür klopfte.

7. Fund

– Witten, Hohenstein; Mittwoch –

Rolf lief im Stechschritt zum Auto und stieg ein.

„Verflucht, ich muss wieder durch dieses Nadelöhr Bommern fahren.“

Er bog von der Rauendahlstraße links auf den Bodenborn ab und freute sich, dass sich der Hauptverkehr verflüchtigt hatte. Er kam zügig voran, legte aber noch einen Zahn zu, weil es bald dunkel wurde.

Hinter der Ruhrbrücke fuhr Rolf rechts auf die Wetterstraße. Von dort aus bog er links ab zum Hohenstein. Mit quietschenden Reifen fuhr er über das Rumpelpflaster den Berg hoch und hielt direkt vor dem Schild Finnenbahn. Auch hier hatten sich schon die ersten Pressefritzen eingefunden. Die Polizisten kümmerten sich um die Reporter, indem sie ihre Erklärungen abspulten: „Bitte haben Sie Verständnis! Unsere Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Sie bekommen Nachricht, sobald wir mehr wissen.“

Rolf kümmerte sich nicht weiter darum, weil er merkte, dass die Kollegen die richtigen Worte fanden, um die Presse und die Schaulustigen abzuwimmeln.

Er startete gleich zum Leichenfund durch, den Lotter, Karin Bock und Elke de Haag begutachteten.

Auch an diesem Fundort waren die realen Bilder wesentlich schlimmer. Zwischen den Fotos und der Wirklichkeit lagen Welten. Nach all den Jahren erschütterte ihn jeder Leichenfund aufs Neue.

An diesem Tag aber war es eine besondere Herausforderung. Er musste zwei Frauenopfer direkt hintereinander in Augenschein nehmen. Sein Magen, der sich schon den ganzen Tag über mit Schmerzen bemerkbar machte, krampfte sich beim Anblick der zweiten Leiche zusammen. Rolf war einiges gewohnt, dennoch wurde der alte Hase in Ermittlungsangelegenheiten blass. Er holte ein Taschentuch heraus und hielt es sich vor den Mund. Der Leichengeruch war penetrant und die Fliegenschwärme trotz des kalten Windes lästig.

„Mein Gott! Wer tut so was?“, entfuhr es ihm.

Die Augen aller richteten sich erst auf ihn und dann auf das Bild des Grauens.

Die Tote hing in einem Baum unterhalb des Haarmannstempels. Aus dem unteren, dicken Baumstamm wuchsen drei schlanke Stämme heraus, in dem das Opfer hineingearbeitet worden war. Auch diese Frau stellte ein Gesamtkunstwerk dar und hing an den gleichen Stahlseilen wie die junge Frau im Muttental.

Ein kleines Schwarzes, das ein Designerstück sein könnte, bedeckte ihren schlanken Körper. Das Kleid war an der rechten Seitennaht und am Saum eingerissen. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar und einen Mittelscheitel. Links und rechts wurde es von silbernen Spangen gehalten. Die Frisur war zerzaust. Eine edle Perlenkette zierte den schlanken Hals, passende Stecker die Ohren. An den Ohrlöchern erkannte Rolf Blutreste. An der rechten Hand trug sie einen zierlichen Ehering und an der anderen einen mit eingearbeiteter Perle. Ihre schwarze Strumpfhose hatte an der linken Wade ein Loch. Ansonsten war sie unversehrt. Sie trug nur den linken schwarzen High Heel. Einer fehlte.

Dr. Windeisen, die Gerichtsmedizinerin, untersuchte sie. Ihr erstes Ergebnis deckte sich mit dem von Dr. Breming im Muttental.

„Zur Todesursache kann ich Ihnen erst nach der Obduktion etwas sagen. Ich will mich nicht vorzeitig aus dem Fenster lehnen, aber getötet wurde sie nicht mit einem Stahlseil. Auch ich gehe davon aus, dass vor dem Eintritt des Todes mehrere Ereignisse stattgefunden haben könnten. Vielleicht ist sie betäubt worden. Möglicherweise ist der Tod durch Ersticken eingetreten. Der Kollege Breming hat mir schon per E-Mail Fotos geschickt. Möglich, dass es sich um den oder die gleichen Täter handelt.“

„Dann ist es nicht auszuschließen, dass er wieder zuschlägt?“, bemerkte Rolf.

Ihr sorgenvoller Blick sprach Bände.

Rolf wandte sich an Elke.

„Sag mal, konntest du schon Spuren sichern?“

„Nichts Großartiges, bei den vielen Reifenspuren und Fußabdrücken. Es ist schwierig, Verwertbares zu finden. Das Unwetter hat mit Sicherheit auch einige Spuren verwischt. Bonbonpapier und Zigarettenstummel haben wir sichergestellt. Persönliche Sachen der Toten wie Handtasche, Handy oder Ähnliches sind bisher noch nicht aufgetaucht. Erstaunlich ist, dass ihr Schmuck nicht gestohlen wurde. Die Perlen könnten echt sein. Wir haben es hier mit keiner armen Frau zu tun.“

Sie zeigte ihm einen Schleier, mit dem ihr Gesicht bedeckt gewesen war.

„Und sie ist verheiratet, aber ihr Ehemann hat sie bisher noch nicht vermisst.“

„Gut beobachtet, Lotter, da bleiben wir dran“, bemerkte Rolf.

Rolfs Handy surrte. „Eine SMS von unserer 1-a Staatsanwältin Christa Sitzler. Sie ist im Muttental und kommt gleich rüber. Sie will sich einen Überblick verschaffen. Siegfried kommt mit, damit er für die Pressekonferenz im Bilde ist.“

„Vielleicht finde ich bei der Obduktion was Brauchbares an der Leiche“, warf Katharina Windeisen ein.

„Wir bleiben hier auf jeden Fall noch weiter am Ball.“ Dabei schaute Elke Rolf an, der zustimmend nickte.

Die Rechtsmedizinerin führte weiter aus: „Zum Todeszeitpunkt kann ich allerdings sagen, dass beide Frauen fast zum gleichen Zeitpunkt, oder knapp hintereinander getötet wurden. Vermutlich in der Nacht von Sonntag auf Montag. Das heißt vor mehr als neunzig Stunden. Die Leichenstarre hat sich schon lange wieder gelöst.“

Das deckte sich mit Dr. Bremings Einschätzung.

„Das könnte also bedeuten, dass sie ebenfalls erst später hier aufgehängt wurde?“, wollte Rolf von ihr wissen.

„Das ist sehr wahrscheinlich“, erklärte Dr. Windeisen. „Denn sie hat keine Leichenflecken an den Händen und Füßen. Hätte sie länger hier gehangen, wäre sie bestimmt schon früher gefunden worden.“

 

„Das gibt dem Ganzen ja noch mehr Brisanz. Es zeugt von einem oder mehreren höchst abgezockten und kaltschnäuzigen Tätern oder Täterinnen“, gab Rolf Sahner zu bedenken.

„Damit könnten Sie recht haben. Meine größte Sorge ist allerdings, dass wir bald die nächste Leiche finden ...“

„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Frau Doktor. Das hoffe ich nun nicht! Möglich ist aber alles.“

Rolf sah sich noch mal die Leiche genauer an und wandte sich dann an Lotter, der mit hochrotem Kopf Fotos machte.

„Lotter, ich zähl auf Sie!“

„Klar, Chef, ich gebe alles.“ Lotter wischte sich den Schweiß von der kalten Stirn.

„Kann das Opfer jetzt abgenommen werden?“, wollte die Medizinerin wissen.

„Klar, wenn die Staatsanwältin gleich grünes Licht gegeben hat.“

„Leichenwagen sind schon unterwegs, um die beiden Frauen nach Essen in die Gerichtsmedizin zu bringen.“

Rolf sprach Lotter, Karin und Elke an: „Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr im MK-Raum zur großen Besprechung bei uns in Bochum. Wenn was ist, ruft mich über Handy an oder schreibt mir eine E-Mail.“

„Alles klar, Chef“, riefen alle drei im Chor.

„Tschüss, Herr Sahner, wir sehen uns dann in der Gerichtsmedizin, wenn wir so weit sind!“

8. Ankunft

– Föhr, Wyk; Mittwoch –

Heinz öffnete die Schiebetür vom VW-Bus.

„Da bist du ja endlich“, rief er.

„Du nervst!“, entgegnete Bernd gereizt.

„Komm rein, es ist schruppig und immer noch windig draußen.“

„Dat kannse wohl sagen“, ließ Bernd im Ruhrpottjargon verlauten.

Heinz musste grinsen, wie er vor der Tür stand und seine Brille zurechtrückte, und ihn mit seinen hellblauen Augen ansah, die durch die Gläser noch größer wirkten. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der um Einlass bat.

‚Du meine Güte‘, dachte er, ‚Habe ich mir da den Richtigen für unser Vorhaben ausgesucht? Manchmal erinnert er mich an einen unreifen Bengel.‘

Bernd kroch in den Bus und rieb sich fröstelnd die Hände. „Diese blöde Insel geht mir schon jetzt auf den Keks. Wat die dämlichen Weiber hier wollen, weiß kein Mensch.“

„Zwei Ausstellungen, du Dussel! Hasse die Theaterrequisiten mitgebracht?“, wollte Heinz wissen.

„Nee, wie kommse darauf? Kuck mich an“, knurrte Bernd.

„Du Blödmann, für Scherze bin ich nicht aufgelegt. Aber gut siehse aus mit deinem Vollbart und Schirmmütze. Damit kannst du auf dem nächsten Schiff anheuern. Ich hätte dich kaum wiedererkannt.“

„Dat is Können, mein Lieber! Schließlich arbeite ich im Bochumer Schauspielhaus als Maskenbildner! Hab ich kurz vor dem Anlegen auf’m Klo gemacht.“

„Dat stimmt“, pflichtete Heinz ihm bei. „Du kanns schon wat! Dass wir die Weiber in Witten gut abgefüllt haben, war ne tolle Nummer, die waren hackendicht.“

„Und hier machen wir es noch besser, darauf kannse einen lassen!“

„Auf jeden Fall! Übung und Planung is allet! Gib mir fünf, Kollege. Soll ich mal schnell zur Fischbude rennen und einen Bratfisch für jeden besorgen? Ich habe einen Bärenhunger. Dafür brauche ich allerdings deine Verwandlungskünste, damit uns niemand auf der Insel erkennt ...“, schlug Heinz vor.

„Ja sicher.“ Bernd klappte einen Koffer auf und zog eine Perücke und einen Hut hervor. Eine dicke schwarze Hornbrille sollte das Bild abrunden. Im neuen Outfit verließ Heinz den Bus.

Nach zehn Minuten kam er zurück und klopfte an die Bustür.

„Du meine Güte, hast du den Fisch in München gekauft? Oder warum hat das so lange gedauert?“, wurde er von Bernd gleich angeraunzt.

„Jetzt mach mal halblang! Schneller ging es nicht“, maulte Heinz. „Komm mal runner. Du reagierst ja wie ein HB-Männchen. So können wir nicht zusammenarbeiten, dann geht alles schief, das garantiere ich dir.“

„Ist ja gut! Ich besser mich.“

„Dat will ich meinen.“

Heinz klappte einen Tisch aus, der mit einem Standbein arretiert wurde. Bernd öffnete gierig die Tüte und begann den Bratfisch mit Kartoffelsalat zu verschlingen.

Heinz griff unter die Sitzbank, öffnete eine Klappe und zog ein Paket heraus. „Rate mal, was hier drin ist?“

„Ein Stockfisch?“, fragte Bernd.

„Nee, das sind unsere Insel-Kennzeichen für beide Autos. Ich habe mehrere zum Wechseln organisiert. Diese Kennzeichen sind von Fahrzeugen vom gleichen Fabrikat und Farbe wie dein Audi und mein Camper. Wenn die Farbe der Autos zum Kennzeichen passt, sticht das bei Kontrollen nicht sofort ins Auge. Erst wenn man die Fahrzeugnummern vergleicht, kann man uns auf die Schliche kommen. Natürlich habe ich auch die dazugehörigen Papiere organisiert. Die RAF hat es damals auch so gemacht. Diverse abziehbare, mehrfach verwendbare Aufkleber für unsere Autos, die wir variieren können, findest du auch in meiner Überraschungskiste. Sie sind schnell und bequem anzubringen und ohne Spuren wieder zu entfernen. Eine Anfertigung einer Spezialfirma. Damit kann man wunderbar verwirren.“

„Wie geil ist das denn?“ Bernd schmatzte vor Vergnügen. „Es war bestimmt schwierig daran zu kommen.“

„Nee, war leicht! Ich habe doch früher mal im Knast für die Knackis Bildhauerkurse gegeben. Einige Typen, die jetzt wieder auf freiem Fuß sind, haben mir einen Gefallen getan“, erklärte Heinz. „Einige der Jungs arbeiten auf Schrottplätzen. Da kann man schon mal was organisieren ...“

„Wofür doch edle Taten gut sein können ...“ Bernd schlug Heinz begeistert auf die Schulter und verschlang den letzten Bissen von dem Fisch.

„Und weißt du was?“

„Nee.“

Heinz palaverte munter weiter: „Ein guter Freund von mir war hier auf der Insel und hat am Südstrand in einer Ferienwohnung gewohnt. Er hat mir erzählt, dass er auf einem Spaziergang eine alte, unbewohnte Villa mit Swimmingpool entdeckt hat. Er hat mir Fotos und Videos gezeigt. Die Villa ist völlig zugewachsen und nicht von der Straße oder vom Strand einsehbar. Ist das ein Brüller?“

„Das ist ein Ding.“

„Nun mach den Mund wieder zu. Schau mal.“ Heinz zeigte auf einen digitalen Inverter Stromerzeuger.

„Wofür brauchen wir den?“

„Die Villa ist unbewohnt, ohne Wasser und Strom. Mit diesem speziellen Stromerzeuger ist es unter anderem auch möglich, hochempfindliche Geräte wie unsere Laptops zu betreiben. Er ist besonders leise, was wichtig ist. Zum Aufladen der Handys benutzen wir Solar-Powerbanks. Trinkwasser müssen wir natürlich kaufen. Auf das Duschen verzichten wir, das ist zu gefährlich. Wir waschen uns auf den Behindertentoiletten am Hafen. Ich weiß, wo welche sind. Die kann man separat begehen. Wir müssen gut aufpassen, dass uns niemand erkennt. Kapiert?“

„Okay! Hast du auch an Lichtquellen und an eine Heizmöglichkeit gedacht?“

„Na klar, Kerzen, zwei Campingleuchten, die wir mit einer Gaskartusche betreiben. Eine starke, kleine Katalytheizung, die auch gern von Anglern benutzt wird. Eine zusätzliche 5-kg-Gasflasche. Damit kommen wir zwei bis drei Tage aus. Dann sollten wir das Ganze erledigt haben und verschwinden. Wechseln können wir die Flaschen an verschiedenen Stellen auf der Insel. Eine große 11-kg-Gasflasche habe ich hier noch im Bus.“

„Hast du auch Schlafsäcke besorgt?“

„Na klar, und Isomatten.“

„Gut.“

„Bevor es gleich ganz dunkel ist, sollten wir jetzt die Villa suchen.“ Heinz holte sein Laptop hervor. Er zeigte Bernd auf Google Maps, wo sich die Villa befand.

„Den Audi lassen wir am Hafen, dort steht er erst einmal gut. Wir fahren mit dem Bus. Die beiden Fahrräder benutzen wir zum Pendeln.“

„Okay, dann los!“

9. Mittagspause

– Föhr, Utersum; Donnerstag –

Karla hatte herrlich geschlafen. Beim Frühstück wollte sie die Föhrer Nachrichten lesen.

‚Ich frage Frau Gedsen, ob sie eine Zeitung hat.‘

Sie öffnete die Tür ihres Apartments und sah den Inselboten und frische Brötchen auf der Fußmatte liegen.

‚Stine Gedsen kann hellsehen.‘ Karla holte die Zeitung rein, die sie ausgiebig studierte.

Darin stand ein Bericht über die Vernissage im Museum und eine Ankündigung der Ausstellungseröffnung mit tollen Fotos.Die Sonne äugte durch die Wolken. Die Kommissarin öffnete die Terrassentür. Ein kalter Wind fegte über die Insel und in ihr Wohnzimmer. Entspannt und glücklich sah sie dem neuen Tag entgegen.

Sie dachte an Inge. ‚Es ist verrückt. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen und jetzt, wo ich sie endlich wieder getroffen habe, ist sie schwer erkrankt. Wenn Inge es möchte, werde ich mit ihr einiges unternehmen.‘ Ihr fiel ein, dass Inge doch nach ihrer Reha bei ihr in der Ferienwohnung eine Zeit lang bleiben könnte. Platz war genug da. ‚Ich werde sie fragen, ob sie Lust und Zeit dazu hat.‘

Karla freute sich auf die Vernissage und räumte den Tisch ab. Sie schaute nach draußen. Eine kleine Katze saß vor der Tür. Karla hob sie auf und streichelte sie.

„Du süßes Ding. Nett, dass du mich besuchst.“

Sie setzte sie auf den Boden und dachte: ‚Dich nenne ich Margaret! Margaret Rutherford hätte jetzt ihren Spaß.‘

Karla, professionelle Mordermittlerin, liebte die Krimikultserie Miss Marple von Agatha Christie. Auch wenn Miss Marple in den Filmen eine Hobbydetektivin darstellte. Sie fand, dass Margaret Rutherford eine hervorragende Besetzung für die Rolle war.

Karla hatte gelesen, dass Agatha Christie selbst dazu eine ganz andere Meinung hatte. Ihre Wunschdarstellerin sollte nach ihren Vorstellungen völlig anders aussehen: eine kultivierte, blasshäutige, hochgewachsene und zerbrechlich wirkende ältere Dame aus der oberen Mittelschicht. Später freundeten sich die beiden Damen sogar an und Agatha Christie akzeptierte und liebte Rutherford in ihrer Rolle.

Sie schreckte auf, als in diesem Augenblick die Titelmusik von Miss Marple aus ihrem Handy ertönte.

„Siehse“, sagte Karla zu Margaret, „sie hätte ihren Spaß“ und nahm den Anruf entgegen.

„Hallo Mama.“

Karla war glücklich, die vertraute Stimme ihrer Tochter Luisa zu hören: „Luisa, mein Schatz, wie geht es dir?“

„Alles schick, Mama und bei dir? Machst du es dir nett?“

„Klar, ich habe herrlich geschlafen und heute Nachmittag besuche ich mit meiner Freundin Inge eine Vernissage und ich freue mich aufs Malen.“

„Das hört sich gut an“, freute sich Luisa. „Ich hoffe nur, dass du nicht irgendeinen Blödsinn machst und deine Kollegen in Bochum in Ruhe lässt. Du sollst dich erholen und an dich denken.“

Karla nahm Margaret wieder auf den Schoß, streichelte sie und antwortete ihrer Tochter: „Ich? Was soll ich schon anstellen? Meine Kollegen kommen schon klar, mach dir um mich mal keine Sorgen. Hast du was von deinem herzallerliebsten Bruder, gehört?“

„Nee, Arne arbeitet, ist viel unterwegs. Was weiß ich. Sein Handy ist entweder dauerhaft auf lautlos gestellt oder abgeschaltet.“

„Ach, lass ihn in Ruhe. Er meldet sich, wenn er Zeit hat.“

„Da kannst du dir einen Wolf warten“, meinte Luisa. „Du kennst ihn doch.“

„Na, dramatisiere es nicht zu sehr. Er lebt wie du sein Leben. Okay, ich will jetzt an den Strand und mich durchpusten lassen. Bis die Tage, Küssken, mein Schatz.“

„Küssken, Mama, bis denne.“

Karla legte ihr Smartphone zur Seite. Sie spürte, wie es wieder in ihren Fingern juckte.

‚Soll ich Rolf anrufen?‘, überlegte sie.

Sie wollte zu gerne wissen, wie weit sie schon mit den Ermittlungen vorangekommen waren.

Das Kätzchen hielt sie immer noch auf dem Arm, stand auf und lief auf die Terrasse.

„Nein, ich lasse es! Die Jungs und Mädels in Bochum schaffen das locker ohne mich. Ich muss jetzt endlich mal abschalten.“

Sie setzte Margaret auf den Boden, die sie noch mal kurz ansah, über die Wiese rannte und im Gebüsch verschwand.

Dick eingepackt, den Rucksack auf dem Rücken, trottete Karla los zum Strand. Sie lief in Richtung Goting. Die Rehaklinik Utersum lag auf dem Weg. Der gewaltige Bau trohnte direkt hinterm Deich. Aus der Ferne sah sie eine Gruppe, die am Strand gymnastische Übungen machte. Als sie näherkam, erkannte sie Inge, die konzentriert mitturnte.

„Huuuhuuu!“, rief sie.

Inge winkte zurück und die anderen Teilnehmer ebenfalls.

Inge rief: „Geh schon vor und warte in der Cafeteria auf mich. Ich komme gleich nach.“

 

Eigentlich wollte Karla noch weiter am Strand entlanglaufen, aber sie tat Inge gern den Gefallen.

Um den Hintereingang der Klinik zu erreichen, musste sie die Deichkrone erklimmen.

Der Wind fegte ihr ins Gesicht, er hatte gedreht und kam aus einer anderen Richtung. Sie schmeckte das Salz in der Luft und die Sandkörner pieksten auf der Haut. Karla tapste durch den Sand, den der Wind aufwirbelte. Die Mütze zog sie tiefer über die Ohren, der steife Brise machte ihr nichts aus. Das gehörte zum Föhrer Inselflair.

Oben angekommen schaute sie in einen liebevoll angelegten Park mit Mischwald. Karla konnte Menschen beobachten, die sich mit Nordic Walking Stöcken zum Stockentenrennen, wie sie es nannte, aufstellten. Es sah komisch aus und Karla musste schmunzeln. Sie fand die Stöcke lästig, der Marathonlauf war eher ihr Ding.

‚2014 habe ich gar nicht mal schlecht abgeschnitten‘, jubelte sie. ‚Wenn ich mich noch steigern könnte, wäre ich noch zufriedener mit mir.‘

Karla lief auf eine Gymnastikhalle zu, sie spähte durch das Fenster. Eine Gruppe legte sich mächtig ins Zeug. Die Rehabilitanden hüpften mit Gymnastikbällen durch die Halle. Flotte Musik erklang und eine Therapeutin motivierte zum Tempo.

‚Oha! Anstrengend‘, dachte sie.

Außer Atem kam Inge angerannt.

„Mannomann, euer Sportprogramm ist stramm“, sagte Karla.

„Ja sicher“, stimmte Inge zu. „Wir sind doch nicht zum Spaß hier.“

„Hauptsache, dir tut es gut.“

„Klar, alles bestens. Ich bin froh, dass ich hier sein kann. Das Rehaprogramm ist klasse. Anstrengend, aber effektiv.“ Karlas Freundin strahlte übers ganze Gesicht. Die frische Luft hatte ihr eine sanfte Röte auf die Wangen gezaubert. „Möchtest du hier in der Klinik mit mir essen? Du kannst dich in der Klinikküche als Gast zum Essen anmelden. Anschließend trinken wir gemütlich ein Käffken in der Cafeteria. Danach fahren wir nach Nieblum. Wie findest du das?“

„Das ist eine gute Idee. Dann brauche ich nicht kochen.“ Froh darüber schlug Karla vor: „Vor der Vernissage bummeln wir durch das beschauliche Örtchen. Ich kann nach dem Essen zu meinem Apartment laufen und den Bus holen.“

„Nee, das erledigen wir gemeinsam. Bewegung nach dem Essen tut gut“, entgegnete Inge.

„Ja sicher, die brave Patientin. Hoffentlich gibt es was Leckeres“, ließ Karla verlauten. „Klinikessen ist eigentlich nicht meins.“

„Du wirst überrascht sein. Der Koch hier ist kein Fünfsternekoch, aber meckern muss man nicht.“

„Okay, dann bin ich dabei. Wie sieht es mit deinem Rehaplan für heute aus?“, wollte Karla wissen.

„Ab jetzt habe ich frei.“