Schocker (Herzallerliebst)

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Schocker (Herzallerliebst)
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Sheila Esch

Schocker (Herzallerliebst)

Psychothriller

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Buch

1.

Zweites Buch

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

Drittes Buch

21.

22.

23.

Und zuletzt

Klappentext

Impressum neobooks

Erstes Buch

Mittendrin

1.

Ich rannte weg von all dem Blut, aber es kam mit mir. Wie das Messer. Piets Messer in meiner Hand. Es war blutig, ich war blutig. Wie ein Schwamm hatte ich sein Blut aufgesogen, und nun trug ich es durchs Haus. Stieß an Treppenstufen, Wände, Stühle, hinterließ Tropfen, Lachen. Bäche, die zu Seen zusammenliefen, bis alles rot war, blutrot, ganz so wie ich.

Das Meer war aus Blut!

Und ich schwamm darin!

Als ich in Piets Wohnzimmer kam, sah ich die Glasfront zur Terrasse offen stehen. Sperrangelweit offen: meine Chance! Ich rannte darauf zu. Doch die Terrassentür war nur offen gewesen, ein andermal, nicht heute, und in der Sekunde, in der ich hindurch wollte, war sie es nicht mehr.

Sie war zu.

Ich rannte dagegen wie ein Vogel gegen eine Scheibe fliegt: Volle Kanne, volle Kraft voraus. Es knallte, die Welt draußen, die mich nicht mehr haben wollte, warf mich zurück. Halbohnmächtig kam ich auf dem Boden an. Wie bei einem Vogel, dessen Hirnmasse die Scheibe hinabfließt zur Warnung an andere Vögel, bloß nicht gegen die Scheibe zu fliegen, schlierte das Blut, sein Blut, das an meinen Händen gewesen war, seitdem ich aus dem Keller entkommen war, nun die Scheibe hinunter. Ein Hilferuf, mein Hilferuf nach außen in den Garten, oder aber eine Warnung – an Mädels wie mich. Rennt nicht davon, niemals – es gibt kein Entkommen!

Ein Vogel sah mich aus unbewegten Augen an. Niemand hörte mein Schreien.

Zweites Buch

Vorher

2.

Der erste Psychopath, den ich traf, war mein Vater.

Die Prügelorgien, die er abhielt, wenn er schlecht gelaunt war, endeten häufig damit, dass lärmempfindliche Nachbarn bei der Polizei anriefen, und mein Vater, der dies ahnte, pflegte irgendwann abrupt mit dem Verdreschen aufzuhören. Sein innerer Alarm ging präzise wie eine Uhr. Wenn er anschlug, dann setzte er uns rund um seinen Esstisch, und so kam es, dass wir alle, wenn die Polizisten schließlich klingelten, bei einem fröhlichen Kartenspiel beisammen saßen.

Wie oft habe ich in ihre verdutzten Gesichter gesehen. Es waren mehr oder weniger seine Ex-Kollegen, die immer leicht misstrauisch waren, denn wenn ein Polizist – so wie mein Vater – aus dem Dienst entfernt wurde, dann bleibt schon etwas zurück, irgendein unguter Geruch und die Frage, was hat er getan, wozu ist er noch fähig? Außerdem klingelten die Nachbarn häufig wegen uns um Hilfe an, dies konnte nicht immerzu grundlos sein, auch wenn das unschuldige Lamm, das mein Vater gab, dies behauptete.

Andererseits fühlten die Polizisten sich ihm gegenüber immer noch zu einer gewissen Solidarität verpflichtet. Einmal Polizist, immer Polizist. Er war ihr Kollege gewesen, und das machte sie hilflos. Es setzte ihr gesundes Misstrauen schachmatt.

Am Telefon hatten die Nachbarn von Geschrei und Geheule gesprochen, von dumpfen Geräuschen – wie von Schlägen –, doch nun, da Hilfe nah war, da sie gar in Uniform im Zimmer stand, fanden die Helfer ein vergnügtes Heim vor, eine nette Runde bei Tisch, ein vereintes Familienleben. Was war nun wahr, was war Lüge? Wo war das Geschrei geblieben?

Mein Vater konnte das gut: Uns vorführen. Sein von Zorn verzerrtes Gesicht glättete sich in Sekundenbruchteilen und nahm umgehend Lachfalten an. Er war ein Charmeur, nie um ein passendes Wort verlegen.

„Das muss ein Irrtum sein!“

Selbst ich nahm ihm die Verblüffung über den Vorwurf ab. Jedenfalls beinahe.

„– Die Nachbarn sind doch Idioten! Allesamt pingelige Idioten! Vielleicht hatte jemand den Fernseher zu laut an. Aber nicht bei uns! Wir spielen.“

Mit hoch erhobenem Kopf warf er einen Blick auf die Kulisse, die er zur Verwirrung seiner ehemaligen Kollegen zusammengestellt hatte. Was für eine Familie, die noch gemeinsam Karten spielt, und das in der heutigen Zeit!

Schon allein das hätte die Polizisten misstrauisch machen müssen.

„Verstehen einfach keinen Spaß, die sehr verehrten werten Nachbarn! Natürlich wird das etwas lauter, wenn’s rund geht…“

Damals wusste ich noch nicht, was ein Psychopath ist. Ich kannte weder das Wort, noch seine Bedeutung. Ich wusste nicht, was Psychopathen machen, solange sie sich nicht romanreif grauselig aufführen, ich wusste nicht, wozu sie sonst noch in der Lage sind: Dass sie Chefs sind, zum Beispiel, und große Anführer. Dass sie hemmungslos Charme versprühen, ihre Mitmenschen bezirzen, geschickt vorführen, welch überragend sympathischer Typ in ihnen steckt…

Ich wusste nicht, für wie nett man einen Psychopathen halten kann, bevor man ihm im Hinterzimmer begegnet.

„Und bei uns geht’s immer rund, nicht wahr?“

Mein Vater lachte offen und vergnügt. Wie gut er das konnte! Schauspielern, heucheln, die ganze Palette! Er klopfte meinem Bruder, der kaum auf seinem wunden, kreuz und quer durchgeprügelten Hintern sitzen konnte, eine seiner Spielkarten hin. Mein Bruder starrte auf die Tischplatte. Vor Angst brachte er es kaum fertig, die Bedeutung der Karte vor sich zu bewerten – wie sollte er spieltechnisch reagieren, welche seiner eigenen passte zur Situation? Welches Spiel spielten wir überhaupt?

War es Mau-Mau, Rommé, Schwarzer Peter, Elfer Raus, Skip-Bo, Skat oder Doppelkopf? Oder vielleicht eher King Louis, Black Jack, oder Siebzehn und Vier? Schummellieschen, Schweinchen, Solo, Stress? Hund, Ligretto, Einundfünfzig?

Und doch blieb meinem kleinen Bruder nichts anderes übrig, als zu reagieren, vorzugsweise richtig, denn sonst wäre er, sobald die Polizei uns verlassen hätte, wieder dran gewesen: Mit dem Hintern, versteht sich, nicht mit den Karten am Zug.

Meines Vaters Ex-Kollegen lachten. Und ließen uns einmal wieder mit unserem Vater allein.

3.

Eines Tages war ich fort. Getürmt, geflohen, fortgelaufen. Weg, fort, ausgezogen, nicht mehr daheim. Unauffindbar… Ich hatte nichts mitgenommen als ein T-Shirt und etwas Unterwäsche. Ich hatte das Wenige in den Rucksack meiner Schwester gepackt und hatte ihn mitgenommen – das war der erste große Fehler auf dieser meiner Flucht. Leider war es nicht der letzte.

Nach drei Tagen wagte ich es wieder, mein Handy anzustellen. Ich hatte nicht gedacht, dass mein Vater es würde orten können, so gut waren seine Polizeikontakte nun doch nicht, außerdem war er zu dämlich, um überhaupt zu kapieren, dass das ging. Nicht deshalb hatte ich es schlafen geschickt und drei Tage lang ruhen lassen, eher weil es mir auf einmal unheimlich war – erreichbar zu sein. Erreichbar heißt lebendig, und lebendig heißt, meines Vaters Gewalt unterworfen zu sein. Potentiell allemal.

 

Aber nicht erreichbar heißt auch nicht lebendig, und war ich nicht fortgelaufen, um zu leben? Was sind wir ohne Handy?

Nun, da das Teil wieder an war, frisch aufgeladen, hellwach und bereit, Anrufe entgegenzunehmen, starrte ich darauf wie ein Abergläubiger auf ein Ding, das zwingend Unheil bringt. Ich fragte mich, ob ich es nicht bereuen würde, es wieder zum Leben erweckt zu haben.

Die erste, die anrief, war meine Schwester.

„He, hör mal, warum hast du meinen Rucksack mitgenommen!“ war ihr Einstieg. Keine Sekunde verschwendete sie damit zu fragen, warum ich fort war. Denn das war ja klar.

„Tut mir leid, es ist nun mal der größte“, entschuldigte ich mein Tun. „Einen besseren konnte ich nicht finden.“

Vielleicht steckte eine Absicht dahinter, dass es in unserem Haushalt nur noch Plastiktüten gab, seitdem auch das letzte Kind die Schule hinter sich gelassen hatte? Die Reisetaschen, die meine Mutter bei ihrem Auszug vor Jahren zurückgelassen hatte, waren anschließend im Müll gelandet.

Nur diesen Rucksack hatte unser Vater meiner Schwester erlaubt. Ihn ihr zu verbieten, hätte verhängnisvolle Wellen geschlagen – bis ganz nach oben hinauf.

„Aber echt, das geht doch nicht! Ich hab ihn von Gerd geschenkt bekommen, das weißt du doch genau!“

Gerd war ihr Ex-Freund, der Sohn eines Polizeikollegen. Genau genommen war er der Sohn vom Chef. Der Sprössling vom Ex-Chef meines Vaters. Meine Schwester hing immer noch an Gerd, obwohl er sie später schnöde verlassen hatte.

Ich hätte daran denken müssen, dass der Verlust ihres heißgeliebten Rucksacks sie mehr schmerzen würde als mein Verschwinden.

„Du musst ihn mir wieder geben, bitte!“

Mit wüsten Vorwürfen von Seiten meiner Schwester hätte ich gerechnet, aber doch nicht damit, dass sie mich lieb darum bat, zurückzukommen.

„Ich hab dir einen anderen“, beschwor sie mich. „Wir tauschen, okay? Du nimmst den, und schon bist zu wieder weg…“

Mit welchem Rucksack ich meine Flucht fortsetzte, war mir egal. Also stimmte ich zu, meine Schwester spätabends, wenn sie von der Arbeit in der Kneipe kam, auf dem Sportplatz neben unserer alten Schule zu treffen.

Nachts war die Gegend unbelebt. Früher hatte mir das gefallen – nachts konnte man sie unsicher machen, ganz so als ob sie nicht der Schulbehörde gehörte. Nachts hatte sie uns gehört. Schüler allmächtig. Nachts hatten wir sie kennen gelernt und kannten uns in jedem Winkel entschieden besser aus als unsere Lehrer.

Heute kam es mir nicht mehr so vor, als ob der Sportplatz mir gehörte. Das lag sicherlich daran, dass keiner meiner Freunde von damals mehr hier war, und sicher ist das Unsichere nur in Begleitung. Ich mied die Straßenlaterne, die neben der Tartanbahn ihr Umfeld beleuchtete, und wartete.

Der Mond lugte ab und zu zwischen zerfetzten schwarzen Wolken hervor, die über den Himmel zu rasen schienen. Ich wollte nicht, dass er schien. Er war mir unheimlich.

Endlich bemerkte ich eine Gestalt, die sich aus dem Schatten der Schule löste und langsam zu mir herüberkam. Ich bemerkte ihr Zögern, doch weil ich erkannte, dass es tatsächlich meine Schwester war, ließ ich mich davon nicht beirren und trat aus dem Schatten ins Licht.

„Wo bleibst du denn?“

Mir fiel auf, dass sie keinen Rucksack in den Händen hatte. Wollte sie nicht mehr tauschen?

Zu spät fiel mir das auf.

„Was machst du hier?“ zischte meine Schwester mich heftig an.

Ich begriff, dass ich ganz falsch war hier und trat einen Schritt zurück. Sinnloserweise.

„Warum bist du gekommen?“ schrie sie mich an. Im selben Moment heulte beim Schulgebäude ein Motor auf, und ein Auto kam mit durchdrehenden Reifen auf Touren. Es raste auf mich und meine Schwester zu.

Ich drehte mich auf der Ferse um und rannte los. Ich sprang über den niedrige Absatz, der die Straße vom Sportplatz trennt, sprang wie ein Hase durch die Wiese und hinauf auf das 400-Meter-Rund, auf dem ich früher so oft gerannt war. Lang bevor ich die Kurve erreichte hüpfte das Auto mit lautem Krachen über den Absatz und erreichte ohne weiteres die Tartanbahn, auf der es weiter entlang raste.

Nicht zu fassen! Meinen Vater scherte Staatseigentum nicht die Bohne!

Ich rannte. Nie zuvor war ich vor einem Auto davongerannt. So etwas hatte ich allenfalls im Fernsehen gesehen, und dort geht es schief. Ich erreichte die Kurve, verließ das Rund. Hinter mir quietschten Bremsen. Ich stürzte den Abhang hinter dem Sportplatz hinunter, rappelte mich wieder auf. Mein Knöchel tat weh, ich lief weiter in Richtung Bach.

Dort unten hielt einer Schafe, ich hörte ihr Blöken. Dann plötzlich Schritte hinter mir. Konnte mein Vater so rennen? Mein Knöchel hatte mir den Vorsprung genommen, und jetzt war der Turnschuhmann hinter mir.

Kurz, bevor ich die Schafkoppel erreichte, fühlte ich ihn hautnah hinter mir. Er packte zu, erwischte mein Shirt. Mit voller Wucht stieß er mich in einen mannshohen Drahtzaun, der früher (vor den Schafen) dort nicht gewesen war. Es hieß, sie mähten das Schulgelände, die Schafe. Nettes Vieh. Wollbällchen. Ich prallte vom Zaun zurück auf seine Hände, er stieß mich noch mal in den Zaun, und ich stürzte ins Gras.

Er packte mich, zog mich hoch und hielt mich am Kragen fest, während er mir keuchend zuflüsterte: „Du gehst fort? Allein? Lässt uns allein? Wie kannst du nur!“

Es war mein Bruder. Er weinte.

Ich war entsetzt darüber, dass es mein Bruder war, und dass er so geschickt rennen und fangen und treten konnte, während er weinte.

Ich schlug zurück. Es machte mich rasend: dass er es war, der mich eingefangen hatte. Dass er mich verfolgt hatte! Mein Bruder… mein armer, kleiner, durchgeprügelter, weinender Bruder!

Ich sah den kleinen Jungen, der er gewesen war, mit einer Karte am Tisch sitzen. Herzass, was nützte es ihm? Er zitterte zu sehr, um zu denken.

Mein eigener Bruder…

Ich schlug und trat um mich, ich traf sein Gesicht, seine Nase. Ich glaube, es krachte. Es klang so und fühlte sich auch so an. Zu meines Bruders Glück und seiner Rettung kam nun ein zweiter Rennender bei uns an. Mein Vater war körperlich völlig außer Form, aber er fand noch die Kraft, mir eine rein zu hauen – der Schlag war so heftig, dass ich zu Boden ging. Dann stand er keuchend am Zaun und trat mich immer nur dann noch mal, wenn ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Schließlich überließ er die Verhaftung zwecks Rückkehr meinem Bruder. Ich hatte nicht gewusst, dass geschasste Polizisten Handschellen besitzen durften.

Mein Bruder zerrte mich zum Auto zurück. Mit der rechten Hand hielt er mich grob am Arm gepackt, die linke hob er wie einen Schutzschild über seine Nase. Das Auto stand an der Kurve der Tartanbahn halb im lockeren Grund des Hanges. Ich wusste nicht, ob es ihnen überhaupt gelungen würde, den Wagen dort wieder raus zu bekommen, aber ich hätte mich darum nicht zu sorgen brauchen: Mein Bruder hatte in seinem sozialen Jahr beim Rettungsdienst Autofahren gelernt. Und wie!

Mein Vater drängte meinen Bruder von mir fort. Er zerrte mich zum Auto und warf meinen Oberkörper auf die Motorhaube. Sie war heiß und hart. Ich spürte seine Hand, die mir zwischen die Beine ging und im Schritt zupackte.

„Das“, sagte er heiser, „das hätten wir früher auch so gemacht!“

*

Zuhause hatten sie ein Zimmer für mich frei geräumt. Extra für mich! Das war irre, denn so viel Platz, dass wir Mädchen eines hätten alleine bewohnten können, das hatten wir sonst nicht.

So viel Mühe!

So viel Mühe, um mich einzusperren!

Auf der Rückfahrt vom Sportplatz hatte mein Vater im Dunkeln des Wegrandes meine Schwester ausgemacht, die dort ging und versuchte, davonzukommen. Er hatte meinen Bruder angeschrieen, er solle umdrehen, was dieser dann auch tat. Meine Schwester kreischte und schlug mit den Armen, aber ehe sie sich versah, saß sie auf dem Rücksitz neben mir.

In der Wohnung hatte mein Vater sie am Arm ins Mädelszimmer geschleppt und den Schlüssel hinter ihr herumgedreht.

Auch das Mädchenzimmer besaß ein Schloss, aber für mich und meine zukünftige Aufbewahrung musste das Zimmer meines Bruders her, denn einzig dieser Raum war geeignet für den gedachten Zweck. Brav hatte mein Bruder alle seine persönlichen Sachen ausgeräumt und saß nun auf seinem Bett, das er für mich aufgegeben hatte.

Unser Vater hatte mich auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt und die Hände hinten neu gefesselt, damit die kurze Kette zwischen den Metallschließen der Handschellen zwischen den Streben der Lehne durchgeführt werden konnte.

„Du gehst nicht weg“, flüsterte mein Bruder, während Vater hinter meinem Rücken rumfummelte, „oder?“

Wie kam er denn auf die Idee?

„Du gehst nicht weg“, flüsterte mein Bruder, als Vater den Raum verlassen hatte, „oder?“

Bei Licht betrachtet sah seine Nase seltsam aus. Das Deckenlicht schien erbarmungslos darauf. Ob ich sie ihm gebrochen hatte?

Am liebsten hätte ich ihm entgegengeschleudert, dass ich bei solchen Geschwistern nun gar keinen Grund mehr erkennen konnte, zu bleiben. Abgesehen von diesem einen, zu vernachlässigendem Grund, dass ich keinen Schritt weit fort kam von seinem Stuhl.

Mein Bruder saß reglos, wie gelähmt auf seinem Fleck. Ein einziger, nur noch halblebendiger Trauerkloß. Ich fing an, mich zu fragen, weswegen er so traurig war. Weil er für meinen Vater den Bluthund gegeben hatte, der ihm die Beute riss? Weil er seiner eigenen Schwester das angetan hatte?

Oder war für ihn die Vorstellung so schlimm, dass ich fort wäre und es gäbe nie wieder ein Wiedersehen? War ich, wenn ich ihn allein ließ, überhaupt noch seine Schwester?

Tief in mir war ich mir auch nicht sicher, was ich getan hätte, wenn es gegolten hätte, einen der anderen einzufangen. Wenn meine Schwester oder mein Bruder vor mir geflohen wären, was hätte ich getan?

Ich kannte meinen Vater. Was er am besten drauf hatte, das war Gewalt. Darin bestand die Gemeinsamkeit zwischen ihm und den Verbrechern, die er früher gejagt hatte und die er heute noch einsperrte. Weder mein Bruder noch meine Schwester waren freiwillig auf die Jagd nach mir gegangen. Einzig vorwerfen konnte ich ihnen, dass sie sich so geschickt dabei angestellt hatten, mich zu stellen. Empörend war, dass sie nicht dazu bereit gewesen waren, für mich den Kopf hinzuhalten. Im Sinne des Wortes.

„Kommst du nun!“ brüllte mein Vater durch die Wohnung. Er saß nebenan mit einer Flasche Bier am Esstisch. „Oder hast du etwa schon gegessen?“

So harmlos klang eine Drohung bei ihm. Mein Bruder fuhr hoch und verließ blitzartig den Raum. Brav schloss er sein ehemaliges Kinderzimmer von außen zu.

Kaum dass er den Tisch draußen erreicht haben konnte, hörte ich Schritte, die zu mir zurückkehrten. Der Schlüssel im Schloss ging noch einmal, die Tür flog auf. Mein Vater sah zu mir herein. Ich fuhr zusammen, so heftig, dass die Eisen, in denen meine Hände steckten, mir fast die Handgelenke gebrochen hätten.

Mein Leben lang war ich in seiner Gegenwart hilflos gewesen. Natürlich, die meiste Zeit war ich ein Kind gewesen. Und potentiell bedroht, ja klar, das immer.

Aber nie zuvor hatte ich in Handschellen vor ihm gesessen.

„Du entkommst mir nicht! Hab ich dir das nicht versprochen? Hab ich dir das nicht immer wieder gesagt…?“

4.

Mein Vater war es mit Hilfe seiner wohlmeinenden Kontakte gelungen, nach seinem Rausschmiss bei der Polizei direkt in den Vollzugsdienst hinüberzuwechseln. Dort wo wir wohnten war ein Frauengefängnis. Die Frauenstrafvollzugsanstalt Mersheim. Seitdem ich meinen Vater kannte, arbeitete er im Frauenstrafvollzug.

Obgleich das mein Leben lang schon so gewesen und somit normal war, kam es mir eines Tages seltsam vor. Überall gab es Frauen- und Männertoiletten; im Schwimmbad und in der Schule waren die Umkleideräume nach Geschlechtern getrennt. Meine Mutter war sogar in einem Mädchengymnasium gewesen, ehe mein Vater sie mit meiner ältesten Schwester geschwängert hatte und sie ohne Abschluss von der Schule abgegangen war. Sogar zuhause bekam mein Bruder Extraprügel, wenn er sich nachts bei uns im Mädchenzimmer versteckt hatte.

Wie also kamen männliche Vollzugsbeamte in den Frauenknast?

Nicht etwa, dass ich meinen Vater damals verdächtigt hätte, das irgendwie auszunutzen. Genau genommen lag meine Arglosigkeit aber einzig daran, dass ich nicht darauf gekommen wäre, wie er das hätte nutzen können.

 

Bei uns Kindern war ihm sein Job immer schon von Nutzen. Gerne führte er mich vor die Mauer, hinter der er täglich verschwand, packte mich im Nacken und hielt mich fest wie ein Stück Vieh. Mir blieb nur, auf die gewalttätig hohe Mauer, gesäumt mit in Schlaufen gelegtem Stacheldraht, zu starren, bis seine Hand nachließ.

„Da schau hin! Schau hin!“

Brandgefährlich war es, die Augen zu schließen. Denn immer bekam er das mit. Dann schüttelte er meinen Kopf in einem irren Tremolo, wie ein frischgebackener Vater, der sein brüllendes Baby tötet.

„Schau hin! Da schau hin!“

Ich sah auf die Gefängnismauer, den Stacheldraht und das trübselige Gebäude dahinter und würdigte, was ich sah, in einer meines Vaters Vorstellungen angemessenen Form: Ich machte mir vor Angst in die Hose.

„Dort hinter Mauern und Stacheldraht“, versprach er mir heiser, „dort werden wir uns wieder sehen! Mach du nur weiter wie bisher! Da drin werd ich dich eines Tages Willkommen heißen! Willkommen, Schätzlein, Herzallerliebst – du wirst sehen! Eines Tages sehen wir uns wieder!“

Erst später, viel später, habe ich darüber nachgedacht, was ein Psychopath wie mein Vater im Frauengefängnis anrichtet. Was er dort treibt.

Hat sich das irgendjemand außer mir je gefragt?