Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sigrun hörte ihm ein Paar Minuten gespannt zu. Dann wendete sie sich plötzlich von dem Vortragenden ab, damit er ihr Gesicht nicht sehe.

Statt dessen war es dem hinter der Hecke Horchenden zugewendet, und er sah jetzt in ein von Leidenschaft verzerrtes Antlitz, auch sie konnte die hervorbrechenden Gefühle nicht mehr zurückhalten. Ihre Augen schlossen sich in heißem Schmerz; sie schlang die Hände fest ineinander, und ihre Lippen bewegten sich in stummer Klage. Der Gatte hörte nicht, was sie sagte, aber von den Bewegungen ihrer Lippen glaubte er die Worte abzulesen.

»Oh, daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

»Komm her zu mir, wenn erst im Herbst der Sturm kohlschwarze Wogen an das Ufer wälzt!« sprach Sven Elversson mit leidenschaftlich lauter Stimme. »O komm zu mir, wenn um die Mitternacht in Sturmeswolken sich der Mond verhüllt!«

Den Mann, der sich hinter der Hecke verbarg, überlief es eiskalt vor Entsetzen. Er sah, wie Sigrun mit einer Bewegung unendlicher Sehnsucht beide Arme erhob. Er sah, wie die flüsternden Lippen wieder und wieder ihren Klageruf ausstießen:

»Daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

»Komm an mein Herz mit deiner kalten Brust, du Braut des Todes, und verweile da, bis von den Fesseln meiner Erdenhülle auch meine Seele du gelöst, befreit!« schloß Sven Elversson mit brechender Stimme.

Der Pfarrer wendete den Blick von seiner Frau ab und richtete ihn auf den Torpfosten. Ihm war, als sei dieser einzig und allein bis zu diesem Augenblick erhalten worden, um ihn jetzt daran zu erinnern, daß er einem Geschlecht angehöre, das kein Unrecht duldete und sich zu rächen verstand.

Nachdem Sven Elversson die letzten Worte des Gedichtes vorgetragen hatte, sprachen die beiden am Tisch keine Silbe mehr miteinander. Sigrun stand rasch auf und ging ins Haus. Sven Elversson aber wanderte nach der entgegengesetzten Seite, durch die Fichtenhecke, an dem Torpfosten vorbei, hinunter an einen kleinen, glitzernden Teich; dort blieb er stehen und schaute ins Wasser hinab. Er war in einer Entfernung von wenigen Schritten an dem Pfarrer vorübergegangen, hatte ihn aber nicht gesehen.

Und der Pfarrer hatte das Gefühl, als müsse er den Mann, den Sigrun liebte, töten.

Das wäre ein leichtes gewesen. Er brauchte sich nur von rückwärts zu ihm hinzuschleichen und ihn ins Wasser zu werfen. Dieser Mann würde nicht einmal einen Versuch machen, sich zu verteidigen, das fühlte der Pfarrer deutlich. Er würde den Tod als einen willkommenen Gast begrüßen.

So vergingen ein paar gefährliche Augenblicke. Dann kam dem Erregten ein Gedanke, der ihn rettete. Gewiß hatte dieser Gedanke schon lange in der Tiefe seiner Seele geschlummert, aber erst jetzt stieg er herauf in sein Bewußtsein.

»Du hast einst diesen Mann aus deiner Kirche verstoßen, weil er sich an einem Toten vergriffen hatte; und du, der das tat, du willst dich jetzt an einem Lebenden vergreifen?«

Das war es, was ihn in dieser schweren Stunde zurückhielt. War das Leben nicht tausendmal unantastbarer als der Tod? Wie konnte er, der Sven Elversson nicht in seiner Kirche hatte sehen wollen, noch ein derart ungezügelter Mensch sein, um sich versucht zu fühlen, dem Leben eines Menschen ein Ende zu bereiten, eine Seele von ihrem Körper zu trennen, etwas zu begehen, dessen Tragweite kein Mensch kennt, das von Ewigkeit zu Ewigkeit Folgen haben kann?

Als er wieder einen Blick nach dem Teiche warf, wo Sven Elversson gestanden hatte, war dieser verschwunden.

Und nicht nur er war verschwunden, sondern auch der Torpfosten. Der Pfarrer glaubte später, er sei, während er gegen die Versuchung angekämpft hatte, zu dem Pfosten hingegangen, habe ihn mit allen seinen Stützen zu Boden geworfen; und der Pfosten, der durch und durch morsch und verfault gewesen war, sei lautlos umgefallen und habe nur ein Häufchen Staub hinterlassen.

Aber er wußte nicht recht, ob es sich so verhielt. Er glaubte auch, der Torpfosten habe in seiner eigenen Seele gestanden, und er sei die gewalttätige, eigenmächtige Natur seines ungezügelten Ichs mit allen ihren Stützen von ererbten Sitten, eingepflanzten Vorurteilen und alteingewurzelten Rechten gewesen, die jetzt eingefallen sei.

Denn daß sie wirklich eingefallen war, das fühlte er mit Erstaunen und freudiger Rührung.

Er fühlte es an der Flut sanfter Gedanken, die sich jetzt in seine Seele ergoß. Er fühlte es durch die Kraft vergebender Liebe, die ihn nun erfüllte. Er fühlte es an der Freude, die er plötzlich an seinem Beruf als Pfarrer empfand.

Er dachte an sein Leben: ja, er war ein Mann, der gleichzeitig das Feld bebaute und an den Seelen arbeitete, ein Hausvater und Hirt seiner Gemeinde, ein Herr und Meister und ein allen helfender Diener, und er glaubte erst jetzt diesen edelsten, größten und beglückendsten aller Berufe in Wahrheit zu lieben.

Und er war glücklich in dieser hellen Frühlingsnacht, während er allein über die öde, kärgliche, unschöne Hochebene in sein ärmliches Heim zurückfuhr.

Mit Verwunderung dachte er an das, was ihn erlöst hatte, nämlich nicht seine Liebe, auch nicht sein Beruf, sondern der Gedanke an die Hoheit und Heiligkeit des Lebens: dieser Gedanke, der langsam aus Sven Elverssons schwerem Schicksal emporgewachsen war und jetzt fest und klar und völlig reif dastand.

* * *

Als Sigrun am nächsten Morgen auf den Hofplatz hinaustrat, sah sie, daß Snoilskys Gedichte auf dem Gartentisch liegen geblieben waren, und sie ging hin, das Buch mit hineinzunehmen.

Doch als sie es aufhob, entdeckte sie, daß etwas zwischen den Blättern lag, und als sie nachschaute, was es sei, fiel ihr Blick auf einen kleinen Beutel aus gelbem Leder.

Er war gerade bei dem Gedicht hineingelegt worden, das von der Heimkehr des Kriegsgefangenen handelt, und er enthielt drei Ringe, zwei glatte Eheringe sowie einen anderen Ring, den Sigrun auch von ihrem Mann bekommen hatte, nebst ein paar anderen kleinen Schmuckstücken.

Sigrun wunderte sich und überlegte – allmählich begriff sie alles. Und von tiefer Rührung übermannt, fing sie an zu weinen.

So fand sie Sven Elversson.

Sie zögerte, ihm auf seine besorgten Fragen zu antworten. Endlich stieß sie schluchzend hervor:

»Eduard ist heute nacht hier gewesen, er hat unser ganzes Gespräch gehört! Er hat verstanden, daß ich dich liebe, und hat das für mich hier gelassen.«

»Mich liebst?« rief Sven Elversson. »Mich liebst?«

»Ja,« sagte Sigrun, »Eduard hat es gesehen, aber er zürnt mir nicht. Geliebter, er kommt nicht hierher und holt mich. Er will, daß ich hier bleibe und dein eigen werde!«

Im Laufe des Nachmittags kam Lotta Hedman nach Hånger, um im Auftrag des Pfarrers zu fragen, wie Sigrun nun alles geordnet haben wolle.

Und Lotta hatte sehr viel zu erzählen, unter anderem auch, daß sie in der vorhergehenden Nacht zum letztenmal den Hof Hånger in seiner ganzen altmodischen Schönheit vor sich habe auftauchen sehen. Sie habe die alte Hausmutter an ihrem Fenster erblickt und den Torpfosten und alles andere.

Aber plötzlich habe die Alte ihre Hände zum Himmel emporgehoben, und ihr Gesicht habe vor Freude gestrahlt.

Und eine Stimme habe laut verkündigt:

»Die Riesen von Hånger sind von ihrem Fluch erlöst!«

Und im selben Augenblick sei die alte Wächterin tot zu Boden gesunken, der Torpfosten sei umgefallen, ein Haus nach dem anderen sei eingestürzt, und da habe sie, Lotta Hedman, es gemerkt: jetzt war die endgültige Befreiung da, und nun werde ihr der Hof nie mehr erscheinen.

Jung-Joel

Jeder Mensch weiß, wie merkwürdig es einem mit Gedanken gehen kann. Es ist, als würden sie von einer unsichtbaren Hand über die Erde ausgestreut. Und da geht man wohl umher und meint, man habe etwas ganz Besonderes und Schönes gefunden und ist stolz und froh, bis man merkt, daß derselbe Gedanke gleichzeitig in vielen hundert anderen Köpfen aufgetaucht ist.

So ging es mit Pfarrer Rhånges Gedanken über die Heiligkeit des Lebens. Er war keineswegs der einzige, der sich damit beschäftigte. – – –

Es war im Juni, zu jener Zeit des Jahres, wo man in Bohuslän, oder vielleicht besser gesagt, in den Küstenorten und Schären von Bohuslän Gäste erwartete.

Überall war man eifrig beschäftigt gewesen, alles für ihren Empfang herzurichten. Die Leute hatten ihre Häuser und Boote frisch angestrichen, ihre Zimmer geputzt, ihre Anpflanzungen gesäubert, ihre Badehäuser geheizt und ihre Bassins gereinigt; und jetzt begannen auch die Eisenbahnzüge, voll von Gästen aus allen Richtungen des Landes, anzukommen. Da kamen Krüppel und Überanstrengte, Scharen von Kindern und Scharen von alten Leuten, solche, die Ruhe, und solche, die Zerstreuung haben wollten. Und es war, als sei ganz Schweden auf dem Weg nach den kahlen Schären und dem unfreundlichen atlantischen Meer.

Aber alle diese Gäste, auf deren Empfang man sich vorbereitet hatte, erwartete man von Osten, vom Lande her. Von Westen, vom Meere, wurden keine Fremden erwartet. Zu ihrem Empfang hatte man keine Vorbereitungen getroffen. Von dieser Seite war weder eine Anfrage noch eine Bestellung eingetroffen.

Wenn aber nun trotzdem Gäste aus dem Westen eintrafen, so konnte ihr Empfang nicht derselbe sein, wie der, der den von der Landseite Kommenden bereitet wurde. Denn durch sie entstand Jammer und Verwirrung und Traurigkeit, aber keine Freude.

Als die erste Woche des Juli im Jahr 1916 vorüber war, mußte Sven Elversson dieser Gäste wegen eine Reise nach Applum antreten. Sein Bruder, Jung-Joel, der in den letzten Jahren Seemann gewesen war und sich zu Frachtfahrten nach Holland verpflichtet hatte, war krank und verstört nach Knapefjord heimgekommen, nachdem ihm auf dem Meer eine Anzahl von denen begegnet war, die sich noch auf der Reise befanden, und er hatte zu seiner jungen Frau gesagt, sie solle seinen Bruder herbeischaffen, er müsse ihn durchaus sprechen.

 

Als Sven Elversson zu Jung-Joel kam, wanderte dieser in der kleinen Kammer hinter der Küche, in die das junge Ehepaar alle seine guten Möbel hineingestellt hatte und die sonst niemals benutzt wurde, ruhelos auf und ab. Er sah bleich und abgespannt aus, war aber nicht eigentlich krank. Seine Augen hatten rote Ränder und sahen aus, als könne er sie kaum noch offen halten, aber Jung-Joel fand keine Ruhe, wollte sich weder setzen noch hinlegen.

»Nun, wie geht es dir, Jung-Joel?« fragte Sven Elversson.

Jung-Joel beantwortete weder diese Frage, noch gab er sich sonstwie den Anschein, als ob er den Bruder bemerkt habe. Unermüdlich setzte er seine Wanderung fort und fuchtelte dazwischen mit den Armen in der Luft herum.

»Ja, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« sagte er.

»Wenn man ihn nur irgendwie zum Schlafen überreden könnte,« flüsterte seine Frau. »Aber er wagt es nicht, sich hinzulegen, wagt die Augen nicht zuzumachen. Er läuft nur unaufhörlich auf und ab.«

»Nein, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« wiederholte Jung-Joel, und noch einmal schlug er mit den Armen abwehrend um sich.

»Jung-Joel,« begann Sven Elversson, indem er versuchte, mit ihm von etwas längst Vergangenem zu sprechen, um ihn von dem, was ihn jetzt quälte, abzulenken. »Erinnerst du dich noch daran, wie du mit der Besatzung der Najade nach der Grimö hinauskamst, um mich zu zwingen, eine Schlange zu essen?«

Und wirklich! Jung-Joel hielt mitten in seiner Wanderung inne.

»Du bist da, Sven?« sagte er, während ihm die Tränen aus den müden Augen stürzten. »Wie gut, daß du gekommen bist! Nun kann ich dich doch um Verzeihung bitten, ehe ich verrückt werde.«

»So darfst du nicht reden,« erwiderte Sven Elversson.

Aber nun begann Jung-Joel zu erzählen.

Kurz nach der großen Nordseeschlacht war er an Skagen vorübergefahren und hatte dort die unzähligen Toten an der Oberfläche des Meeres dahintreiben sehen. Sie hatten nicht starr ausgestreckt im Wasser gelegen, sondern waren von ihren Korkwesten in aufrechter Stellung gehalten worden. Ihre Köpfe hatten über das Wasser herausgeragt, so daß man sogar die Gesichtszüge und den Ausdruck darauf hatte unterscheiden können.

Und weiter berichtete Jung-Joel, stundenlang sei der Dampfer durch Tausende und aber Tausende von Toten hindurchgefahren. Das ganze Meer sei von ihnen bedeckt gewesen.

Er schilderte dem Bruder, wie entsetzlich der Anblick dieser Toten gewesen sei, unbeschreiblich entsetzensvoll sei er gewesen; aber eins habe ihn doch am allermeisten erschüttert: allen den Toten seien von den unzähligen Scharen von Möwen, die über den Leichen kreisten, die Augen ausgehackt gewesen.

»Weißt du, was der zweite Steuermann tat?« fragte er. »Als er das Furchtbare eine Weile betrachtet hatte, machte er die Augen zu und sprang über Bord, und wir sahen ihn nicht wieder. Er wußte, daß er das Leben nicht mehr ertragen könnte, nachdem er das gesehen hatte. Und ich – ich wollte, ich hätte es gerade so gemacht wie er.«

»Nein, so darfst du nicht denken, Joel!« sagte Sven Elversson.

»Aber dies Entsetzliche hat sich mir so unauslöschlich eingeprägt, daß ich es immer vor mir sehe, sobald ich nur für eine Sekunde die Augen schließe,« fuhr Joel fort. »Ich wage nicht, mich hinzulegen, sondern muß Tag und Nacht aufbleiben, damit mir die Augen nicht zufallen.«

»Du mußt versuchen, an etwas anderes zu denken,« mahnte Sven Elversson. »Du hast doch Frau und Kind.«

»Ich will dir sagen, was wir taten,« sagte Jung-Joel. »Wir holten ein paar Gewehre, die sich an Bord befanden, und begannen auf die Möwen zu schießen. Auf diese Weise konnten wir doch an irgend etwas unseren Grimm auslassen, und ich glaube, das hat uns gerettet.

Aber sonst war das ein törichtes Tun. Denn was für eine Schuld hatten die Möwen? Und was bedeutet das, was Toten angetan wird, im Vergleich zu dem, was man Lebenden antut? Siehst du, das wollte ich dir sagen, Sven. Wenn ich bedenke, wie die Menschen miteinander umgehen – daß durch ihre Schuld Zehntausende von jungen Männern tot im Meere liegen – dann kann ich nur weinen und mich schämen.

Und früher, Sven, das weiß ich, da hab' ich mich oft über dich erhoben und mich für besser gehalten als dich. Aber jetzt bitte ich dich deshalb um Verzeihung. Ich, der dachte, du und deine Kameraden, ihr hättet schlecht an einem Toten gehandelt, ich habe nie etwas getan, um einem lebenden Menschen zu helfen.«

»Natürlich hast du das getan, Joel,« sagte der Bruder.

»Nein,« antwortete Joel weinend, und plötzlich trat er näher und kniete neben dem gepolsterten, mit vielen Deckchen geschmückten Lehnstuhl nieder, auf dem Sven Elversson Platz genommen hatte. »Ich habe nie jemand geholfen, weder den Eltern noch sonst jemand auf der weiten Welt. Und deshalb sieht es so schlecht in der Welt aus.«

»Ja, aber es wird besser werden, Jung-Joel,« sagte Sven Elversson, indem er dem Bruder sanft übers Haar strich. »Du kannst mithelfen, daß es besser wird.«

»Nein, jetzt ist alles aus,« versetzte Jung-Joel. »Jetzt hat sich mir dieses Bild unauslöschlich eingeprägt. Nun muß ich verrückt werden.«

Sven Elversson legte ihm zärtlich die Hand über die Augen.

»Versuch es einmal, Joel!« bat er. »Siehst du noch etwas Furchtbares, wenn ich dir meine Hand vor die Augen halte?«

»Nein,« antwortete Jung-Joel; »auf deiner Hand ruht ein Segen, denn du hast vielen Menschen geholfen.«

»Mach jetzt die Augen zu, Joel!« befahl Sven Elversson. »Und denke daran, daß wir uns von nun an bei dieser Arbeit helfen wollen!«

Jung-Joel schloß die Augen. Fast in derselben Minute sank sein Kopf auf das Knie des Bruders, und er schlief ein.

Das war wahrhaftig ein merkwürdiger Tag, den Sven Elversson in Knapefjord verlebte. Er mußte das Gefühl gehabt haben, wie wenn alle Menschen ungefähr auf dieselben Gedanken gekommen seien wie Jung-Joel.

Als der Bruder richtig zu Bett gebracht worden war und dort in einem gesunden Schlafe lag, machte Sven Elversson einen Spaziergang durch das Fischerdorf. Und nachdem er auf dem abschüssigen, schlüpfrigen, steinigen Boden ein Stück weit dahingewandert war, begegnete er der Frau des Hjelmfelt, der zu der einstigen Besatzung der Najade gehört hatte.

Sobald diese Frau Sven Elversson erkannte, eilte sie auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und bat ihn, doch zu ihrem Mann hineinzugehen und mit ihm zu sprechen. Hjelmfelt habe gleich zu Anfang des Weltkriegs mit anderen eine Mine bergen wollen, und seitdem besitze er nur noch einen Arm und zwei halbe Beine.

»Und das hab' ich mir gesagt,« fuhr die Frau fort, »wenn ich Euch je wieder träfe, wollte ich Euch bitten, uns unser Benehmen von damals zu verzeihen. Ich hab' an die denken müssen, die derartige Minen herstellen. Wenn einer von ihnen Eure Geschichte hörte, würde er wahrscheinlich meinen, er sei ein edler Mensch im Vergleich zu Euch.«

»Ja, das mag sein,« entgegnete Sven Elversson.

»Ich aber sage nein!« rief Hjelmfelts Frau voller Eifer. »Hält ein solcher Mensch es für ein Unrecht, Tote schlecht zu behandeln, so sollte er bedenken, wieviel tausendmal schlimmer es ist, solche teuflische Mordwerkzeuge herzustellen, die die Lebenden umbringen oder einen Mann unfähig machen, sich zu bewegen, und ihn zu lebenslänglichem Elend verurteilen. So etwas habt Ihr niemals getan. Ihr wolltet uns nur helfen!«

Sven Elversson begleitete sie zu Hjelmfelt und blieb eine geraume Zeit bei ihm. Er hörte alle seine Klagen geduldig an, und dann setzte er seine Wanderung fort.

Die nächste alte Bekannte, die er traf, war Julia Lamprecht. Auch sie kam auf ihn zu und redete ihn an.

»Ihr habt mir einmal angeboten, mich zu heiraten,« begann sie. »Ich aber sagte, so einen wie Euch wollte ich niemals heiraten. Daran hab' ich oft denken müssen. Seitdem der Krieg gekommen ist, hab' ich meine damaligen Worte bereut, das will ich Euch gerne gestehen. Denn was ging es mich an, was Ihr einem Toten angetan hattet? Aber die, die schuld daran sind, daß alle Steinarbeiter von Bohuslän keine Arbeit mehr haben und beinahe mit Weib und Kind verhungern müssen, die sündigen gegen die Lebenden, und das ist viel schlimmer.«

Als Sven Elversson den Pfad weiter hinaufging, blieb ein junger Mann vor ihm stehen, der ihm ganz unbekannt vorkam.

»Sie erkennen mich wohl nicht wieder,« sagte der junge Mann, »denn ich war kaum erwachsen, als Sie von der Grimö fortzogen. Aber ich bin Ihnen früher mit den anderen nachgelaufen und hab' Ihnen ›Menschenfresser‹ nachgeschrien. Und dafür möchte ich Sie jetzt, wo ich Ihnen zufällig begegne, um Verzeihung bitten, denn ich habe einsehen lernen, wie viel schlimmer es ist, sich an Lebenden zu versündigen als an Toten. Ich bin während des Kriegs Lotse gewesen, dreimal ist das Schiff unter mir torpediert worden, und jedesmal sind Menschenleben dabei zugrunde gegangen. Da hab' ich an Sie gedacht und mich gefragt, warum wohl wir alle, die so böse auf Sie waren, jetzt so geduldig sind. Es ist, als sei es jetzt ganz in der Ordnung, daß Menschen wie die wilden Tiere aufeinander losgehen. Aber so kann und darf es doch nicht sein.«

Nachdem Sven Elversson sich von dem Lotsen getrennt hatte, erstieg er einen Hügel hinter dem Fischerdorf und schaute lange auf das Meer hinaus. Schließlich sagte er:

»Wenn mein Unglück das fertig bringen sollte, daß die Menschen einen Lebenden für ein unantastbares Geschöpf halten, das man seines Lebens weder berauben noch unfähig machen darf, sich dieses Lebens zu bedienen, dann hätte die bittere Saat meiner Schmerzen doch einige Früchte getragen.«

Der Fischfang mit dem Treibnetz

Einige Tage später, als Jung-Joel ausgeschlafen hatte und nahezu wieder hergestellt war, ging Sven Elversson eines Nachmittags an den Hafen von Knapefjord hinunter und sah dort die Motorjacht Najade auf ihrem gewohnten Platz liegen. Olaus von der Fårö und Corfitzson und die anderen, die er von früher her kannte, waren an Bord, und sie, sowie die ganze Fischerflotte von Knapefjord, wollten gerade zum Fischfang mit dem Treibnetz weit hinaus ins Kattegatt fahren. Da stieg in Sven Elversson der Wunsch auf, sie zu begleiten und eine Nacht auf dem Meere zuzubringen.

Olaus sah aus, wie wenn er am liebsten nein gesagt hätte, aber er ging doch auf Sven Elverssons Verlangen ein, weil er ihm von früher her nichts vorwerfen konnte. Und sobald für Sven Elversson ein Ölanzug herbeigeschafft worden war, stieß man ab. Das Wetter war an diesem Tag besser als sonst in diesem Sommer, und es war ein guter Fang zu erhoffen. Aber Sven Elversson bemerkte bald, daß alle an Bord schlechter Laune waren. Sie sprachen unfreundlich miteinander und auch mit ihm. Als er sie fragte, wie der Makrelenfang im letzten Sommer ausgefallen sei, fluchten sie und sagten, einen weniger erfreulichen Beruf, als den eines Fischers, gebe es nicht.

Nach einiger Zeit erreichten sie die Stelle, wo sie fischen wollten; aber sie legten das riesige Treibnetz im Meer aus, ohne ein freundliches Wort miteinander zu wechseln, und geradeso war es dann während der Mahlzeit in der Kombüse. In der Nacht saß Sven Elversson oben auf Deck, und die Wachen lösten einander ab; aber keine von ihnen benützte die Gelegenheit, mit ihm ein Plauderstündchen zu halten, sondern jede ging verdrießlich und mit unterdrücktem Fluchen auf Deck auf und ab.

Sven Elversson verstimmte und bedrückte all diese Unfreundlichkeit, aber er hoffte, die Stimmung an Bord werde sich ändern, wenn der Morgen anbräche und es Zeit würde, das Netz einzuziehen. Ein wenig besser wurde es ja auch, als der Motor in Gang gesetzt war und man die beiden Enden des Netzes eingefangen hatte, um es hereinzuholen.

Olaus und Corfitzson standen an der geöffneten Reling und zogen, die anderen sollten das Netz in Empfang nehmen und die Fische aus den Maschen losmachen. Als nun das Netz hereinkam, so voll von prächtigen Makrelen, daß es wie ein Regenbogen glänzte, da leuchtete es in allen Gesichtern auf.

»Ihr werdet sehen, sie haben uns heute nacht verschont,« sagte Corfitzson.

»Willst du gleich schweigen!« schrie Olaus und stieß einen Fluch aus. »Mußt du sie auch noch daran erinnern? Sie passen ohnedies genau auf. Fühl einmal das hier!«

Damit hob er das Netz ein Stück übers Wasser, und nun sahen alle zwischen den glitzernden Makrelen etwas Großes, Dunkles. Es wurde totenstill an Bord, und im nächsten Augenblick kam mit dem Garn die Leiche eines Menschen auf Deck.

 

Ein junger Mensch, der statt Hjelmfelt an Bord gekommen war, versuchte den Toten loszumachen, aber da rief der Schiffer kurz und kalt:

»Laß sein! Hier kommt noch einer!«

Und gleich darauf ertönte abermals der Befehl:

»Laßt sein! Hier kommen noch mehr!«

Bei diesen Worten hoben Olaus und Corfitzson eine entsetzliche Masse an Bord, zwei ineinander verschlungene Leichen.

Nachdem die letzten Maschen des Zugnetzes eingezogen waren, lag in dem Schiffsraum ein gewaltiger Haufen von Leichen, braunen Netzmaschen und Makrelen. Die Fische, die noch nicht tot waren, zappelten und suchten loszukommen, so daß der unheimliche Haufen aussah, als sei er lebendig.

Als die Leichen an Bord gehoben wurden, bemächtigte sich Sven Elverssons eine solche Erregung, daß er zu weinen anfing. Er wischte die Tränen mit der Rückseite seiner Hand ab, aber sie kamen immer wieder. Er stampfte mit dem Fuß auf, aber sie kamen immer wieder. Schließlich mußte er die Arbeit am Netz aufgeben und ganz hinten aufs Schiff gehen.

Dort blieb er stehen, bis das Netz eingeholt und der Motor für die Heimfahrt in Gang gesetzt war. Die stumme Besatzung, noch ebenso unwillig, zornig und unzufrieden wie vorher, hatte sich wieder darangemacht, aus dem Netz die Fische und Muscheln herauszusuchen und das, was nicht hineingehörte, loszumachen.

»Alles, was in dem Netz ist, muß über Bord!« befahl Olaus.

Als Sven Elversson das hörte, begab er sich zu den anderen. Die Tränen strömten ihm noch immer aus den Augen, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern stellte sich neben die Besatzung und beteiligte sich an der furchtbaren Arbeit.

Jetzt kam die Reihe an einen der Toten. Sven Elversson hob ihn auf, während die anderen ein paar Netzmaschen losmachten, die sich um die Knöpfe seiner Uniform geschlungen hatten. Es war ein älterer Seemann mit einem Seemannsbart. Jemand sprach die Vermutung aus, es werde ein Engländer sein. Als er losgemacht war, schickte sich Sven Elversson an, ihn auf Deck hinauszuschleppen.

»Alles, was in dem Netz ist, muß über Bord!« sagte der Schiffer, indem er sich nach dem Toten bückte.

Aber Sven Elversson widersetzte sich.

»Willst du ihn nicht in geweihter Erde ruhen lassen, Olaus?« fragte er.

Olaus gab keine direkte Antwort auf diese Frage.

»Es ist am besten, wenn wir diesen ganzen Jammer vom Schiffe los sind,« sagte er.

Sven Elversson kämpfte heftig mit seinen Tränen und sagte dann mit ziemlich fester Stimme:

»Wenn du diesen hier ins Meer wirfst, mußt du mich mit hineinwerfen.«

Er war selbst erstaunt darüber, daß er so sprach, aber er konnte nicht anders. Und er würde bei seinem Worte bleiben, das fühlte er.

Und die anderen sahen auch, daß es ihm ernst war, und daß er lebend den Toten niemals loslassen würde.

Der Schiffer fluchte und wendete sich ab, sagte aber nicht geradezu nein, und da verstanden die andern, daß er nachgab.

Sven Elversson wollte den Toten wegtragen, aber er war zu schwer für ihn. Da kam der junge Mensch, der noch nicht lang auf dem Boot war, und ging ihm zur Hand. Sie legten den Toten an der Reling nieder.

Als die nächste Leiche aus dem Netz losgemacht wurde, war es schon selbstverständlich, daß sie zu der anderen gelegt wurde. Zwei Männer trugen sie zu Sven Elversson hinauf.

»Jetzt kommen wir mit einem Deutschen,« sagten sie.

Und zu seinem größten Erstaunen sah Sven Elversson, daß die Männer an Bord plötzlich einen ganz anderen Gesichtsausdruck bekommen hatten und viel besserer Laune waren.

Sie hatten aufgehört zu fluchen, sprachen still und ruhig. Jetzt haßten sie diese Scharen von Toten nicht mehr, die ihnen ihren Lebensunterhalt nahmen.

Denn sie waren gewohnt, den Toten Achtung und Ehrerbietung zu erweisen, etwas in ihnen fühlte sich befriedigt, daß diese ertrunkenen Krieger jetzt ein ordentliches Begräbnis erhalten sollten.

Aber auch Sven Elversson überkam eine wunderbare Ruhe, seine Seele wurde so still, wie sie vom ersten Tage seines Unglücks an nicht mehr gewesen war.

Ihm war, als höre er ringsum sich her Stimmen, die ihm dankten, weil er Mitleid mit den Körpern gehabt hatte, die einst die geliebten Wohnungen unsterblicher Seelen gewesen waren.

»Jetzt hast du dich von der Last befreit, die auf dir ruhte,« sagten die Stimmen. »Auf diese Weise mußte es geschehen. Nun ist deine Schuld von dir genommen. Als du dein Leben aufs Spiel setztest, um einen Toten zu retten, da wurde alles gesühnt.«

Sein Herz klopfte rasch und leicht, und er dachte: »Wenn mich von jetzt an Menschen verurteilen, macht es mir nichts mehr aus, denn ich fühle in meinem Herzen, daß ich jetzt meine Aufgabe erfüllt und mein Schicksal überwunden habe.«