Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Das Schweißtuch der heiligen Veronika

1

In einem der letzten Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius hatte sich ein armer Winzer mit seinem Weibe in einer einsamen Hütte hoch oben im Sabinergebirge niedergelassen. Sie waren Fremdlinge und lebten in der größten Einsamkeit, ohne jemals von irgendeinem Menschen aufgesucht zu werden. Aber eines Morgens sah dieser Arbeiter, als er seine Tür öffnete, zu seiner großen Verwunderung ein Weib auf der Schwelle kauern. Sie trug einen einfachen, grauen Mantel und sah aus, als wäre sie recht arm. Als sie sich jedoch erhob und auf ihn zutrat, erschien sie dessenungeachtet so ehrfurchtgebietend, daß er daran denken mußte, was die alten Sagen von den Göttinnen berichten, die in der Gestalt von greisenhaften Frauen den Menschen nahen.

»Freund,« sprach die Greisin zu dem Winzer, »Du mußt Dich nicht darüber verwundern, daß ich nachts auf Deiner Schwelle geschlafen habe. Meine Eltern haben einst diese Hütte bewohnt, und ich wurde hier vor fast neunzig Jahren geboren. Ich erwartete, sie leer und verlassen zu finden. Ich wußte nichts davon, daß Menschen sich darin niedergelassen hatten.«

»Ich wundere mich gar nicht, daß Du erwartet hast, die Hütte leer und verlassen zu finden, die so hoch oben inmitten des öden Gebirges liegt,« entgegnete der Winzer. »Aber ich und mein Weib stammen aus einem fernen Lande, und wir armen Fremdlinge fanden keine bessere Wohnstätte. Und nach der langen Wanderung, die Du in Deinem hohen Alter unternommen hast, wirst Du müde und hungrig sein. Da ist es Dir sicher willkommener, daß diese Hütte von Menschen anstatt von Wölfen aus dem Sabinergebirge bewohnt ist. Du findest drinnen nun doch ein Bett, auf dem Du ruhen kannst, und wenn Du vorlieb nehmen willst, soll für Dich eine Schale Ziegenmilch und ein Stück Brot bereit sein.«

Die Greisin lächelte ein wenig, aber dieses Lächeln war so flüchtig, daß es nicht den Ausdruck tiefen Kummers zu verdrängen vermochte, der auf ihrem Antlitz ruhte. »Ich habe meine ganze Jugend hier oben auf den Bergen verlebt,« antwortete sie. »Und ich habe es bis heute noch nicht verlernt, einen Wolf aus seiner Höhle zu verjagen.«

Und sie sah wirklich so stark und kräftig aus, daß der Arbeitsmann gar nicht bezweifelte, daß sie trotz ihres hohen Alters noch Kraft genug habe, um mit den wilden Tieren des Waldes zu kämpfen.

Er wiederholte indessen seine Aufforderung, und die Greisin trat in die Hütte. Sie setzte sich mit den armen Leuten an den Tisch und teilte ohne Zögern ihr bescheidenes Mahl. Aber obwohl sie sehr befriedigt zu sein schien, das grobe, in der Milch aufgeweichte Brot zu essen, fragten sich die beiden Eheleute: »Woher mag die greise Pilgerin kommen? Sie hat sicherlich häufiger Fasanen auf silbernem Gerät gegessen, als Ziegenmilch aus irdenen Krügen getrunken.«

Zuweilen blickte sie beim Essen auf und sah sich prüfend um, als wolle sie sich in der Hütte zurechtfinden. Die ärmliche Behausung mit ihren nackten Lehmwänden und dem festgestampften Lehmboden war wohl kaum verändert. Sie zeigte sogar ihren Wirtsleuten noch einige Spuren von Hunden und Hirschen, die ihr Vater einst zur Freude seiner kleinen Kinder dorthin gezeichnet hatte. Und hoch oben auf einem Wandbrett glaubte sie die Scherben eines Tonkruges zu erkennen, in den sie selber einst die Milch zu gießen pflegte.

Aber die Eheleute sagten sich: »Es mag sein, daß sie in dieser Hütte zur Welt kam, aber sie muß im Leben noch sehr viel anderes ausgerichtet haben, als Ziegen zu melken und Käse und Butter zu bereiten.«

Sie merkten auch, daß sie mit ihren Gedanken oft weit weg war, und daß sie schwer und sorgenvoll seufzte, wenn sie wieder zu sich kam. Schließlich stand sie von der Mahlzeit auf, dankte freundlich für die ihr gewährte Gastfreundschaft und schritt zur Tür hin.

Aber da erschien sie dem Winzer so verlassen und arm und kläglich, daß er ausrief: »Wenn ich mich nicht irre, so war es, als Du nachts hier mühsam heraufklommst, nicht Deine Absicht, die Hütte so bald wieder zu verlassen. Bist Du wirklich so arm, wie Du aussiehst, so wirst Du gewiß den Wunsch gehabt haben, den Rest Deiner Tage hier zu verleben. Aber nun willst Du von dannen gehen, weil ich und mein Weib die Hütte mit Beschlag belegt haben.«

Die Greisin leugnete nicht, daß er richtig geraten hatte. »Die Hütte, die so lange Jahre verlassen dastand, gehört ebenso gut Dir wie mir,« entgegnete sie. »Mir steht kein Recht zu, Dich daraus zu vertreiben.«

»Es ist gleichwohl die Hütte Deiner Eltern, und so hast Du sicherlich mehr Anspruch darauf als ich. Ueberdies sind wir jung, und Du bist alt. Darum sollst Du hierbleiben, und wir werden von dannen ziehen.«

Als die Greisin diese Worte vernahm, war sie höchlichst verwundert. Sie wandte sich auf der Schwelle um und starrte den Mann an, als hätte sie nicht begriffen, was er mit seinen Worten meinte.

Doch nun mischte sich auch das junge Weib in das Gespräch.

»Wenn mir ein Rat erlaubt ist,« sagte sie zu ihrem Manne, »so möchte ich Dich bitten, die würdige Greisin zu fragen, ob sie uns nicht als ihre Kinder betrachten will, die bei ihr bleiben und sie pflegen dürfen. Was würden wir ihr dadurch helfen, daß wir ihr die armselige Hütte schenkten und sie dann verließen? Wie schrecklich wäre es für sie, hier in dieser Einöde allein zu hausen. Und wovon sollte sie denn leben? Es wäre ebenso, als ließen wir sie Hungers sterben.«

Da schritt die Greisin auf die jungen Eheleute zu und betrachtete sie aufmerksam. »Warum redet Ihr so zu mir?« fragte sie. »Warum erweiset Ihr mir Barmherzigkeit? Ihr seid ja Fremdlinge in diesem Lande.«

Und die junge Frau antwortete ihr: »Es geschieht darum, weil wir selber einmal der großen Barmherzigkeit teilhaftig geworden sind.«

2

Und also geschah es, daß die Greisin in der Hütte des Winzers wohnen blieb, und sie faßte eine große Freundschaft für die jungen Eheleute. Aber dessenungeachtet sagte sie ihnen niemals, von wannen sie gekommen war und wer sie sei, und sie begriffen, daß die Fremde eine Frage danach nicht gut aufgenommen hätte.

Eines Abends jedoch, als die Arbeit getan war und sie alle drei, ihr Nachtmahl verzehrend, auf der großen, flachen Felsplatte saßen, die als Schwelle zur Hüttentür führte, erblickten sie einen alten Mann, der den Bergpfad erstieg.

Es war ein großer, kräftig gebauter Mann mit den breiten Schultern eines Ringkämpfers. Sein Gesicht zeigte einen finsteren, unfreundlichen Ausdruck. Die Stirn sprang über die tiefliegenden Augen vor, und die Linien um den Mund drückten Bitterkeit und Verachtung aus. Er näherte sich in straffer Haltung und mit schnellen Bewegungen.

Der Mann war sehr einfach gekleidet, und der Winzer dachte bei seinem Anblick: Das ist ein alter Legionär, der seinen Abschied bekommen hat und nun in seinen Heimatsort zurückwandert.

Als der Fremdling bei den Essenden angelangt war, blieb er wie zweifelnd stehen. Der Arbeiter, der wußte, daß dieser Weg ein kleines Stück oberhalb der Hütte ein Ende hatte, legte den Löffel aus der Hand und rief dem Manne zu: »Bist Du irre gegangen, Fremdling, da Du zu dieser Hütte gekommen bist? Niemand pflegt sich sonst die Mühe zu machen, hier heraufzuklettern, es sei denn, er bringe einem von uns, die wir hier hausen, Botschaft.«

Während er diese Frage stellte, trat der Fremdling näher.

»Ja, es ist so, wie Du sagst,« antwortete er. »Ich habe den Weg verfehlt, und nun weiß ich nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll. Wenn Du mir hier eine Weile Ruhe gönnen und mir dann sagen willst, welchen Weg ich wählen muß, um einen Gutshof zu erreichen, so wäre ich Dir dankbar.«

Bei diesen Worten setzte er sich auf einen der großen Steine, die vor der Hütte lagen. Die junge Frau fragte ihn, ob er nicht an ihrer Mahlzeit teilnehmen wolle, er jedoch lehnte es lächelnd ab. Dagegen zeigte es sich, daß er sehr geneigt war, sich mit ihnen zu unterhalten, während sie weiteraßen. Er fragte die jungen Eheleute nach ihrem Leben und nach ihrer Arbeit, und sie gaben ihm einfach und offen Bescheid.

Plötzlich wandte sich der Arbeiter an den Fremdling und begann ihn auszufragen: »Du siehst, in welcher Einöde und wie einsam wir hier leben,« sagte er. »Es ist wohl ein Jahr vergangen, seit ich mit anderen Menschen als Hirten und Winzern geredet habe. Aber kannst Du als einer, der aus dem Feldlager kommt, uns nicht ein wenig über Rom und den Kaiser berichten?«

Kaum hatte der Mann diese Frage gestellt, so bemerkte sein junges Weib auch sogleich, daß die Greisin ihm einen warnenden Blick zuwarf und mit der Hand ein Zeichen machte, sich mit seinen Worten recht in acht zu nehmen.

Der Fremdling aber erwiderte ganz freundlich: »Ich sehe, daß Du mich für einen Legionär hältst, und Du hast damit in der Tat nicht so unrecht, obwohl ich schon längst den Dienst verlassen habe. Für uns Kriegsleute hat es unter der Regierung des Tiberius nicht viel Arbeit gegeben. Und dennoch war er einst ein großer Feldherr. Das war in seinen Glückstagen. Nun aber denkt er an gar nichts anderes, als sich vor Verschwörungen zu schützen. In Rom reden alle Menschen davon, daß er in der vergangenen Woche, nur auf einen leeren Verdacht hin, den Senator Titius ergreifen und hinrichten ließ.«

»Der arme Kaiser, er weiß nicht mehr, was er tut!« rief die junge Frau. Sie erhob die Hände und schüttelte voll Mitleid und Verwunderung den Kopf.

»Da hast Du wirklich recht,« erwiderte der Fremdling, während ein Ausdruck tiefster Schwermut sein Gesicht überflog. »Tiberius weiß, daß ihn alle Menschen hassen, und das wird ihn noch zum Wahnsinn treiben.«

»Was redest Du?« entgegnete die junge Frau. »Warum sollten wir ihn hassen? Wir beklagen es ja nur, daß er nicht mehr der große Kaiser ist wie zu Anfang seiner Regierung.«

 

»Du irrst Dich,« sprach der Fremdling. »Alle Menschen hassen und verachten Tiberius. Und weshalb sollten sie es nicht tun? Er ist ja nur noch ein grausamer und herzloser Tyrann. Und in Rom glaubt man, daß er von nun an noch hartherziger werden wird, als er es jemals war.«

»Ist denn irgend etwas geschehen, das ihn zu einem noch schrecklicheren Unhold machen könnte, als er schon war?« fragte der Mann.

Als er dies sagte, bemerkte die junge Frau, daß die Greisin wieder ihr Warnungszeichen gab, aber so verstohlen, daß der Mann es nicht gewahrte.

Der Fremdling antwortete ihm freundlich, während ein sonderbares Lächeln um seine Lippen irrte.

»Du hast vielleicht erzählen hören, daß Tiberius bisher in seiner Umgebung einen Freund besaß, auf den er sich fest verlassen konnte, und der ihm stets die Wahrheit sagte. Alle anderen, die an seinem Hofe leben, sind Glücksjäger und Heuchler, die seine bösen und heimtückischen Handlungen ebenso loben und preisen wie seine guten und vortrefflichen. Dennoch gab es, wie ich sagte, einen einzigen Menschen, der niemals fürchtete, ihn den Wert seiner Handlungen erkennen zu lassen. Dieses Wesen, das mutiger war als alle seine Senatoren und Feldherren, war des Kaisers alte Amme, Faustina.

»Ei, freilich, ich hörte von ihr reden,« sprach der Arbeiter. »Man erzählte mir, daß der Kaiser ihr allzeit in Freundschaft zugetan war.«

»Ja, Tiberius wußte ihre Hingebung und Treue zu schätzen. Er hat die arme Bäuerin, die einst aus einer elenden Hütte in den Sabinerbergen herabgestiegen war, wie seine zweite Mutter behandelt. Solange er selbst in Rom weilte, ließ er sie ein Haus auf dem Palatin bewohnen, um sie stets in seiner Nähe zu haben. Keine von Roms vornehmsten Matronen hatte es besser als sie. Sie wurde in einer Sänfte durch die Straßen getragen und war wie eine Kaiserin gekleidet. Als der Kaiser nach Capri übersiedelte, mußte sie ihn dorthin begleiten, und er ließ für sie ein Landhaus kaufen, voll von Sklaven und kostbarem Hausrat.«

»Sie hat es fürwahr gut gehabt,« sagte der Mann.

Er allein setzte nun das Gespräch mit dem Fremden fort. Sein Weib saß stumm dabei und beobachtete, welch eine Veränderung mit der Greisin vorgegangen war. Seit der Ankunft des Fremden hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Ihr sanftes, freundliches Aussehen war verschwunden. Sie hatte ihr Essen beiseite geschoben und sich starr und aufrecht gegen den Türpfosten gelehnt, von wo sie mit strengem, versteinertem Antlitz gerade vor sich hinblickte.

»Es lag in des Kaisers Absicht, ihr ein glückliches Leben zu bereiten,« sprach der Fremdling. »Aber trotz all seiner Wohltaten hat auch sie ihn jetzt verlassen.«

Die Greisin zuckte bei diesen Worten zusammen, und die junge Frau legte sanft beruhigend die Hand auf ihren Arm. Dann begann sie mit ihrer warmen, milden Stimme zu sprechen. »Ich kann es dennoch nicht glauben, daß die alte Faustina bei Hofe so glücklich gewesen ist, wie Du meinst,« sagte sie, indem sie sich dem Fremdling zuwandte. »Ich bin dessen gewiß, daß sie Tiberius wie ihren eigenen Sohn geliebt hat. Wohl kann ich begreifen, wie stolz sie auf seine edle Jugend gewesen ist, und kann es darum auch verstehen, welch ein Kummer es für sie war, als er sich in seinem Alter dem Mißtrauen und der Grausamkeit hingab. Sicherlich hat sie ihn jeden Tag ermahnt und gewarnt. Es war für sie furchtbar, immer umsonst zu bitten. Sie hat es schließlich wohl nicht mehr ertragen, ihn tiefer und tiefer sinken zu sehen.«

Bei diesen Worten beugte sich der Fremdling überrascht ein wenig vor. Doch das junge Weib blickte nicht zu ihm auf. Sie hatte die Augen gesenkt und sprach sehr leise und ehrerbietig.

»Du hast die alte Frau vielleicht richtig beurteilt,« antwortete er. »Faustina war in der Tat bei Hofe nicht glücklich. Dennoch wirkt es sonderbar, daß sie den Kaiser in seinem hohen Alter verließ, nachdem sie ein ganzes Menschenalter durch bei ihm ausgeharrt hatte.«

»Was redest Du?« fragte der Mann. »Die alte Faustina hat also den Kaiser für immer verlassen?«

»Sie hat sich heimlich von Capri fortgeschlichen,« sagte der Fremdling. »Sie ist ebenso arm weggegangen, wie sie gekommen war. Von ihren Schätzen hat sie nicht das geringste mitgenommen.«

»Und der Kaiser weiß nicht, wohin sie sich begeben hat?« fragte die junge Frau mit ihrer sanften Stimme.

»Nein, niemand ist sicher, welchen Weg die Greisin eingeschlagen hat. Man hält es jedoch für wahrscheinlich, daß sie in ihren heimatlichen Bergen eine Zuflucht gesucht habe.«

»Und der Kaiser weiß auch nicht, weshalb sie fortgegangen ist?« fragte die junge Frau.

»Nein, der Kaiser weiß nichts darüber. Er kann doch nicht annehmen, daß sie ihn verließ, weil er einmal zu ihr sagte, auch sie diene ihm nur, wie alle anderen, um Lohn und Geschenke zu erhalten. Sie weiß doch, daß er niemals an ihrer Uneigennützigkeit gezweifelt hat. Er hat auch noch immer gehofft, daß sie freiwillig zu ihm zurückkehren würde, denn niemand weiß besser als sie, daß er nun gar keinen Freund mehr hat.«

»Ich kenne sie nicht,« sprach die junge Frau, »und dennoch glaube ich, Dir sagen zu können, weshalb sie den Kaiser verlassen hat. Jene alte Frau wurde einst inmitten dieser Berge zu Einfachheit und frommer Sitte erzogen und hat sich stets hierher zurückgesehnt. Dennoch hätte sie den Kaiser sicherlich niemals verlassen, wenn er sie nicht beleidigt hätte. Aber ich begreife es sehr wohl, daß sie, nachdem dies geschehen war, glaubte, jetzt, am Ende ihrer Lebenszeit, an sich selber denken zu dürfen. Wenn ich ein armes Weib aus den Bergen wäre, würde ich wahrhaftig ganz wie sie gehandelt haben. Ich würde denken, daß ich genug getan hätte, da ich meinem Herrn ein ganzes Leben lang gedient habe. Ich würde alles Wohlleben und alle Kaisergunst aufgeben, um meine Seele mit Lauterkeit und Gerechtigkeit zu erfüllen, ehe sie zur langen Fahrt von mir scheidet.«

Der Fremdling blickte ernst und schwermütig die junge Frau an. »Du denkst nicht daran, daß des Kaisers Gebaren furchtbarer werden wird als je zuvor. Nun gibt es niemanden, der ihn beruhigen könnte, wenn Mißtrauen und Menschenverachtung sich seiner bemächtigen. Stelle Dir vor,« fuhr er fort und bohrte seine finsteren Blicke tief in die des jungen Weibes, »in der ganzen Welt gibt es nunmehr keinen, den er nicht haßte, keinen, den er nicht verachtete, keinen einzigen.«

Bei diesen Worten der bittersten Verzweiflung machte die Greisin eine hastige Bewegung und wandte sich ihm zu, aber das junge Weib blickte ihm fest in die Augen und erwiderte: »Tiberius weiß, daß Faustina wiederkehrt, wann auch immer er es wünscht. Doch zuvor muß sie wissen, daß ihre alten Augen nicht mehr Laster und Schändlichkeit an seinem Hofe schauen müssen.«

Alle hatten sich bei diesen Worten erhoben, doch der Winzer und sein Weib stellten sich vor die Greisin, als wollten sie sie schützen.

Der Fremdling sprach kein Wort mehr, betrachtete jedoch die Greisin mit fragenden Blicken. Ist dies auch Dein letztes Wort? schien er sagen zu wollen. Die Lippen der Greisin zitterten und vermochten kein Wort hervorzubringen.

»Wenn der Kaiser seine alte Dienerin geliebt hat, so mag er ihr auch Ruhe für die letzten Lebenstage gönnen,« sprach das junge Weib.

Der Fremdling zögerte noch, aber plötzlich erhellte sich sein finsteres Gesicht. »Meine Freunde,« sprach er, »was man auch von Tiberius sagen mag, so gibt es doch eines, was er besser gelernt hat als andere, und das ist – der Verzicht. Ich habe Euch nur noch eines zu sagen: Wenn die alte Frau, von der wir sprachen, diese Hütte aufsuchen sollte, so nehmt sie gut auf. Des Kaisers Gunst ist jedem gewiß, der ihr beisteht.«

Er hüllte sich in seinen Mantel und entfernte sich auf demselben Wege, auf dem er gekommen war.

3

Von nun an sprachen der Winzer und sein Weib niemals mehr mit der alten Frau über den Kaiser. Doch wunderten sie sich, daß sie in ihrem hohen Alter noch die Kraft besessen hatte, all dem Reichtum und der Macht zu entsagen, an die sie solange gewöhnt war. Oft fragten sie sich: »Ob sie nicht doch bald zu Tiberius zurückkehren möchte? Sie liebt ihn gewiß noch immer. Sie hat ihn doch nur in der Hoffnung verlassen, ihn dadurch zur Besinnung zu bringen und seinem sündhaften Leben und Treiben zu entfremden.

»Ein so alter Mann wie der Kaiser wird niemals ein neues Leben beginnen,« sagte der Arbeiter. »Wie willst Du ihn von seiner großen Menschenverachtung heilen? Wer könnte vor ihn hintreten und ihn Menschenliebe lehren? Ehe dies geschehen ist, kann er von seinem Mißtrauen und seiner Grausamkeit nicht befreit werden.«

»Du weißt, daß es einen gibt, der dies in Wahrheit vermöchte,« sprach sein Weib. »Ich denke oft daran, wie wohl eine Begegnung der beiden ablaufen würde. Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.«

Die Greisin schien ihr früheres Leben durchaus nicht zu entbehren. Nach einiger Zeit gebar die junge Frau ein Kind, und da die Alte dies nun warten und hüten mußte, schien sie so zufrieden, daß man glauben konnte, sie habe alle ihre Sorgen vergessen.

Jedes halbe Jahr einmal pflegte sie sich in ihren langen, grauen Mantel zu hüllen und nach Rom hinab zu wandern. Aber dort suchte sie keinen Menschen auf, sondern ging geradeswegs nach dem Forum. Dort blieb sie vor einem kleinen Tempel stehen, der auf einer Seite des prächtig geschmückten Marktplatzes sich erhob. Dieser Tempel bestand eigentlich nur aus einem ungewöhnlich großen Altar, der auf einem marmorgepflasterten Hof unter freiem Himmel errichtet war. Auf der Höhe des Altars thronte Fortuna, die Glücksgöttin, und an seinem Fuße stand eine Statue des Tiberius. Rund um den Hof zogen sich Gebäude für die Priester, Schuppen für Brennholz und Ställe für die Opfertiere.

Die Wanderung der alten Faustina erstreckte sich niemals weiter als bis zu diesem Tempel, wohin alle jene pilgerten, die für Tiberius Glück erflehen wollten. Wenn sie hineinblickend gesehen hatte, daß die Göttin und die Kaiserstatue mit Blumen bekränzt waren, daß das Opferfeuer flammte, daß Scharen ehrfürchtiger Beter vor dem Altar versammelt waren, und wenn sie hörte, daß die leisen Hymnen der Priester ringsumher erklangen, dann kehrte sie um und wanderte wieder nach den Bergen hinauf.

Dadurch erfuhr sie, ohne irgendeinen Menschen fragen zu müssen, daß Tiberius noch unter den Lebenden weilte, und daß es ihm wohl erging.

Als sie diese Wanderung zum drittenmal unternahm, harrte ihrer eine schmerzliche Ueberraschung. Sie fand bei ihrer Annäherung den kleinen Tempel verödet und leer.

Kein Feuer flammte vor der Statue, und kein einziger Beter war zu erblicken. Vertrocknete Kränze hingen noch immer an der einen Seite des Altars, aber dies war auch alles, was von dessen früherer Herrlichkeit zeugte. Die Priester waren verschwunden, und die Kaiserstatue, die unbehütet dastand, war beschädigt und mit Schmutz beworfen.

Die Greisin wandte sich an den ersten besten Vorübergehenden und fragte:

»Was hat das zu bedeuten? Ist Tiberius tot? Haben wir einen neuen Kaiser?«

»Nein,« entgegnete der Römer, »Tiberius ist noch Kaiser, aber wir haben aufgehört, für ihn zu beten. Unsere Gebete können ihm nicht mehr helfen.«

»Mein Freund,« sprach die Greisin, »ich wohne weit entfernt in den Bergen, wo man nichts davon erfährt, was draußen in der Welt geschieht. Willst Du mir wohl sagen, welches Unglück den Kaiser betroffen hat?«

»Das schrecklichste Unglück, das man sich denken kann,« sagte der Mann. »Er ist von einer Krankheit befallen, die man in Italien noch gar nicht kannte, die aber im Morgenlande häufig vorkommen soll. Seit dieses Uebel den Kaiser ergriffen hat, ist sein Antlitz ganz verwandelt, seine Stimme gleicht der eines grunzenden Tieres, und seine Zehen und Finger verfaulen. Und gegen diese Krankheit soll es kein Heilmittel geben! Man glaubt, daß er nach einigen Wochen sterben wird, und falls er nicht stirbt, muß man ihn absetzen, denn ein so kranker, elender Mann kann nicht länger die Regierung in Händen halten. Du begreifst also, daß er abgetan ist. Es nützt nichts, von den Göttern Glück für ihn herabzuflehen. Und es lohnt sich auch gar nicht,« setzte er mit leisem Lächeln hinzu. »Von ihm hat keiner mehr etwas zu fürchten oder zu hoffen. Weshalb sollten wir uns also um seinetwillen noch Mühe machen?«

Er grüßte und ging, die Greisin aber blieb wie betäubt stehen.

Zum erstenmal in ihrem Leben brach sie zusammen und sah aus wie jemand, den das Alter gebrochen hat. So stand sie mit gebeugtem Rücken und schwankendem Haupte da, und ihre Hände tappten kraftlos in der Luft umher.

 

Sie sehnte sich danach, diese Stelle zu verlassen, konnte aber die Füße nur langsam bewegen und ging strauchelnd weiter. Sie blickte ringsumher, um etwas zu finden, was ihr als Stab dienen könnte.

Dennoch gelang es ihr nach einigen Augenblicken, mit ungeheurer Willensanspannung ihre Mattigkeit zu überwinden. Sie richtete sich wieder auf und zwang sich, mit festen Schritten durch die volksbelebten Straßen zu gehn.

4

Eine Woche später erstieg die alte Faustina die steilen Abhänge der Insel Capri. Es war ein heißer Tag, und das entsetzliche Gefühl des Alters und der Mattigkeit überkam sie wieder, während sie auf gewundenen Stegen und auf den in die Felsen gehauenen Stufen sich zu der Villa des Tiberius emporschleppte.

Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie zu merken begann, wie sehr sich alles während ihrer Abwesenheit gewandelt hatte. Auf diesen Treppen waren früher stets große Scharen von Menschen hinauf und hinab geeilt. Hier hatte es von Senatoren gewimmelt, die sich von riesenhaften Libyern tragen ließen, und hier erschienen Sendlinge aus den Provinzen, die von langen Sklavenzügen begleitet waren, es kamen Aemter suchende und vornehme Männer, die zu den Festen des Kaisers eingeladen waren.

Heute waren diese Treppen und Pfade gänzlich verödet. Die graugrünen Eidechsen waren die einzig lebenden Geschöpfe, welche die Greisin auf ihrem Wege sah.

Sie war bestürzt, daß alles bereits dem Verfall nahe schien. Die Krankheit des Kaisers konnte höchstens einige Monate gedauert haben, und dennoch wucherte schon Gras in den Spalten zwischen den Marmorfliesen. Edle Gewächse, die in schönen Gefäßen geprangt hatten, waren vertrocknet, und rohe Zerstörer hatten, von niemandem gehindert, an mehreren Stellen die Balustraden niedergebrochen.

Aber am seltsamsten berührte sie doch dieses gänzliche Fehlen von Menschen. Wenn es auch allen Fremdlingen verboten war, sich auf dieser Insel zu zeigen, so mußten doch wohl die endlosen Scharen von Kriegsknechten und Sklaven, von Tänzerinnen und Musikanten, von Köchen und Tafeldeckern, von Palastwachen und Gartenarbeitern, sie alle, die zum kaiserlichen Haushalt gehörten, da sein.

Erst als Faustina die oberste Terrasse erreichte, bemerkte sie ein paar alte Sklaven, die auf den Treppenstufen vor der Villa saßen. Als sie sich ihnen näherte, standen sie auf und verneigten sich tief vor ihr.

»Sei gegrüßt, Faustina!« sagte der eine. »Gott sendet Dich, unser Unheil zu mildern.«

»Was geht hier vor, Milo?« fragte Faustina. »Warum ist es hier so öde und leer? Man sagte mir doch, daß Tiberius noch immer auf Capri wohne.«

»Der Kaiser hat alle seine Sklaven weggejagt, weil er uns beargwohnt, einer habe ihm vergifteten Wein zu trinken gegeben, und dadurch sei die Krankheit entstanden. Er hätte auch mich und Tito weggejagt, wenn wir uns nicht geweigert hätten, ihm zu gehorchen. Du weißt doch, daß wir unser ganzes Leben lang dem Kaiser und seiner Mutter gedient haben.«

»Ich frage nicht nur nach seinen Sklaven. Wo sind die Senatoren und die Feldherren? Wo sind des Kaisers Vertraute und alle die Speichellecker?«

»Tiberius will sich nicht mehr vor Fremden zeigen,« sagte der Sklave. »Der Senator Lucius und Macro, der Anführer der Leibwache, kommen jeden Tag her, um seine Befehle entgegenzunehmen. Sonst darf niemand in seine Nähe kommen.«

Faustina hatte die Treppe erstiegen, um in die Villa zu gehn. Der Sklave schritt vor ihr her, und im Weitergehen fragte sie ihn:

»Was sagen die Aerzte von der Krankheit des Tiberius?«

»Keiner von ihnen versteht diese Krankheit zu behandeln. Sie wissen nicht einmal, ob das Uebel schnell oder langsam tötet. Aber ich kann Dir nur sagen, Faustina, daß Tiberius sicher sterben muß, wenn er sich, wie bisher, weigert, Nahrung zu sich zu nehmen, aus Angst vor Vergiftung. Und ich weiß auch, daß ein kranker Mensch es nicht aushalten kann, Tag und Nacht zu wachen, wie der Kaiser tut, weil er fürchtet, im Schlaf ermordet zu werden. Wenn er Dir vertrauen wollte, wie in früheren Tagen, so könnte es Dir vielleicht gelingen, ihn zum Essen und zum Schlafen zu bestimmen. Dadurch könntest Du sein Leben um viele Tage verlängern.«

Der Sklave geleitete Faustina durch viele Gänge und Höfe bis zu einer Terrasse, wo Tiberius sich aufzuhalten pflegte, um die Aussicht über die schönen Meeresbuchten und den stolzen Vesuv zu genießen.

Als Faustina die Terrasse betrat, erblickte sie ein grausiges Geschöpf mit geschwollenem Angesicht und tierischen Zügen. Seine Hände und Füße waren mit weißen Binden umwickelt, aber aus den Binden streckten sich halb abgefaulte Finger und Zehen heraus. Und die Kleidung dieses Menschen war staubig und besudelt. Man sah, daß er unfähig war, aufrecht zu gehen, und daß er nur auf der Terrasse herumkriechen konnte. Er lag mit geschlossenen Augen am fernsten Ende der Balustrade und bewegte sich nicht einmal, als der Sklave und Faustina herankamen.

Aber Faustina flüsterte dem voranschreitenden Sklaven zu: »Was bedeutet das, Milo, wie kommt ein solcher Mensch hier auf die Kaiserterrasse? Beeile Dich und schaffe ihn fort!« Doch kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als sie auch schon gewahrte, daß der Sklave sich vor dem am Boden liegenden, elenden Menschen tief zur Erde neigte.

»Cäsar Tiberius,« sprach er, »endlich habe ich Dir eine frohe Botschaft zu bringen.« Zugleich wandte sich der Sklave nach Faustina um, fuhr aber bestürzt zurück und vermochte kein Wort mehr zu reden.

Er erblickte nicht mehr die stolze Matrone, die so stark ausgesehen hatte, daß man vermuten konnte, ihr Alter würde dem einer Sibylle gleichkommen. In kraftloser Greisenhaftigkeit war sie zusammengesunken, und eine gebeugte, alte Frau mit trübem Blick und mit tastenden Händen sah der Sklave vor sich.

Zwar hatte man Faustina erzählt, daß der Kaiser schrecklich verändert sei, aber sie hatte doch keinen Moment aufgehört, sich ihn als den kräftigen Mann vorzustellen, der er noch gewesen war, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Auch hatte sie jemanden sagen hören, daß diese Krankheit langsam wirke, und daß sie eine Reihe von Jahren brauche, um einen Menschen zu entstellen. Hier jedoch war sie so reißend fortgeschritten, daß sie den Kaiser bereits nach wenigen Monaten unkenntlich gemacht hatte.

Faustina wankte auf den Kaiser zu, vermochte aber nicht zu sprechen, sondern blieb stumm und weinend neben ihm stehn.

»Bist Du nun gekommen, Faustina?« sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Hier liege ich und bilde mir ein, daß Du bei mir stehst und über mich weinst. Ich wage es nicht, aufzublicken, weil ich fürchte, es könnte ein Trug sein.«

Da setzte die Greisin sich zu ihm. Sie hob seinen Kopf und bettete ihn in ihren Schoß.

Aber Tiberius blieb ganz still liegen, ohne sie anzublicken. Ein köstliches Ruhegefühl umfing ihn, und im nächsten Augenblick versank er in tiefen Schlaf.

5

Einige Wochen später wanderte einer der kaiserlichen Sklaven der einsamen Hütte in den Sabinerbergen zu. Es war gegen Abend, und der Winzer stand mit seinem Weibe in der Tür, um die Sonne im fernen Westen sinken zu sehn. Der Sklave bog vom Wege ab und trat grüßend auf sie zu. Dann zog er einen mächtigen Beutel aus seinem Rocke und legte ihn in des Mannes Hand.

»Dies sendet Dir Faustina, die Greisin, gegen die Ihr barmherzig gewesen seid,« sprach der Sklave. »Sie bittet Dich, Du mögest Dir für dieses Geld einen eigenen Weinberg kaufen und eine Wohnstätte bauen, die nicht so hoch oben in den Lüften schwebt wie des Adlers Horst.«

»Also die greise Faustina lebt wirklich noch?« rief der Mann aus. »Wir haben in Klüften und Sümpfen nach ihr geforscht. Als sie nicht zu uns zurückkehrte, glaubte ich schon, sie hätte in diesen elenden Bergen ihren Tod gefunden.«