Buch lesen: «Liljecronas Heimat», Seite 2

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Meistens gelang es Schneewittchen auch, es so einzurichten, daß sie nur bei den Mahlzeiten zusammentrafen; aber kaum hatte sich der Vater zu Tische gesetzt, als er auch schon von etwas zu reden anfing, womit er, wie er wußte, bei der Jungfer Anstoß erregte. Und am komischsten deuchte es ihn, mit ihr von Liebe und Heirat zu sprechen.

Er sei sehr froh, daß er die Jungfer ins Haus bekommen habe, denn jetzt könne sie ihm einen guten Rat geben. Er habe schon lange daran gedacht, sich wieder zu verheiraten. Was würde sie wohl zur Gräfin auf Borg sagen?

Aber kaum hatte der Vater das gesagt, als die Jungfer ganz starr vor Schrecken wurde. Sie legte Messer und Gabel nieder und sah ihn sprachlos an.«

Die Pflegeschwester lachte hell hinaus. »Denk dir, wie lustig er es da gehabt hätte!« sagte sie.

»Ja, das ist klar, der Herr Vater fuhr ordentlich ins Zeug. Es passierte ihm nicht alle Tage, daß er mit jemand zusammen kam, der es nicht verstand, wenn er scherzte. Jetzt erklärte er, er könne absolut nicht begreifen, warum Jungfer Vabitz so erstaunt aussehe. Ob sie meine, die Gräfin werde ihn nicht haben wollen? Aber er wisse ganz bestimmt, daß ihn die Gräfin für einen schönen Mann halte. Solange sie auf Borg sei, besuche sie die Kirche jeden Sonntag, und sie habe selbst einmal gesagt, einen häßlichen Pfarrer könnte sie nicht predigen hören.

Das war doch zu komisch! Als Schneewittchens Vater dieses sagte, zeigten sich auf Jungfer Vabitz’ Wangen zwei brennend rote Flecke. Sie hatte gewiß, solange als es ihr möglich war, geschwiegen, aber jetzt mußte sie ihrem Zorn Luft machen.

‘Und das will ein Pfarrer und ein Diener Gottes sein!’ brach sie los.

Aber die Jungfer hatte eine sehr scharfe, rauhe Stimme. Sie war klein von Gestalt und hatte ein kleines feines Gesicht und ganz kreideweiße Haare, obgleich sie kaum in den Vierzigern war. Auch sah sie sanft wie eine Taube aus. Aber gerade deshalb erschrak man, wenn sie zu sprechen anfing.

Nachdem die Jungfer mit dieser tiefen Grabesstimme ihr Urteil über den Vater gefällt hatte, brach er in helles Lachen aus; da sprach die Jungfer während des ganzen Essens kein einziges Wort mehr.«

Die Pflegeschwester lachte auch; aber die Pfarrerstochter seufzte nur, ehe sie fortfuhr.

»Ich brauche wohl kaum zu sagen, wie sehr Schneewittchen ihren Vater anflehte, das Necken zu lassen, und wie betrübt sie war, als alles nichts half. Sie lebte in beständiger Angst, die Jungfer werde aus dem Pfarrhaus auf und davon gehen, wie sie von Borg auf und davon gegangen war.«

»Oh, sie wird schon geblieben sein«, sagte die Pflegeschwester.

»Allerdings, sie blieb, und darüber war Schneewittchen unbeschreiblich froh. Überdies machte sich die Jungfer nun auch im Haushalt nützlich. Sie wolle nicht da sein, ohne etwas zu arbeiten, erklärte sie. Hast du je so was gehört?

Ganz natürlicherweise begnügte sich auch so eine wie diese Jungfer nicht damit, die gewohnte einfache Hausmannskost zu kochen, sondern sie richtete nach französischer Art an, wie es in einem Grafenhaus verlangt wurde. Und der Vater, der mehrere Jahre Hauslehrer in vornehmen Familien gewesen war, lebte wieder in seiner Jugendzeit, wo er Fleischfarcen und Pasteten und gewürzte Soßen zu essen bekommen hatte. Soviel war gewiß, während Schneewittchens Abwesenheit würde er sicherlich keine Not leiden. Auch war es der Tochter eine Beruhigung, als sie merkte, daß ihr Vater die Jungfer mit seinen Neckereien nicht so scharf aufs Korn nahm, wenn sie ihm ein besonders gutes Gericht vorgesetzt hatte. Und etwas anderes war noch befriedigender: der Vater und die Jungfer hatten nämlich alle beide besonders große Freude am Gartenbau. Der Vater konnte, solange er wollte, über die Archiater Linné und Hummarby und den Botanischen Garten in Upsala reden, nie wurde es die Jungfer müde, ihn anzuhören.

Der Gartenbau war es auch sicherlich, der den Vater mit dem Dableiben der Jungfer aussöhnte. Sonst wäre es niemals gegangen. Diesem Umstand hatte es Schneewittchen zu verdanken, daß sie ohne Sorge abreisen konnte. Nun hoffte sie fast sicher, Jungfer Vabitz und ihr Herr Vater würden es miteinander aushalten, bis sie wieder zurück kam.

Und doch! Obgleich sie jetzt wirklich beruhigt war, weilten ihre Gedanken während der ganzen Zeit ihrer Abwesenheit doch alle Tage daheim bei dem geliebten Vater, und sie fragte sich oftmals, ob er die arme Vabitz nicht doch ab und zu mit seinen Neckereien plagte.

Als Schneewittchen vierzehn Tage abwesend war, erhielt sie von ihrem Vater einen unbeschreiblich komischen Brief, der von Anfang bis zu Ende davon handelte, wie es ihm und Jungfer Vabitz miteinander ging. Eines Abends seien Leutnant Bergh und Patron Julius zu Besuch gekommen, da hätten sie Karten gespielt und Bellmansche Lieder gesungen. Und siehe! am nächsten Tag habe die Jungfer gar nicht mit ihm sprechen wollen, und die ganze Woche hindurch habe er nur Blutklöße mit Speck oder Meerrettich mit Hering zu Mittag bekommen. Gestern jedoch seien Krustaden und gebratener Lachs aufspaziert, nun sei er also wieder zu Gnaden angenommen.

Schneewittchen mußte hell auflachen; das gute Väterchen war ganz närrisch. Doch beruhigte sie dieser Brief nicht vollständig. Der nächste dagegen klang besser. Da berichtete der Vater, der lange Bengt habe erklärt, er wolle seine alte Liebste, die lustige Maja, heiraten. Und wer habe ihn dazu gebracht? Niemand anders als Jungfer Vabitz; die hätte ihm vorgepredigt, wie unrecht es sei, daß er ein Frauenzimmer vierzehn Jahre lang auf sich warten lasse; und schließlich habe das gewirkt.

Schneewittchen konnte wohl merken, wie vergnügt der Vater war. In diesem Brief schrieb er auch nicht von der ‘Vabitza’, sondern von Jungfer Vabitz. Das war ein sicheres Zeichen, daß der gute Vater jetzt herausgebracht hatte, welch vorzügliches Frauenzimmer sie war. Danach bekam Schneewittchen keinen Brief mehr von ihrem Vater, sondern nur noch kurze Billette, in denen er sagte, er habe sehr viel zu tun und deshalb keine Zeit zum Briefschreiben. Von der Jungfer stand kein Wort mehr darin. Er hatte sich also jetzt wohl an sie gewöhnt und beschäftigte sich in seinen Gedanken mit ihr nicht mehr als mit den andern Dienstboten.

Aber ein Rest von Besorgnis war doch immer noch vorhanden; und ich will gar nicht erst versuchen, dir zu beschreiben, wie froh Schneewittchen war, als sie sich endlich in den Wagen setzen und nach Hause reisen durfte. Sie hatte rechtzeitig geschrieben, wann der Vater sie zu Hause erwarten könnte, und in demselben Briefe hatte sie ihn auch gelobt, daß er es mit der Jungfer Vabitz solange ausgehalten habe. Von nun an werde er sich indes nie wieder mit Fremden behelfen müssen, nun würde ihn seine Tochter nie mehr verlassen.«

»Ach so, das schrieb sie auch?« fragte die Pflegeschwester. »Es muß ihr eine Befriedigung sein, wenn sie jetzt daran denkt.«

»O ja, vieles ist äußerst komisch in dieser Geschichte«, sagte die Pfarrerstochter. »Wenn man bedenkt, wie froh Schneewittchen war, als sie endlich auf der Straße dahinfuhr, so ist das eigentlich auch zum Lachen. Ja, sie war glückselig; alle Menschen, die ihr begegneten, leuchteten bei ihrem Anblick ordentlich auf. So war es wenigstens im Anfang der Reise. Als sie dann ihrem Heimatdorfe näher kam, wo die Leute schon von weitem den Wagen und die darin saß erkannten, meinte sie freilich, es sei fast, als falle allen, denen sie begegnete, plötzlich etwas Trauriges ein, denn ihre Gesichter wurden auf einmal ganz lang und ernst.

Ich muß sagen, Schneewittchen wurde es allmählich ganz unbehaglich zumute. Als sie an das letzte Gasthaus kam, wo sie mit den Wirtsleuten bekannt war, fragte sie nach ihrem Vater. Sie antworteten, er sei gesund und frisch wie bei ihrer Abreise. Schneewittchen hörte aber doch ihrer Stimme an, daß sie aus irgendeinem Grund doch nicht so recht mit der Sprache heraus wollten. Fragen wollte sie indes nicht; es war wohl irgend etwas Unangenehmes passiert, ja am Ende war die Jungfer doch auf und davon gegangen. Jedenfalls aber wollte sich Schneewittchen die Freude an ihrer Heimkehr nicht mit dem Gedanken an die Jungfer Vabitz verderben.«

»Es wäre rasend komisch, wenn es nur nicht so schrecklich betrübend wäre«, warf die Pflegeschwester mit einem kurzen Auflachen ein.

»Am letzten Halteplatz kam ihr der lange Bengt mit den Pferden des Pfarrhauses entgegen. Und da konnte sie sich nicht täuschen, auch er war sonderbar. Sonst mußte man jedes Wort aus ihm herauspressen, jetzt aber schwatzte er in einem fort. Und Schneewittchen merkte wohl, daß er von allem möglichen sprach, aber kein Wort von ihrem Vater und Jungfer Vabitz. Und jetzt wagte sie nicht mehr zu fragen. Wenn irgend etwas schief gegangen war, würde sie es von ihrem Vater selbst hören.«

»Und so wußte sie gar nichts, bis sie daheim ankam?« rief die Pflegeschwester.

»Nein, sie wußte nichts, gar nichts. Und nun will ich dir sagen, was ihr am schwersten dabei war. Ach, das schwerste war, daß ihr guter Vater meinte, er habe unbeschreiblich verständig gehandelt, und erwartete, sie solle sich auch noch darüber freuen.

Und er mußte es ja auch glauben. Denn wer anders als Schneewittchen hatte die Jungfer über die Maßen gelobt und zu ihm gesagt, er müßte sich glücklich preisen, eine so ausgezeichnete Person im Hause zu haben. Ach, sie selbst war es vielleicht gewesen, die ihm den ersten Gedanken eingegeben hatte, die Jungfer – –

Du wirst vielleicht gar nicht verstehen, wie vergnügt der Vater aussah, als er auf der Freitreppe stand, um sie zu bewillkommnen, und wie vergnügt auch Jungfer Vabitz aussah, die da neben ihm stand. Der gute Vater konnte es fast nicht mehr erwarten, die große Neuigkeit mitzuteilen.

Aber ihr Vater brauchte gar nichts zu sagen, denn Schneewittchen sah es selbst. Sie wußte es schon, ehe sie aus dem Wagen gestiegen war. Und nun muß ich erzählen, wie schlimm es ihr ging. Sie wurde so zornig, daß sie sich nicht beherrschen konnte. Noch nie in ihrem Leben war sie so aufgeregt gewesen; sie fuhr zwar nicht auf die beiden los und schlug und kratzte, aber in Wirklichkeit hatte sie die größte Lust dazu.

Ihre Zunge konnte sie indes doch nicht ganz beherrschen, und so sagte sie das Schlimmste, was sie finden konnte. Nie, nie würde sie die Vabitz Mutter nennen, das war das erste; und das zweite war, daß dies eine höchst unpassende Heirat für ihren Vater sei. Die Vabitz sei die Tochter eines armen deutschen Trompeters, das wisse sie wohl, aber Schneewittchens Vater hätte die vornehmste Dame haben können, wenn er nur gewollt hätte. Und schließlich sagte sie auch noch, die beiden fühlten wohl, daß sie unrecht gehandelt hätten, sonst hätten sie nicht so im geheimen geheiratet.

Aber jetzt trat die Großmutter dazwischen. Sie ergriff Schneewittchen bei der Hand und befahl ihr in strengem Ton, mit ihr auf ihr Zimmer zu kommen. Schneewittchen weigerte sich auch nicht, wendete sich aber vorher noch einmal an die Vabitz und sagte, diese habe sich bei ihrem Vater nur durch das gute Essen eingeschmeichelt, und er habe sie nur um dieser feinen Gerichte willen geheiratet.

Dann erst ging sie mit der Großmutter.«

»Das war schade«, sagte die Pflegeschwester. »Man hätte sie ruhig weiter machen lassen sollen.«

»Nein, Großmutter führte sie fort, und sobald Schneewittchen in deren Zimmer angekommen war, brach sie in Tränen aus. Das war wieder etwas Neues. Noch nie hatte sie so bitterlich geweint. Sie weinte stundenlang ununterbrochen fort, und die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, als sei etwas Fremdes, das sie in all den Jahren, die sie bisher gelebt hatte, im tiefsten Herzen verborgen getragen, nun erwacht und habe Gewalt über sie bekommen. Ja, sie fühlte es ganz deutlich: tief in ihrem Herzen wohnte ein alter Drache oder ein unheimliches Raubtier. Ach, ach! Sie fürchtete sich vor diesem Ungeheuer so sehr, daß sie das andere Unglück fast darüber vergaß. Die Erkenntnis, daß etwas so Ungezähmtes und Gefährliches in ihrem Herzen wohnte, jagte ihr einen furchtbaren Schrecken ein; das heißt, eigentlich konnte sie ja nichts dafür, daß es da war; sie durfte es nur nie, nie wieder zum Vorschein kommen lassen.«

»O du grundgütiger Himmel!« rief die Pflegeschwester mit zärtlicher Stimme. »War denn das Schneewittchen noch nie zornig gewesen?«

»Schließlich sank sie in einen tiefen Schlaf,« fuhr die Pfarrerstochter fort, »der ihr Vergessen brachte, und aus dem sie erst am nächsten Morgen erwachte, als die Sonne hinter dem Berg aufging und ihr ins Gesicht schien. Da fiel ihr das ganze Unglück wieder ein, und sie wußte nicht, was sie tun sollte.

Aber sie brauchte sich nicht lange zu besinnen, denn ein paar Minuten später trat das Zimmermädchen herein und richtete von der Frau Pfarrer aus, das Fräulein solle aufstehen und sich an den Webstuhl setzen.

Es war noch nicht einmal ganz vier Uhr, so früh war Schneewittchen sonst nie aufgestanden. Sie hatte freilich früher auch gearbeitet, aber nur nach ihrem eigenen Gutdünken, und wie es ihr selbst beliebte. Schon wollte sie wieder zornig werden; aber dann mußte sie an die Wildheit in ihrem Herzen denken, und sie bekam Angst, diese könnte wieder losbrechen.

Nachdem sie ein paar Stunden am Webstuhl gesessen hatte, verstand sie besser, wie alles gekommen war. Nicht eingeschmeichelt hatte sich Jungfer Vabitz bei ihrem Vater, sondern sie hatte ihm so lange die Wahrheit gesagt, bis ihm die Augen dafür aufgegangen waren, welch eine unschätzbare Stütze sie ihm und seiner Tochter sein würde. Und da ihr guter Vater nun hatte sehen müssen, wie wenig die Tochter sein kluges Vorgehen zu schätzen gewußt hatte, war er gewiß jetzt sehr empört über sie.

Als es sieben Uhr war, wurde Schneewittchen zu ihrem Herrn Vater hineingerufen, um verwarnt und ermahnt zu werden; und etwas anderes hatte sie ja auch nicht erwartet. Der gute Vater war indes schrecklich unbehilflich, als er sie ermahnte, und so wäre Schneewittchen fast aufs neue zornig geworden. Sie ließ es aber nicht soweit kommen, sondern bat die beiden herzlich um Verzeihung und küßte beiden, der Vabitz und dem Vater, die Hand. Ach, sie sah wohl, wie leicht es dem Vater ums Herz wurde, als dieses geordnet war und er wieder Frieden im Hause hatte!«

»Und so etwas kann geschehen, während andere Leute nur ein paar Meilen entfernt sind und nichts davon wissen!« rief die Pflegeschwester mit tränenerstickter Stimme. »Da hätte ich dabei sein sollen!«

»Oh, es war recht gut, daß niemand da war, der Schneewittchen aufstachelte«, versetzte die Pfarrerstochter.

»Sie war recht froh, sich so versöhnlich gezeigt zu haben, denn als sie die beiden beisammen sah, wurde ihr bald klar, wer am meisten zu bedauern war. Nein, nicht sie war am unglücklichsten dran, denn sie war jung, sie konnte sich verheiraten und eine eigene Heimat bekommen; aber bei dem Vater war das ganz anders, er konnte Jungfer Vabitz jetzt nie wieder loswerden, sondern mußte sie bis ans Ende seines Lebens behalten. Das bedeutete so viel, als immerfort in grauem Winter ohne Sommersonnenschein leben zu müssen. Ja, ihr Vater war zu bedauern, nicht sie!

Aber so versöhnlich sie auch sein wollte, so konnte sie doch wieder nicht anders als sich über ihren Vater ärgern, als dieser nach einer Weile ans Küchenkammerfenster kam und sie fragte, ob sie mit ihm spazierengehen wolle. Sie antwortete, es sei ihr unmöglich, weil die Mutter befohlen habe, es müßten vor dem Frühstück so und so viele Ellen Tuch fertig gewoben sein.

Im ersten Augenblick wollte der Vater sagen, sie solle trotzdem nur mitkommen. Aber dann überlegte er sich wohl, daß es nicht anging, schon am ersten Morgen die Befehle der Mutter umzustoßen. Und so ging er vom Fenster weg und ließ Schneewittchen am Webstuhl sitzen. Das aber hatte sie nie und nimmer erwartet! Ach, es war ihr, als müßte ihr das Herz aufhören zu schlagen! Nun hatte sie ihren Vater verloren, das fühlte sie deutlich.«

Hier wurde die Stimme der Pfarrerstochter von Tränen erstickt, und sie verstummte. Auch Anna Brogren sagte nichts mehr, aber sie weinte ganz vernehmlich. Und die Kleine hätte auch geweint, wenn sie nicht so große Angst gehabt hätte, die andern würden es hören.

II

In der nächsten Nacht erging es der Kleinen kein bißchen anders als in der vorigen. Anna Brogren war nicht abgereist, wie es ihre Absicht gewesen war, sondern hatte ihre Heimreise verschoben. Und kaum hatten der Pfarrer und die Pfarrfrau am Abend gute Nacht gesagt, als Anna Brogren auch schon aus dem Gastzimmer in die Küchenkammer heruntergeschlichen kam, um mit ihrer Pflegeschwester zu plaudern.

Diesmal gaben sie sich gar nicht erst Mühe zu warten, bis die Kleine eingeschlafen war. Die Pröpstin sagte sofort, sie sei nur dageblieben, um die Fortsetzung des schönen Märchens vom Schneewittchen zu hören, das Maja Lisa ihr in der vergangenen Nacht erzählt habe. Und zugleich sagte sie auch, Maja Lisa solle nur ohne Verzug anfangen, damit sie heute nacht gewiß fertig würden, denn länger als bis morgen könne sie durchaus nicht dableiben.

Dann erzählte die Pfarrerstochter weiter.

»Wenn ich mich recht erinnere,« sagte sie, »so war Schneewittchen noch nicht länger als acht Tage wieder daheim, als der Küster Moreus und seine Frau Ulla zu Besuch kamen. Ich kann gar nicht sagen, wie vergnügt Schneewittchen war, als sie ankamen. Es stand allerdings jetzt alles wohl und gut zwischen ihr und der Stiefmutter, aber sie mußte immerfort arbeiten. Den ganzen Tag hindurch trat sie den Webstuhl und ließ das Schifflein an einem groben Drillgewebe hin und her fliegen, und wenn sie sich am Abend zu Bett legte, tat ihr der Rücken bitter weh. Da war es gut, wenn jemand zu Besuch kam, weil sie dann einige Stunden von der Arbeit befreit war.

Ach, ach! Schneewittchen dachte im stillen, sie werde sicherlich niemals solche Lust zum Arbeiten bekommen wie die Stiefmutter. Auch würde sie wohl nie so fingerfertig und geschickt werden wie diese. Die Stiefmutter konnte wundervollen Damast weben mit einer Bordüre, auf der die ganze Arche Noah abgebildet war. Schneewittchen merkte wohl, daß die Stiefmutter sie für eine rechte Stümperin hielt; aber sie hoffte trotzdem, die Mutter werde verstehen, wie sehr sie sich Mühe gab, es ihr recht zu machen.

Ulla Moreus kannte die Stiefmutter schon von der Zeit her, wo diese noch Haushälterin auf Borg gewesen war, und die beiden verstanden sich gut miteinander. Außerdem war Ulla mit ihrer Schwiegermutter vor ganz kurzem zur Herbstbäckerei auf Borg gewesen, da hatte sie viel von der gnädigen Frau Gräfin zu berichten! Schneewittchen merkte auch wohl, wie sehr sich die Stiefmutter freute, von allen den tollen Streichen zu hören, die die Gräfin wieder ausgeheckt hatte.

Wenn ich aber die Wahrheit sagen soll, so glaube ich: Wer am vergnügtesten über den Besuch war, war doch ihr Herr Vater. Schneewittchen sah mit Freude, wie er das würdevolle Benehmen, das er seit seiner Verheiratung angenommen hatte, abwarf und wieder ganz wie früher wurde. Und sie sagte sich: ‘Ich weiß nicht, wo sich mein Väterchen in der letzten Zeit aufgehalten hat, denn ich bin nicht mehr mit ihm zusammen gewesen, seit wir miteinander nach dem südlichen Anger gingen, um nach den Mähern zu sehen.’

Ach, Schneewittchen wußte es nur zu gut! Um ihretwillen wagte der Vater nicht mehr zu lachen oder zu scherzen. Sein Gewissen machte ihm Vorwürfe, weil er ihre Erziehung bisher so schlecht geleitet hatte. Siehst du, er dachte, Schneewittchen wäre bei ihrer Rückkehr niemals so auf ihn und die Mutter losgefahren, wenn er sie nicht verwöhnt gehabt hätte; darum sollte sie von jetzt an streng gehalten werden, das hatte er sich fest vorgenommen, und es war ihm so bitter Ernst damit, daß er, wenn sich die Tochter jetzt im Zimmer befand, nie anders als streng und ernsthaft zu sein wagte.

Noch vor wenigen Monaten dachte der Vater nicht anders, als seine Tochter sei gerade so, wie sie sein sollte, jetzt aber taugte sie ganz und gar nichts mehr, und der Vater wurde gewiß nicht wieder wie früher, bis sie ein ganz neues Wesen bekommen hatte.

Als nun Küster Moreus kam, vergaß der Vater seine schwere Last und war ganz wie früher. Da stieg in Schneewittchen unwillkürlich der Gedanke auf, der Vater müsse sie doch recht liebhaben. Denn welchen Zwang legte er sich ihretwegen alle Tage auf! Nein, sie war ihm gar nicht so dankbar, wie sie es eigentlich hätte sein sollen.

Die Stiefmutter wollte das Abendessen selbst kochen, denn sie wollte Ulla Moreus zeigen, daß man früher auf Lövdala nie so gut gespeist hatte wie jetzt. Ulla war die geschickteste Kochfrau im ganzen Kirchspiel, das wußte die Pfarrfrau wohl. Und da Ulla überdies beständig unterwegs war, um bei Hochzeiten und Begräbnissen zu kochen, dachte die Mutter, es lohne sich wohl, aufmerksam gegen Ulla zu sein. Während nun die Pfarrfrau am Herd stand, schlug Ulla vor, sie und Schneewittchen könnten indessen eine Weile zur Großmutter gehen.

Drüben bei der Großmutter machte Ulla ein Paket auf, das sie mitgebracht hatte, um den andern ein Vergnügen zu bereiten. Es sei ein prachtvolles Geschenk, das sie von der gnädigen Frau Gräfin erhalten habe, sagte sie. Ach, nie mußte man so herzlich lachen, als wenn Ulla erzählte, wie wohl angeschrieben sie bei der Gräfin sei, und welche schönen Geschenke sie von ihr erhalte. Einmal hatte sie ihr einen Schoßhund verehrt, der nur mit Sahne ernährt werden durfte. Ja, ja, das könnte man gutherzig nennen, wenn man ein solches Tier einer Küstersfrau schenkte, die gewißlich nicht immer eine Kuh zum Melken hatte!

Ich weiß nicht, ob es Ulla nicht geradezu leid getan hätte, wenn ihr von der Gräfin einmal etwas Nützliches geschenkt worden wäre. Ach, wie übermütig war sie, als sie das neue Geschenk auspackte!

‘Da seht einmal her!’ rief sie. ‘So ausstaffiert werde ich künftig auf die Bauernhöfe kommen, wenn ich zur Hochzeit koche.’

Die Gräfin dachte wohl, sie habe etwas ganz Besonderes getan, als sie Ulla diesen Reitanzug schenkte. Es war der englische, den sie in den letzten Jahren immer getragen hatte, ein langer schwarzer Rock, eine enganliegende, mit Zobel verbrämte Jacke nebst einem kleinen Zylinderhut. Der Anzug war aus ausgezeichnetem Stoff gearbeitet und sicher noch nicht vertragen, aber es war doch ein ganz verrücktes Geschenk. Der Rock war übermäßig lang, Ulla konnte keinen Schritt darin machen, und in der roten Jacke sah sie rasend komisch aus. Doch nun verlangte Ulla, Schneewittchen solle das Kleid jetzt auch anprobieren. Und als sie es angezogen hatte, waren Großmutter und Ulla ganz entzückt.

‘Ach, wie schade,’ rief Ulla, ‘daß nicht du dieses großartige Geschenk bekommen hast! Das Kleid sitzt dir ja wie angegossen, gerade als sei es für dich gemacht.’

Schneewittchen mußte sich vor den Spiegel setzen, Ulla lockerte ihr das Haar ein wenig und drückte ihr den Hut darauf.

‘Seht sie nur an’, sagte sie zur Großmutter. ‘Sieht sie nicht ganz aus wie eine kleine gnädige Gräfin? Habt Ihr sie je so niedlich gesehen?’

Aber nun sagte Ulla, Schneewittchen dürfe das Reitkleid ja nicht wieder ausziehen, bis sie ihr Vater und Moreus darin gesehen hätten.

Und nun muß ich eins sagen: Schneewittchen hätte sich nicht verkleiden sollen; sie wurde jetzt gleich sehr ausgelassen und meinte, sie sei nun jemand ganz anderes. Großmutter und Ulla lachten sich fast krank über sie, als sie vollends anfing, die gnädige Gräfin im Sprechen und im Gehen nachzuahmen.

Ulla sagte noch einmal, sie würde es ihr nie verzeihen, wenn ihr Mann das Fräulein nicht als Gräfin sehen dürfte, und sie bestand darauf, Schneewittchen müsse jetzt gleich ins Wohnhaus mit ihr hinübergehen.

Schneewittchen dachte wohl im stillen: ‘Vielleicht hat Vater jetzt, wo er so ernst geworden ist, keinen Gefallen daran, daß ich mich verkleide. Früher durfte ich es tun, sooft ich Lust dazu hatte, aber jetzt ist alles anders geworden.’

Jedoch sie war mutig, weil Ulla dabei war, und so redete sie sich selbst zu und sagte: ‘Es geht doch wirklich nicht an, daß du dich so ganz unterdrücken läßt. Heute ist ja der Herr Vater wieder ganz wie früher, und er kann doch nichts Unpassendes darin finden, wenn du das Kleid der Gräfin angezogen hast.’

Außerdem hatte Schneewittchen noch einen weiteren Trost. Sie glaubte, der Stiefmutter werde es nicht mißfallen, wenn sie sich auf Kosten der Gräfin ein wenig ergötzten.

Als sie die Treppe hinuntergingen, kam Ulla ein neuer Gedanke. Sie nahm Schneewittchen mit nach dem Stall und überredete da den langen Bengt, den Rappen zu satteln. Der Rappe war ein dickes kleines Pferd, das den großen Reitpferden auf Borg ganz und gar nicht glich; auch sahen die Sättel des Pfarrhauses mit ihren gepolsterten Sitzen und Lehnen denen der Gräfin Märta durchaus nicht ähnlich.

Als der Rappe gesattelt und Schneewittchen aufgestiegen war, lief Ulla voraus. Mit lauter Stimme rief sie zur Saal- und zur Küchentüre hinein, die Gräfin Märta komme durch die Allee dahergeritten.

Ei, ei, ei! Welcher Aufruhr entstand im Pfarrhaus! Die Pfarrfrau riß sich die Küchenschürze so hastig vom Leib, daß der Bund abriß, und eilte auf die Freitreppe hinaus. Der Pfarrer lief mit solcher Geschwindigkeit herbei, daß ihm die Perücke ganz schief auf dem Kopf saß, und stellte sich neben seine Frau. Ulla und der Küster Moreus pflanzten sich hinter dem Pfarrpaar auf, und auf der untersten Stufe stand das Zimmermädchen und knickste.

Nun hatte Schneewittchen allerdings eine Reitgerte in der Hand, und sie gebrauchte sie auch tüchtig; aber deshalb ließ sich der Rappe doch nicht aus seinem gemächlichen Schritt bringen, und Schneewittchen dachte, das sei recht gut, denn dadurch würden ja Vater und Mutter sofort erkennen, wer dahergeritten kam.

Aber war es nicht zu komisch! Die Stiefmutter war wohl von dem roten Leibrock, in dem die Gräfin nun seit mehreren Jahren immer ausgeritten war, ganz geblendet und merkte nichts. Kaum aber hatte Fräulein Schneewittchen mit der Reitgerte gegrüßt und gerufen: ‘Bon jour, monsieur le pasteur!’ wie die Gräfin es zu tun pflegte, als die frühere Jungfer Vabitz auch schon alle Stufen heruntereilte und eine Verbeugung machte, als wollte sie in den Boden sinken.

Ach, wie soll ich alles beschreiben? Die Mutter war etwas kurzsichtig, das wußte Schneewittchen wohl; überdies war es auch Abend und ein wenig dämmerig, aber das konnte sie sich doch unmöglich denken, daß sie nicht erkannt worden sein sollte.

Da dachte sie: ‘Der Stiefmutter gefällt es, daß ich mich über die Gräfin lustig mache’, denn sie wußte ja, wie erbost sie auf ihre frühere Herrin war. Nie, nie, nicht mit einem Gedanken fiel es Schneewittchen ein, daß die Mutter sich vor ihr verneigen könnte. Und sie stand ja da und strahlte mit dem ganzen Gesicht. So glücklich hatte sie noch niemals ausgesehen.

Schneewittchen sprang ohne Hilfe aus dem Sattel, ganz wie die gnädige Gräfin, und warf die Zügel dem langen Bengt zu. Dann wandte sie sich an die Pfarrfrau, reichte ihr die Hand und sagte:

Eh bien, Raclitz, wie geht es Ihr in der neuen Stellung?’

Aber denk’ dir, kaum hatte Schneewittchen das gesagt, als sich die Mutter auch schon niedergebeugt und ihr die Hand geküßt hatte!

Da endlich begriff Schneewittchen! Die Mutter hatte sich täuschen lassen und glaubte, die Gräfin selbst sei gekommen, sie zu besuchen. Durch diese Erkenntnis wurde Schneewittchen so bestürzt, daß sie ausrief: ‘Aber Frau Mutter, ich bin es ja nur!’

Da richtete sich die Mutter blitzschnell auf und schleuderte Schneewittchens Hand weg. Noch einen einzigen Blick warf sie der Stieftochter zu, dann wendete sie sich jäh um, stürmte die Treppe hinauf und eilte in die Küche hinein.

Nun versammelten sich die andern, der Vater, der Küster Moreus und Ulla um Schneewittchen, und alle lachten herzlich über die Verkleidung. Ach, ach! Ein kleines Weilchen noch mußte sie ihre Rolle weiterspielen, weil ihr guter Vater so erfreut aussah. Aber eigentlich war sie wie versteinert; der Blick der Stiefmutter hatte ihr eine furchtbare Angst eingejagt, und sie dachte: ‘Nun habe ich mir die Mutter zum Feind gemacht. Sie macht sich zwar nichts daraus, wenn man sie ein bißchen neckt, wenn sie aber jemand geradezu für Narren hält, wird sie es ihm nie verzeihen.’«

Hier machte die Pfarrerstochter eine Pause, wie um zu hören, was die Pflegeschwester über die Geschichte denke.

»Eigentlich sollte man nur herzlich darüber lachen,« sagte Anna Brogren, »aber ich kann es doch nicht, es wird mir im Gegenteil angst und bang dabei. Erzähle nur rasch weiter, damit ich erfahre, wie schlimm es dir – nein, ich meine, wie es Schneewittchen ergangen ist.«

Und die Pfarrerstochter erzählte weiter:

»Ja, ich muß dir wirklich erzählen, was sich Ende September Sonderbares ereignete. Es ist zwar gar nichts Wichtiges, das wirst du gleich merken; aber ich glaube, es hat Schneewittchen doch den Mut etwas gestärkt. Sooft ihr nämlich dieses Erlebnis wieder in den Sinn kam, sagte sie sich: ‘Es ist doch gut, daß noch jemand auf dem Hofe ist, der keine Angst vor der Stiefmutter hat.’

Denn alle andern, ihr Herr Vater nicht ausgenommen, hatten ja Angst vor ihr, das sah sie nur zu deutlich, und eins mußte sie auch zugeben: Die Stiefmutter war wirklich äußerst besorgt um den Vater und bewachte ihn so sehr, daß er sich kaum noch zu rühren wagte. Aber ach, wie ängstlich hütete sich der gute Vater auch, nein zu sagen, wenn die Stiefmutter etwas wollte.

Ja, das war alle Tage deutlich zu erkennen, aber nie deutlicher als damals, wo er ihr die Erlaubnis zum Branntweinbrennen gab. Jedermann auf dem Hofe sagte, wenn jemand anders als die Stiefmutter ihn darum angegangen hätte, würde er niemals eingewilligt haben, denn er sei von jeher dagegen gewesen. Wenn ihm in früherer Zeit jemand mit diesem Vorschlag gekommen sei, habe er immer ganz verdrießlich gesagt: ‘In einem Pfarrhaus solle man die Feldfrüchte zum Brotbacken und Grützekochen verwenden, aber nicht zu diesem unglückseligen Getränke, das nur allen Menschen zum Verderben erfunden worden ist.’

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