Buch lesen: «Jerusalem», Seite 3

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Sie sah, daß er es in seiner großen Hand barg und es verstohlen betrachtete. Gleich darauf lag es an der Erde. »Was soll aus uns werden, was soll aus uns werden?« dachte Brita und weinte über dem Gesangbuch.

Sie gingen aus der Kirche hinaus, sobald der Pfarrer die Kanzel verlassen hatte. Ingmar spannte in aller Eile an und Brita half ihm. Als der Segen gesprochen und die Schlußverse gesungen waren und die Leute anfingen, aus der Kirche zu strömen, waren sie schon auf dem Heimweg. Beide hatten ungefähr denselben Gedanken: Wer ein solches Verbrechen begangen hat, kann nicht mehr mit anderen Menschen leben. Sie fühlten beide, daß sie in der Kirche auf der Armsünderbank gesessen hatten. »Das können wir beide nicht aushalten,« dachten sie.

Mitten in ihrem Kummer erblickte Brita den Ingmarshof und konnte ihn kaum wiedererkennen, so leuchtend rot, wie er dalag! Es fiel ihr ein, daß es immer geheißen hatte, der Hof solle rot angestrichen werden, wenn Ingmar sich verheiratete. Damals war die Hochzeit verschoben worden, weil er die Ausgabe für den Anstrich scheute. Sie begriff, daß er es alles so recht gut hatte machen wollen, daß es ihm aber dann zu schwer geworden war.

Als sie auf den Ingmarshof hinauffuhren, saßen die Leute am Mittagstisch. »Da kommt der Herr,« sagte einer von den Knechten und sah zum Fenster hinaus. Mutter Märta hob kaum die schläfrigen Augenlider, als sie aufstand. »Jetzt bleibt ihr alle hier drinnen,« sagte sie, »niemand braucht von Tisch aufzustehen.«

Die alte Frau ging schwerfällig durch die Stube. Den Leuten, die ihr nachsahen, fiel es auf, daß sie gleichsam, um noch würdiger auszusehen, ihren besten Staat angelegt hatte, mit einem seidenen Schal um die Schultern und einem seidenen Tuch auf dem Kopf. Sie stand schon an der Haustür, als der Wagen hielt. Ingmar sprang gleich ab, aber Brita blieb sitzen. Er ging nach der Seite hinüber, wo sie saß, und knöpfte das Spritzleder auf. »Willst du aussteigen?« – »Nein, ich will nicht.« Sie war in ein verzweifeltes Weinen ausgebrochen und hielt die Hände vor das Gesicht. »Ich hätte nie zurückkommen sollen,« sagte sie und schluchzte. »Ach, steig' doch jetzt aus,« sagte Ingmar. – »Laß mich in die Stadt zurückfahren, ich bin nicht gut genug für dich.« Ingmar dachte bei sich, daß sie darin recht habe; er sagte aber nichts, sondern stand da, die Hand auf dem Spritzleder und wartete. »Was sagt sie?« fragte Mutter Märta, die in der Tür stand. »Sie sagt, sie sei nicht gut genug für uns,« sagte Ingmar. Brita konnte sich vor lauter Weinen nicht verständlich machen. »Und warum weint sie?« fragte die Alte. – »Weil ich eine arme Sünderin bin,« sagte Brita und preßte die Hände aufs Herz; sie meinte, es müsse ihr vor Schmerz brechen. »Was sagt sie?« fragte die Alte wieder. – »Weil sie eine arme Sünderin sei,« wiederholte Ingmar.

Als Brita hörte, daß er ihre Worte mit kalter, gleichgültiger Stimme wiederholte, ging ihr die Wahrheit plötzlich auf. Nein, er konnte nicht dastehen und ihre Worte der Mutter wiederholen, wenn er sie lieb hatte, wenn er nur die geringste Liebe zu ihr empfand. Darüber war nicht länger nachzugrübeln; jetzt wußte sie, was sie zu wissen brauchte.

»Warum steigt sie nicht aus?« fragte die Alte. Brita bezwang ihr Weinen und antwortete selbst mit lauter Stimme: »Weil ich Ingmar nicht ins Unglück bringen will.« – »Ich finde, sie hat recht,« sagte die Mutter, »laß du sie gehen, kleiner Ingmar. Das will ich dir wenigstens sagen, daß ich sonst fortgehe; ich schlafe nicht eine einzige Nacht unter demselben Dach mit so einer.«

»Laß uns um Gotteswillen machen, daß wir hier fortkommen,« jammerte Brita. Ingmar fluchte, wandte den Wagen um und sprang hinauf. Er hatte das Ganze satt und wollte nicht länger dagegen ankämpfen.

Als sie wieder auf den Weg hinausgelangt waren, begegneten sie jeden Augenblick Leuten, die aus der Kirche kamen.

Das war Ingmar unangenehm, und er bog in einen kleinen Waldweg ein. Der war steinig und hügelig, aber mit einem Einspänner konnte man schon dort fahren.

Gerade, als er in den Weg einbog, rief ihn jemand an. Er sah sich um, es war der Briefträger, der ihm einen Brief übergab. Ingmar nahm ihn, steckte ihn in die Tasche und fuhr in den Wald hinein.

Sobald er so weit hineingekommen war, daß ihn von der Landstraße aus niemand sehen konnte, hielt er an und zog den Brief heraus. Im selben Augenblick legte Brita die Hand auf den Arm. »Lies ihn nicht,« sagte sie. – »Soll ich ihn nicht lesen? – »Nein, es ist nichts, das sich des Lesens verlohnt.« – »Wie kannst du das nur wissen?« – »Der Brief ist von mir.« –

»Dann kannst du mir ja selbst sagen, was darin steht.« – »Nein, das kann ich nicht.«

Er sah sie an, sie wurde dunkelrot und ihre Augen waren ganz verstört vor Angst. »Ich glaube, ich will den Brief nun doch lesen,« sagte Ingmar. Er wollte ihn öffnen, aber sie versuchte, ihn ihm wegzunehmen. Er widersetzte sich, und es gelang ihm, den Umschlag aufzureißen. »Ach, du lieber Gott,« jammerte sie. »Mir soll doch auch nichts erspart bleiben.«

»Ingmar,« flehte sie, »lies ihn in ein paar Tagen, wenn ich gereist bin.« Er hatte ihn schon geöffnet und fing an, ihn zu durchfliegen. »Höre einmal, Ingmar, der Gefängnispfarrer hat mich dazu gekriegt, den Brief zu schreiben, und er versprach mir, ihn aufzubewahren und ihn dir zu schicken, wenn ich glücklich an Bord des Dampfers wäre. Nun hat er ihn zu früh abgeschickt. Du darfst ihn noch nicht lesen. Laß mich nur erst fort sein, Ingmar, ehe du ihn liest.«

Ingmar warf ihr einen zornigen Blick zu, er sprang vom Wagen, um Ruhe zu haben und fing an, den Brief zu lesen. Sie war in heftiger Gemütserregung, ganz wie in alten Zeiten, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. »Es ist nicht wahr, was da in dem Brief steht! Der Pfarrer hat mich überredet, es zu schreiben. Ich liebe dich nicht, Ingmar!« Er sah mit einem großen verwunderten Blick von dem Brief auf. Da schwieg sie, und die Demut, die sie im Gefängnis gelernt hatte, stieg wieder in ihr auf. Die zwang sie zur Ruhe: sie erlitt wohl nicht mehr Schande, als sie verdient hatte.

Ingmar stand da und quälte sich mit dem Brief ab. Plötzlich knitterte er ihn ungeduldig zusammen, und aus seiner Kehle drang ein röchelnder Laut. »Ich kann nicht klug daraus werden,« sagte er und stampfte auf den Boden. »Es dreht sich mir alles rundherum.« Er ging neben Brita her und packte sie hart beim Arm. Seine Stimme klang zornig und rauh, und er war schrecklich anzusehen. »Ist es wahr, was da in dem Brief steht, daß du mich lieb hast?« wiederholte er und sah erbittert aus. – »Ja,« sagte sie tonlos.

Er schüttelte sie beim Arm und schleuderte ihn von sich. »Wie du doch lügen kannst,« sagte er, »wie du doch lügen kannst.« Er lachte laut und roh und sein Gesicht war häßlich verzerrt. – »Gott weiß,« sagte sie feierlich, »daß ich jeden Tag gebetet habe, daß ich dich, ehe ich abreise, noch einmal sehen dürfte.« – »Wo reist du denn hin?« – »Ich soll ja nach Amerika.« – »Den Teufel auch sollst du!«

Ingmar war ganz von Sinn und Verstand; er schwankte einige Schritte in den Wald hinein, dort warf er sich auf den Boden nieder, und nun war die Reihe zu weinen an ihm. Brita ging hinter ihm drein und setzte sich neben ihn. Sie war so froh, sie konnte sich kaum bezwingen, nicht hell aufzulachen! »Ingmar, kleiner Ingmar,« sagte sie und nannte ihn bei seinem Kosenamen! »Du, die du mich so häßlich findest!« – »Ja, das tue ich auch.« Ingmar stieß ihre Hand zurück. – »Ich will dir jetzt alles erzählen.« – »Ja, tue du das!« – »Weißt du noch, was du vor drei Jahren vor dem Gericht gesagt hast?« – »Ja.« – »Daß, falls ich meinen Sinn ändern würde, du dich mit mir verheiraten wolltest?« – »Ja, das weiß ich noch.« – »Von der Zeit an begann ich, dich lieb zu gewinnen; ich hätte nie geglaubt, daß ein Mensch so etwas sagen könne. Es war übermenschlich, daß du das zu mir sagen konntest, Ingmar, nach alledem, was ich dir angetan hatte. Als ich dich damals ansah, fand ich, daß du der einzige warst, mit dem es möglich sei zu leben, und ich fand, daß du mir gehörst und ich dir. Und zu Anfang betrachtete ich es als eine ausgemachte Sache, daß du kommen würdest, um mich zu holen, aber später wagte ich nicht mehr, daran zu glauben.«

Ingmar erhob den Kopf. »Warum schriebst du nicht?« – »Ich schrieb ja.« – »Du batest mich um Verzeihung; das verlohnte sich doch gar nicht zu schreiben.« – »Was sollte ich denn sonst schreiben?« – »Das andere.« – »Wie konnte ich das nur wagen!« – »Nun wäre ich beinahe nicht gekommen.« – »Aber Ingmar, ich konnte dir doch keinen Antrag machen, nach alledem, was ich dir angetan hatte! Am letzten Tag im Gefängnis schrieb ich dir, weil der Pfarrer sagte, ich sollte es tun. Er nahm den Brief und versprach, daß du ihn nach meiner Abreise bekommen solltest. Und nun hat er ihn schon abgeschickt.«

»Ingmar nahm ihre Hand, legte sie auf den Boden und schlug darauf. »Ich hätte Lust, dich selbst zu schlagen,« sagte er. – »Du magst mit mir tun, was du willst, Ingmar.« –- »Ich war nahe daran, daß ich dich hätte reisen lassen.« – »Du hättest es doch nicht lassen können zu kommen.« – »Ich will dir nur sagen, daß ich dich gar nicht lieb habe.« – «Das kann ich sehr wohl verstehen.«

»Ich war so froh, als ich hörte, daß du nach Amerika solltest.« – »Ja, Vater schrieb, daß du dich sehr freutest.« – »Wenn ich Mutter ansah, fand ich, daß ich ihr nicht so eine wie du als Schwiegertochter bringen könne.« – »Nein, das kann auch nicht angehen, Ingmar.« – »Ich habe deinetwegen so viel leiden müssen; niemand wollte mich ansehen, weil ich so schlecht an dir gehandelt hatte.« – »Nun glaube ich, du tust, was du eben sagtest,« sagte Brita, »du schlägst mich.« – »Ja, kein Mensch kann sich denken, wie böse ich auf dich bin.«

Sie saß ganz still da. »Wenn ich bedenke, wie mir nun seit Tagen und Wochen zumute gewesen ist,« begann er von neuem. – »Aber Ingmar.« – »Ja, das ist nicht, daß ich böse bin, aber ich hätte dich ja reisen lassen können.« «– »Hattest du mich nicht lieb, Ingmar?« – Nein!« – »Auch auf der ganzen Reise nicht?« – »Nicht einen Augenblick. Du warst mir nur widerwärtig.« – »Wann kehrte es denn wieder?«– »Als ich den Brief bekam.« – »Ja, ich sah freilich, daß es bei dir vorbei war; darum meinte ich, es sei eine Schande für mich, daß du erfahren solltest, daß es bei mir begonnen hatte.«

Ingmar fing an, ganz leise vor sich hinzulachen. »Was hast du, Ingmar?« – »Ich denke daran, daß wir aus der Kirche geflohen sind und vom Ingmarshofe verjagt wurden.« – »Und darüber lachst du?« – »Sollte ich nicht darüber lachen? Wir müssen wohl auf der Landstraße wohnen wie andere Landstreicher. Das sollte Vater nur sehen.« – »Ja, heute lachst du, aber das geht nicht, und das ist meine Schuld.« – »Es wird schon gehen,« sagte er, »denn jetzt mache ich mir keinen Pfifferling mehr aus dir.«

Brita war dem Weinen nahe; aber er ließ sie nur einmal über das andere erzählen, wie sie an ihn gedacht und sich nach ihm gesehnt hatte. Allmählich wurde er still wie ein Kind, das einem Wiegengesang lauscht. Es war nur alles so ganz anders, als wie Brita es sich gedacht hatte. Sie hatte sich gedacht, daß, wenn er sie abhole, wenn sie aus dem Gefängnis kam, sie gleich von ihrer Schuld sprechen und ihm sagen würde, wie sehr es sie bedrücke und daß so viel Schlechtes in ihr sei. Sie wollte ihm oder der Mutter, oder wer sonst kam, sagen, sie wisse sehr wohl, wie tief sie unter ihnen allen stünde, sie sollten ja nicht glauben, daß sie sich als zu ihnen gehörig rechne. Aber sie kam gar nicht dazu, ihm von alledem irgend etwas zu sagen.

Er unterbrach sie und sagte ganz ruhig: »Du möchtest mir etwas sagen.« – »Ja, das möchte ich gern.«

– »Du denkst fortwährend daran.« – »Tag und Nacht.«

– »Sag' es jetzt, dann können wir es zu zweien tragen.« Er saß da und sah ihr in die Augen, die einen ängstlichen, verstörten Ausdruck hatten. Sie wurden ruhiger, während sie sprach. »Jetzt ist dir leichter zumute,« sagte er, als sie schwieg. – »Es ist, als sei es weg,« sagte sie. – »Das kommt, weil wir es jetzt zu zweien tragen. Jetzt willst du vielleicht nicht mehr reisen?« – »Ach, ich möchte ja gerne bleiben,« sagte sie und faltete die Hände.

»Dann fahren wir nach Hause,« sagte Ingmar und erhob sich. – »Nein, das wage ich nicht,« sagte Brita. – »Mutter ist nicht so schlimm,« sagte Ingmar, »wenn sie nur sieht, daß man weiß, was man selbst will.« – »Ja, aber ich will dich nie und nimmer vom Hof jagen. Ich sehe keinen anderen Ausweg, als daß ich nach Amerika reise.« – »Ich will dir etwas sagen,« sagte Ingmar und lächelte geheimnisvoll. »Du mußt dich nicht fürchten. Da ist einer, der uns hilft.« – »Wer ist das?« – »Das ist Vater. Er fügt es schon so, daß es geht.«

Da kam jemand den Waldweg gegangen. Es war Kajsa; aber sie erkannten sie kaum, denn sie trug nicht die Tracht mit den Körben. »Guten Tag, guten Tag,« sagte sie, und die Alte ging hin und drückte ihnen die Hand. »Ja, ihr sitzt hier, während alle Knechte auf dem Ingmarshofe auf der Suche nach euch sind.«

»Ihr hattet es so eilig, aus der Kirche zu kommen,« fuhr die Alte fort, »so daß ich euch gar nicht guten Tag sagen konnte; aber ich wollte Brita doch begrüßen, und so ging ich denn nach dem Ingmarshof. Zugleich mit mir kam der Propst, und er ging in die gute Stube, ehe ich noch guten Tag gesagt hatte. Er ruft Mutter Märta gleich zu, bevor er noch die Hand gereicht hat: »Ei, Mutter Märta, ei, Mutter Märta, jetzt sollt Ihr Freude an Ingmar erleben; da kann man doch sehen, daß er vom alten Stamm ist; nun müssen wir anfangen, ihn den großen Ingmar zu nennen.« Mutter Märta sagt ja nie viel; jetzt stand sie da und knüpfte ihr Kopftuch auf und zu. »Was sagte der Propst?« sagte sie endlich. »Er hat Brita heimgeholt,« sagte der Probst, »glaubt mir, Mutter Märta, dafür wird er geehrt werden, solange er lebt.« – »Ach nein, ach nein,« sagte die Alte. »Ich war nahe daran, aus dem Text zu geraten, als ich sie in der Kirche sitzen sah, das war eine bessere Predigt, als ich eine halten kann. Ingmar wird uns allen zum Beispiel werden, so wie sein Vater es war.« – »Das sind große Neuigkeiten, mit denen der Herr Propst kommt,« sagte Mutter Märta. – »Ist er noch nicht zu Hause?« – »Nein, er ist noch nicht gekommen. Aber sie sind vielleicht erst nach Bergskog gefahren.«

»Hat Mutter das gesagt?« rief Ingmar aus. – »Ja, das hat sie gesagt, und während wir auf euch warteten, schickte sie einen Boten nach dem anderen nach euch aus.«

Kajsa redete noch weiter, aber Ingmar hörte nichts mehr, was sie sagte, denn seine Gedanken waren weit weg – – –.

»Dann trete ich in die gute Stube,« dachte er, »wo Vater mit all den alten Ingmarssöhnen sitzt.« – »Guten Tag, großer Ingmar Ingmarsson,« sagt Vater und geht mir entgegen. – »Guten Tag, Vater, schönen Dank für die Hilfe.« – »Ja, nun machst du eine gute Heirat,« sagt Vater, »dann wird alles das andere schon von selbst kommen.« – »Ich wäre nie so weit gekommen, wenn Ihr mir nicht beigestanden hättet,« sage ich. – »Das war keine Kunstt,« sagt Vater. »Wir Ingmars brauchen nichts weiter als Gottes Wege zu gehen.«

1. Buch

Beim Schulmeister

In dem Kirchsprengel, wo die alten Ingmarssöhne wohnten, war zu Anfang der achtziger Jahre kein Mensch, der sich hätte denken können, einen neuen Glauben anzunehmen oder einer neuen Art Gottesdienst beizuwohnen. Sie hatten ja wohl davon reden hören, daß hier und da in anderen Kirchsprengeln Sekten entstanden, und daß es Menschen gab, die in Bäche und Seen stiegen und sich mit der neuen Taufe der Baptisten taufen ließen; aber sie lachten über das alles und sagten: »So etwas paßt vielleicht für die, die in Appelbo und in Gagnef wohnen, aber hierher zu uns ins Kirchspiel wird das nie kommen.«

Wie die Leute überhaupt an allen anderen alten Sitten festhielten, so hielten sie auch streng darauf, daß man jeden Sonntag in die Kirche ging. Alle, die kommen konnten, kamen, selbst im Winter bei der allerstrengsten Kälte. Und gerade im Winter war es beinahe notwendig. Man hätte es nicht aushalten können, in der kalten Kirche bei vierzig Grad Frost zu sitzen, wenn sie nicht ganz dicht mit Menschen besetzt gewesen wäre.

Aber man muß nun nicht glauben, daß der Kirchenbesuch so groß war, weil der Pfarrer so ausgezeichnet war. Der Gemeindepfarrer war ein guter Mann, aber niemand konnte von ihm sagen, daß er eine besondere Gabe habe, das Wort Gottes auszulegen. Zu jener Zeit ging man in die Kirche, um Gott zu ehren, und nicht, um sich über eine schöne Predigt zu freuen. Wenn man sich hinterher auf der windigen Landstraße nach Hause kämpfte, dachte man: »Der liebe Gott hat es wohl bemerkt, daß du bei dieser Kälte in der Kirche warst.«

Darauf kam es an; im übrigen konnte aber niemand etwas dafür, wenn der Pfarrer wieder nichts weiter als genau dasselbe gesagt hatte, was man ihn jeden Sonntag sagen hörte, seit er in das Kirchspiel gekommen war.

Aber um die Wahrheit zu sagen, hing das so zusammen, daß die meisten vollkommen mit dem zufrieden waren, was sie zu hören bekamen. Sie wußten, daß das, was der Pfarrer ihnen vorlas, Gottes Wort war, und darum fanden sie es schön. Nur der Schulmeister und einer oder der andere von den alten klugen Bauern sagten wohl gelegentlich einmal zueinander: «Unser Pfarrer hat eigentlich nur eine einzige Predigt. Er redet beinahe von nichts anderem als von Gottes Vorsehung und Gottes Regierung. Das mag angehen, solange die Sekten sich fernhalten. Denn zurzeit ist diese Festung schlecht verwahrt und würde beim ersten Angriff fallen.«

Es verhielt sich auch wirklich so, daß die umherreisenden Predikanten immer an dem Kirchspiel vorbeizogen. »Es nütze nichts, dahin zu kommen,« sagten sie. Die Leute dort unten wollten nichts von der Erweckung wissen. Sowohl die Laienprediger als auch die Erweckten in den Nachbargemeinden hielten die alten Ingmarssöhne und die übrigen Gesindemitglieder für große Sünder, und wenn sie die Kirchenglocken dieses Sprengels hörten, sagten sie, sie läuteten die Melodie: »Schlaft in euren Sünden! Schlaft in euren Sünden!«

Alle in der Gemeinde, Groß wie Klein, waren sehr empört, als sie hörten, daß die Leute so über ihre Glocken sprachen. Sie wußten ja, daß kein Mensch in dem ganzen Kirchsprengel es versäumte, sein Vaterunser zu beten, wenn die Kirchenglocken läuteten. Und jeden Nachmittag, wenn die Vesperglocke ertönte, wurde alle Arbeit draußen wie drinnen unterbrochen; die Männer nahmen die Hüte ab, die Frauen machten einen Knicks, und alle standen so lange still, wie man gebraucht, um ein Vaterunser zu beten. Alle, die in dieser Gemeinde gewohnt haben, müssen auch anerkennen, daß sie nie so stark gefühlt haben, daß Gott das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit ist, als wenn sie an Sommerabenden plötzlich die Sensen ruhen und den Pflug mitten in der Furche anhalten und das Kornfuder auf dem Wege zur Scheune stillstehen sahen, nur um einiger Glockenschläge willen. Es war, als wüßten die Leute, daß der liebe Gott gerade dann auf einer Abendwolke über die Gemeinde hinschwebt, groß und mächtig und gut, und Segen über die ganze Gegend ausstreut.

In diesem Dorf hatte man noch keinen Schulmeister, der auf einem Seminar gewesen war, sondern man hatte einen altmodischen Schulmeister, der nichts weiter war als ein Bauer, der selbst das gelernt hatte, was er konnte. Er war ein tüchtiger Mann, der ganz allein mehr als hundert Kinder unterrichten konnte; er war über dreißig Jahre Schulmeister gewesen und genoß das größte Ansehen. Der Schulmeister war nicht weit davon entfernt zu glauben, daß er das Wohl und Wehe des ganzen Kirchsprengels auf dem Gewissen habe, und nun wurde er unruhig, weil sie einen Pfarrer hatten, der nicht predigen konnte. Er verhielt sich indes ruhig, solange in den anderen Kirchsprengeln nur die Rede von der Einführung einer neuen Taufe war; aber als er hörte, daß die Reihe nun auch an das Abendmahl gekommen sei, und daß die Leute anfingen, sich hier und da in den Häusern zu versammeln, um das Abendmahl zu nehmen, da konnte er nicht länger gleichgültig zusehen. Er selbst war arm, aber es gelang ihm, einige von den größten Bauern zu dem Bau eines Missionshauses zu überreden. »Ihr kennt mich,« sagte er zu ihnen, »ich will nur predigen, um die Leute in dem alten Glauben zu stärken. Denn wohin soll es führen, wenn die Laienpredikanten uns mit der neuen Taufe und dem neuen Abendmahl überfallen und niemand da ist, der den Leuten sagt, was wahre und was falsche Lehre ist?«

Der Schulmeister war beim Pfarrer wie bei allen anderen sehr gut angeschrieben. Er und der Pfarrer gingen oft zwischen dem Pfarrhof und der Schule lange auf und nieder, als könnten sie mit alledem, was sie einander zu sagen hatten, niemals fertig werden. Der Pfarrer kam auch oft des Abends zu dem Schulmeister und saß in der Küche an dem großen Herd und plauderte mit Mutter Stina, des Schulmeisters Frau. Zuweilen kam er Abend für Abend. Bei ihm daheim war es so trübselig, seine Frau lag immer zu Bett, so daß da weder Ordnung noch Gemütlichkeit zu Hause war.

Es war an einem Winterabend. Der Schulmeister und seine Frau saßen sehr still und ernst am Herd, aber in einer Ecke der Stube saß ein kleines zwölfjähriges Mädchen und spielte. Sie hieß Gertrud und war des Schulmeisters Tochter. Sie war ganz blond, fast weißhaarig, mit rosigen, runden Wangen, aber sie sah weder so aufgeweckt noch so altklug aus, wie Schulmeisterkinder auszusehen pflegen.

Die Ecke, in der sie saß, war ihre Spielstube. Da hatte sie eine Menge verschiedener Sachen zusammengestapelt: kleine Scherben von farbigem Glas, zerbrochene Tassen, runde Steine vom Flußufer, kleine, dicke Holzklötze und vielerlei anderen ähnlichen Kram. Jetzt hatte sie schon lange ruhig dasitzen und spielen können; weder Vater noch Mutter hatten sie gestört. Sie war im Begriff, aus ihren Holzklötzen und Glasscherben etwas zu bauen, und war sehr eifrig dabei und fürchtete, nun an ihre Aufgaben und Arbeiten erinnert zu werden. Nein – das war herrlich, es sah gar nicht so aus, als wenn heute abend noch etwas aus der Extrarechenstunde bei Vater werden sollte.

Sie hatte da in ihrer Ecke eine große Arbeit vor. Nichts Geringeres, als ein ganzes Kirchspiel zu bauen. Sie wollte das ganze Dorf aufbauen, sowohl die Kirche als auch die Schule. Der Fluß und die Brücke sollten auch mit dabei sein, sie wollte es ganz so machen wie es war.

Sie hatte schon ein gutes Stück fertig. Die große Bergkette, die rings um den ganzen Kirchsprengel läuft, war aus großen und kleinen Steinen errichtet. In allen Schluchten hatte sie Wald aus kleinen Tannenzweigen gepflanzt, und oben nach Norden zu hatte sie zwei spitze Steine aufgestellt, das war der Klackberg und die Olofsmütze, die sich zu beiden Seiten des Flusses einander gerade gegenüber erhoben und das ganze Tal überragten.

Das runde Tal zwischen den Bergen war mit Erde aus einem der Blumentöpfe der Mutter bedeckt, und so weit war alles in Ordnung; aber sie konnte sie nicht grün und hübsch bekommen, so wie sie sein sollten. Da tröstete sie sich damit, daß man ja denken könne, daß es Frühling sei, ehe Gras und Korn aufgegangen waren. Den Dalelf, der blank und breit durch den Kirchsprengel floß, konnte sie dahingegen mit einer langen, schmalen Glasscherbe ganz deutlich bezeichnen, und die lange Flußbrücke, die die beiden Teile des Dorfes verband, lag schön da und schwamm auf dem Elf.

Die abgelegenen Höfe und Dörfer hatte sie auch schon mit roten Ziegelbrocken angedeutet. Ganz oben nach Norden zu, mitten zwischen Ackern und Wiesen, lag der Ingmarshof, aber das Dorf Kolaß lag ganz im Osten auf dem Bergabhang, und das Bergsaanaer Sägewerk am weitesten nach Süden zu, da, wo der Elf mit Stromschnellen und Gießbächen sich den Weg zum Tale hinausbahnte und die Bergkette durchbrach.

Mit all dem Äußeren war sie eigentlich fertig. Die Landstraßen liefen, gut mit Kies bestreut, an dem Elf entlang und zwischen den Gehöften hindurch. Hier und da auf den Ebenen und um die Häuser herum waren Bäume gepflanzt, und das kleine Mädchen brauchte nur einen Blick auf das alles zu werfen, was sie aus Steinen und Erde und Tannenzweigen gebaut hatte. Gleich sah sie den ganzen Kirchsprengel vor sich. Sie meinte, es sei wunderbar schön.

Einmal über das andere hob die kleine Gertrud den Kopf, um die Mutter zu rufen und ihr das Kunstwerk zu zeigen; aber sie besann sich jedesmal. Es war doch das klügste, die Eltern nicht daran zu erinnern, daß sie da war.

Das, was noch zu tun übrig blieb, war das allerschwerste. Das war der Bau des Kirchdorfes, das sich mitten im Kirchsprengel zu beiden Seiten des Elfes ausbreitete. Sie mußte die Steine und Glasscherben unzählige Male verrücken, ehe sie Ordnung in all den Wirrwarr brachte. Das Haus des Dorfschulzen war im Begriff, das Haus des Kaufmanns zur Seite zu drängen, und das des Hardevogts konnte neben dem Haus des Doktors keinen Platz finden. Und allein schon an all das zu denken, was da war; an die Kirche und das Pfarrhaus, an die Apotheke und das Posthaus, an die großen Bauernhöfe mit den mächtigen Wirtschaftsgebäuden, an den Gasthof, an die Wohnung des Landinspektors, an die Telegraphenstation und die Tabaksfabrik. Endlich lag das ganze Kirchdorf mit seinen weißen und roten Häusern mitten in all dem Grünen da. Jetzt fehlte nur noch eins.

Sie hatte sich so sehr mit all diesem beeilt, um mit dem Bau des Schulhauses zu beginnen, das auch im Kirchdorf stehen sollte.

Denn zu der Schule mußte sie viel Platz haben. Die sollte hoch aufragen, dicht neben dem Elf, ein großes, weißes, zweistöckiges Haus mit einem großen Garten und einer hohen Flaggenstange mitten auf dem Hof.

Sie hatte ihre besten Klötze zu der Schule aufgehoben, und trotzdem saß sie lange da und überlegte, wie sie damit zustande kommen sollte. Am liebsten hätte sie das ganze Gebäude so gebaut, wie es war, mit einem großen Schulzimmer in jedem Stockwerk und mit der Küche und der Stube, in der sie und die Eltern wohnten.

Aber das würde viel Zeit erfordern; »sie lassen mich wohl nicht so lange in Ruhe,« dachte sie.

Da ertönten Schritte auf der Diele. Da war einer, der draußen den Schnee abstampfte. Das kleine Mädchen begann plötzlich wieder eifrig zu bauen. »Nun kommt der Pfarrer und schwatzt mit Vater und Mutter, nun habe ich den ganzen Abend für mich.« Und mit frischem Mut begann sie den Grund zu dem Schulhaus zu legen, das so groß war wie der halbe Kirchsprengel.

Auch die Mutter hatte die Schritte auf der Diele gehört. Sie saß an ihrem Spinnrocken; jetzt erhob sie sich und schob einen alten Lehnstuhl an den Herd. Zugleich wandte sie sich an ihren Mann: »Willst du es ihm nun heute abend sagen?« – »Ja,« antwortete der Schulmeister, »sobald ich Gelegenheit dazu finden kann.«

Der Pfarrer kam jetzt herein, verweht und verfroren und froh, in einer warmen Stube am Ofen sitzen zu können. Er war wie gewöhnlich sehr redselig. Man konnte sich wirklich keinen angenehmeren Mann denken als den Pfarrer, wenn er so kam, um über alles mögliche zu plaudern. Er sprach außerordentlich leicht und frei über alles, was von dieser Welt war: man sollte nicht glauben, daß es derselbe Mann sei, dem das Predigen so schwer wurde. Aber sprach man mit ihm über etwas, das der anderen Welt angehörte, so bekam er einen roten Kopf und suchte nach Worten und sagte nie etwas, das sich des Anhörens verlohnte.

Als nun der Pfarrer dasaß, wandte sich der Schulmeister nach ihm um und sagte erfreut: »Nun muß ich dem Herrn Pfarrer doch erzählen, daß ich ein Missionshaus bauen will.«

Der Pfarrer wurde ganz bleich. Er sank förmlich in den Lehnstuhl zusammen, den Mutter Stina ihm hingestellt hatte. »Was sagen Sie da, Storm?« sagte er. »Soll hier ein Missionshaus gebaut werden? Was soll man denn mit der Kirche und mir? Sollen wir weg?«

»Wir haben trotzdem gute Verwendung für den Herrn Pfarrer und die Kirche,« sagte der Schulmeister mit Überzeugung. »Meiner Meinung nach soll das Missionshaus die Kirche stützen. Es erheben sich ringsumher am Elf so viele Irrlehren, so daß die Kirche der Hilfe bedarf.«

»Ich glaubte, Sie seien mein Freund, Storm,« sagte der Pfarrer mit betrübter Stimme. Eben noch war er sicher und froh hier hereingekommen, nun sank er plötzlich zusammen, so daß es fast aussah, als sei es mit ihm aus.

Der Schulmeister verstand wohl, warum der Pfarrer so verzweifelt war. Er und die anderen wußten, daß der Pfarrer einst einen ausgezeichneten Lernkopf gehabt hatte. Aber er hatte in seinen jungen Jahren zu stark gelebt, bis er schließlich einen Schlaganfall bekommen hatte, und seither war er nie wieder so geworden wie früher. Er vergaß in der Regel selbst, daß er nur eine Ruine von einem Menschen war. Aber jedesmal, wenn er daran erinnert wurde, erfaßte ihn eine düstere Verzweiflung.

Nun saß er fast wie tot in dem Lehnstuhl, und eine lange Zeit wagte niemand etwas zu sagen.

»Der Herr Pfarrer müssen die Sache nicht so auffassen,« sagte der Schulmeister schließlich und suchte seine Stimme so sanft und leise wie nur möglich zu machen.

»Still, Storm,« sagte der Pfarrer, »ich weiß, ich bin ein schlechter Prediger gewesen, aber ich glaubte doch nicht, daß Sie mir das Amt wegnehmen würden.«

Storm machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand: das war wirklich nicht seine Absicht gewesen; aber er wagte nichts zu sagen.

Der Schulmeister war zu jener Zeit ein Mann von sechzig Jahren, aber trotz all der Arbeit, die er auf sich genommen hatte, war er noch in seiner vollen Kraft. Er war das gerade Gegenteil vom Pfarrer. Storm war von gleicher Größe wie der größte Mann in Dalarne; das schwarze Haar lockte sich um die Stirn, die Haut war so dunkel wie Kupfer, und das Gesicht scharf geschnitten. Neben dem Pfarrer, der klein war, mit eingefallener Brust und kahlem Scheitel, sah er aus wie ein Hüne.

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