Sprachwandel - Bedeutungswandel

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3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt?

Wenn Sie einmal alte Familienfotos durchstöbern, dann werden Sie feststellen, dass Ihre Eltern oder Großeltern auf diesen Bildern irgendwie seltsam aussehen. Die Kleidung kommt Ihnen wahrscheinlich altmodisch vor, möglicherweise finden Sie die Frisuren komisch und auch die Möbel, Tapeten oder sonstigen Gegenstände sehen befremdlich aus. In den 1980er-Jahren waren Dauerwellen bei Damen und auch bei manchen Herren sehr in Mode, in den 1970er-Jahren trug man weite Schlaghosen und enge T-Shirts. Man flieste in den 1960er-Jahren Badezimmer gerne grün oder altrosa und Tapeten mit schrillen Mustern waren der letzte Schrei. Heute kleiden wir uns nach einer anderen Mode, über die dann in 20 oder 30 Jahren Ihre Kinder und Enkel schmunzeln werden. Für unsere Kleidung gibt es heute eine andere KonventionKonvention und unsere Konvention, sich zu kleiden, unterscheidet sich von der in Russland, Japan oder etwa derjenigen in Mali.

Wahrnehmbare Veränderungen stellen wir auch bei vielen Alltagsgegenständen fest, besonders bei technischen Geräten wie Handys, Fernsehern oder Computern. Als der Verfasser dieses Buches mit seinem Studium begann, wogen Handys noch so viel wie ein Viertelliter Milch und man konnte mit ihnen nur telefonieren – und das maximal eine Stunde lang, dann war der Akku leer.

Sie sehen an diesen Beispielen: Die Welt um uns herum und auch wir selbst befinden uns in einem steten Wandel.

[bad img format]„Zukunft ist nie eine lineare Fortschreibung von Gegenwart, zugleich ist aber Gegenwärtiges immer als Gewordenes aus etwas Gewesenem zu begreifen und ist somit Resultat einer progressiven oder regressiven Entwicklung, also eines Wandels“ (BECHMANN 2013: 93).

Wandel, das ist grob gesagt die wahrnehmbare Veränderung einer Sache oder eines Zustandes über eine bestimmte Zeit hinweg, so dass Zeitdifferenz, Vergleich und Identität die entscheidenden Elemente des Wandels kennzeichnen. Dabei ist zum Beginn dieses Prozesses die Sache oder der Zustand oftmals ein anderer als zum Ende dieser Entwicklung. Es kommt also über eine zeitliche Differenz zu einer Identitätsveränderung, die durch den Vergleich zweier Zustände retrospektiv erkennbar wird (vgl. LÜDTKE 1980a: 4). Wandel als ein Phänomen, das neben der Sprache alle anderen soziokulturellen Sphären betrifft, lässt sich anhand dreier Parameter beschreiben:

1 Es gibt einen Ausgangszustand A.

2 Es gibt eine zeitliche Dimension Z.

3 Es gibt einen Endzustand E, der sich von A in bestimmten, wahrnehmbaren Punkten unterscheidet.

Für den morphologischen Wandel einer Sache, beispielsweise die Umformung eines Granitblocks durch Behauen und Schleifen zu einer steinernen Pyramide, lässt sich dieser Zusammenhang schematisch folgendermaßen skizzieren:

Abb. 3

Wandel durch Gebrauch

Nun muss ich gestehen: An dieser Skizze sind zwei Dinge falsch bzw. zu vereinfachend dargestellt, auch wenn die Parameter A, E und Z richtig benannt und für jeglichen Wandel derart miteinander verwoben sind. Zumindest ist die Zeichnung dann falsch, wenn sie auf den soziokulturellen Wandel übertragbar sein soll. Denn: Anders als bei einem Granitblock, den ein Steinmetz in eine bestimmte Form bringt, verfolgen Menschen bei kulturellem Wandel in aller Regel keinen Plan. Im Gegenteil: Der Wandel geschieht, ohne dass sie es wollen.

Ein schönes Beispiel für den Wandel einer Sache durch Gebrauch ohne Plan finden Sie in nahezu jeder größeren Kirche. Wenn Sie beispielsweise einmal nach Rom in den Petersdom fahren, können Sie einen solchen ungeplanten morphologischen Wandel erkennen. Dort gibt es eine Bronzefigur des heiligen Petrus, von der man sagt, es wäre segensreich, diese Figur zu berühren. Tausende Menschen täglich küssen und streicheln den rechten Fuß der Statue, wodurch über einen langen Zeitraum von fast 700 Jahren Bronze abgetragen wurde. Der ehemals fein ausgearbeitete Fuß dieser Figur ist heute nur noch eine glatte, runde Fläche, die man nur noch als Fuß interpretiert, weil sie sich an der Stelle der Figur befindet, an der für gewöhnlich ein Fuß zu finden ist. Von der Form her gleicht der Bereich eher einer Türklinke.

Nicht nur in dieser Hinsicht lässt sich die Skizze nicht auf soziokulturellen Wandel übertragen. Sie gilt nämlich nicht für spontane OrdnungenOrdnungspontane.

Für die meisten kulturellen Wandelphänomene, zu denen beispielsweise Kleider- oder Haarmoden und natürlich auch die Sprache gehören, gibt es streng genommen keinen fixen Endzustand E, weil dieser Endzustand E zugleich der Ausgangszustand A2 sein wird, den man zu einem späteren Zeitpunkt, den wir dann Endzustand E2 nennen können, als solchen ansehen wird. Der Endzustand E, E1, E2 usw. ist immer nur eine transitorische ZwischenstufeZwischenstufetransitorische.

[bad img format]Kultureller Wandel hat keinen fixen Anfangs- und Endpunkt, sondern ist ein Kontinuum. Ob man etwas als Wandel interpretiert oder nicht, hängt maßgeblich vom Zeitpunkt der Betrachtung ab.

Wandelphänomene sind somit transitorische PhänomenePhänomenetransitorische, also Zustände, die vorübergehen. Dabei wird der Wandel in seiner Prozesshaftigkeit oft erst dann wahrgenommen, wenn eine auffällige Veränderung stattgefunden hat, nicht (oder nur selten) aber in der Zeitspanne, in der Wandel tatsächlich passiert. So merken wir oft gar nicht, dass sich Trends verändern, weil wir selbst Teil des Veränderungsprozesses sind. Dass sich die Mode zwischen 1960 und heute verändert hat, erkennt man, wenn man eine Hose von 1960 neben eine Hose von 2016 legt und beide Kleidungsstücke miteinander vergleicht. Farbe, Schnitt und Material werden sich stark unterscheiden, so sehr, dass wir sagen können, die Mode habe sich gewandelt. Um das zu erkennen, benötigen wir aber erst einen ausreichenden zeitlichen Abstand.

[bad img format]Wandel zeigt sich in vielen Fällen aufgrund seiner Prozesshaftigkeit erst mit einigem zeitlichen Abstand.

Nun ist Ihnen sicher aufgefallen, dass ich in meinen Ausführungen zum Wandel bislang sehr vereinfache und Sie dürften bemerkt haben, dass meine Festlegungen sprachlich unpräzise sind. Bei kulturellen Phänomenen, zu denen Kleidermoden, Wirtschaftssysteme und auch die Sprachen gehören, ist es nicht angemessen zu sagen, dass sie es sind, die sich wandeln. Wie sollte das auch gehen? Eine Mode kann sich nicht wandeln. Eine Sprache auch nicht. Wenn Menschen in einer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg dieselben Hosen und Jacken produzieren und anziehen, wandelt sich die Kleidermode kein Stück. Bei Sprachen ist das genauso. Wenn wir über einen Zeitraum Z exakt die gleiche Sprache verwenden, dann ist der Endzustand identisch mit dem Anfangszustand – es findet kein Wandel statt.

Für soziokulturelle Phänomene wie Märkte, Moden oder Sprachen gilt also:

[bad img format]Es sind nicht die Entitäten selbst, die sich wandeln, sondern es sind die Menschen, die diesen Wandel durch ihr Tun auslösen.

Das gilt insbesondere für spontane OrdnungenOrdnungspontane, wie wir sie im vorherigen Kapitel kennengelernt haben, denn solche Ordnungen sind ja schon in ihrer Genese an die Einzelhandlungen der Menschen in einer Gemeinschaft gebunden. Daher verwundert es nicht, dass auch die Veränderungen dieser Ordnungen auf menschliche Nutzung zurückzuführen sind.

Halten wir fest: Es sind nicht irgendwelche höheren Mächte, die soziokulturellen Wandel auslösen, sondern die Mitglieder einer Gesellschaft, in der diese Phänomene existieren. Und vermerken wir weiterhin: Wandel ist in diesen Fällen an Handlungen geknüpft, die wiederum als Wahlhandlungen bezeichnet werden können. Denn: Eine Hose mit einem anderen Schnitt anzuziehen und damit – wenn das viele andere Hosenträger auch tun – zum Wandel der Hosenmode beizutragen, ist eine rationale Entscheidung. Und sie ist zielgerichtet: Wir möchten nicht mit einer aus der Mode gekommenen Hose herumlaufen. Weil wir modern aussehen wollen, kaufen wir uns eine moderne Hose. Wir tun das, weil das alle (oder doch zumindest viele) so machen. Dass wir auf diese Weise dazu beitragen, dass die alte Hose aus der Mode kommt, ist gar nicht unser Ziel. Aber genau das passiert. Auch wenn wir als Tourist oder als Pilger im Petersdom die Figur des heiligen Petrus berühren, wollen wir uns so verhalten, wie es die anderen tun – und erhoffen uns, wenn wir gläubig sind, auch noch Seelenheil von unserem Tun. Der Heiligenfigur den Fuß zu verstümmeln, beabsichtigen wir hingegen nicht. Und wenn wir eine neue Redeweise übernehmen, weil alle anderen auch so sprechen, tragen wir zum Sprachwandel bei. Beabsichtigt haben wir es aber nicht. Und doch geschieht auch das.

Warum drückt man sich bei solchen Wandelphänomenen so unpräzise aus, wie ich es eingangs auch getan habe? Warum sagen wir, etwas habe sich gewandelt und nicht, jemand habe etwas gewandelt, obwohl das doch viel treffender wäre? Nun, das liegt daran, dass dieser Jemand nicht bestimmbar ist. Wenn man sagt, dass es schneit, zeigt sich dasselbe Problem – Es ist eine abstrakte Größe, die nicht greifbar ist. Bei soziokulturellem Wandel kann man nicht mit dem Finger auf einen Einzelnen zeigen und sagen „Der war es, der hat die Sprache gewandelt!“. Es ist nämlich jeder Einzelne an diesem Wandel aktiv beteiligt. Und doch trägt er keine ‚Schuld‘ am Wandel, denn er hat ihn sich nicht ausgedacht und planvoll herbeigeführt. Richtig wäre also, zu sagen: „Die vor uns, unsere Eltern und Großeltern, haben die Mode oder die Sprache gewandelt!“. Aber fragen Sie mal Ihre Großeltern, wie sie das getan haben und warum. Sie werden vermutlich nur ein Kopfschütteln oder Schulterzucken zur Antwort bekommen. Merken Sie sich bitte folgenden Grundsatz, der für alle Wandelphänomene in sozialen Systemen gilt:

 

[bad img format]Kein Wandeln ohne Handeln — nur Handeln führt zum Wandeln!

3.1.1 Wie verändern sich Kulturen?

Sozialer Wandel oder Kulturwandel zeigt sich überall dort, wo Menschen in einer Gemeinschaft leben und gemeinschaftlich zu Veränderungen beitragen, von denen sie in aller Regel als Einzelne profitieren. Viele kulturelle Errungenschaften dienen der Gemeinschaft, obwohl sie zunächst geschaffen wurden, um dem Einzelnen zu nützen. Dieses ParadoxonParadoxon lässt sich beispielsweise am technischen FortschrittFortschritttechnischer zeigen. Exemplarisch möchte ich das an der Erfindung des Autos erklären; die nachfolgenden Gedanken lassen sich aber sicher auch auf andere kulturelle Phänomene beziehen.

Nehmen wir einmal an, alle Erfinder seien faule Menschen. Erfinder seien so faul, dass sie den ganzen Tag überlegten, wie sie sich das Leben einfacher machen könnten. Und nehmen wir weiterhin an, Erfinder säßen die meiste Zeit des Tages herum und beobachteten fleißige Mitmenschen. Irgendwann ist einer dieser trägen Erfinder so faul gewesen, dass er nicht einmal mehr laufen wollte. Am liebsten wäre er getragen worden, aber er fand niemanden, der das für ihn getan hätte. Nun wusste dieser faule Erfinder, dass er sich mit einem Pferd und einer Kutsche hätte transportieren lassen können. Aber: Ein Pferd ist sehr langsam und muss regelmäßig gefüttert werden. Das wusste er aus Beobachtungen seiner Mitmenschen, die Pferde und Kutschen besaßen. Was er auch noch wusste: Es gab andere Erfinder, die Maschinen erdacht hatten, die mit Dampf angetrieben wurden. Er kannte das Prinzip von Kolben und Dampf und wusste, dass sich auf diese Weise auch Räder in Bewegung setzen ließen. Also erfand er einen Verbrennungsmotor und baute ihn geschickt in eine Kutsche ein, die jetzt ohne Pferd in der Lage war, den faulen Erfinder zu transportieren – viel schneller und viel bequemer als zuvor. Die Bequemlichkeit für den Erfinder einer Sache bedeutet immer auch eine höhere Bequemlichkeit für die Gesellschaft, wenn das erfundene Ding für jedermann nutzbar wird. Das gilt für elektrische Schraubenzieher, für Waschmaschinen und beispielsweise für USB-Sticks: „Reichtum und hochentwickelte Technologie sind die Folgen der Faulheit der Menschen“ (KELLER 2003: 52).

[bad img format]BERNARD MANDEVILLE (1670—1733)

war ein niederländischer Arzt und Sozialtheoretiker. In seinem Hauptwerk, der Bienenfabel, beschreibt er die Wirtschaft als Kreislaufsystem und stellt die provozierende These auf, dass nicht die Tugend, sondern das Laster die eigentliche Quelle des Gemeinwohls sei. Seine Argumentation folgt dabei folgendem Muster:

1 Kaufleute verfolgen ihre eigenen Interessen.

2 Kaufleute richten ihr Handeln nach dem optimalen Gewinn aus.

3 Der optimale Gewinn führt zu kollektivem Wohlstand in der Gesellschaft.

MANDEVILLE formuliert damit ein ParadoxonParadoxon, das auf dem menschlichen Wesen (1.), individuellen, kulturell bedingten HandlungsmaximenMaximeHandlungs- (2.) und kausalen Folgen von Einzelhandlungen (3.) basiert. Das nach ihm benannte Paradoxon basiert darauf, dass egoistisches Handeln zu positiven Effekten für die Allgemeinheit führt.

Technischer Fortschritt, die Bildung neuer Jugend-Subkulturen, die Rechtschreibreform, neue Gesetze und Verordnungen und auch Veränderungen der Sprache sind Phänomene des Kulturwandels und sie beruhen auf denselben Prinzipien, die ich gerade skizziert habe, wobei man Faulheit treffender mit Eigeninteressen bezeichnen kann.

[bad img format]Kulturwandel basiert auf Eigeninteressen und ist eine (positive oder negative) Folge der kollektiven Verwirklichung solcher Interessen. Das gilt auch für den Sprachwandel.

In der modernen Industriegesellschaft ist ein offensichtlich entscheidender Antrieb für Kulturwandel der technologische Fortschritt. Auch auf die Sprache wirkt sich dieser Fortschritt aus, wenn es beispielsweise darum geht, neue Dinge zu benennen. Dennoch ist der technische FortschrittFortschritttechnischer für Sprachwandel weder hinreichend noch notwendig. Das wesentlichste Handlungsmotiv ist vielmehr das des Verstandenwerdens. Das beschriebene vorrangige Eigeninteresse eines Sprechers in einer Sprachgemeinschaft ist BeeinflussungBeeinflussung und Verständigung, wobei – ähnlich wie beim Erfinder des Autos – Faulheit eine Rolle spielen kann, aber nicht spielen muss:

[bad img format]Sprachwandel entsteht häufig aus sprachökonomischen Gründen, folgt aber in jedem Fall kulturell bedingten HandlungsmaximenMaximeHandlungs- und kulturell zulässigen Handlungsmöglichkeiten.

Kultureller Wandel, der auf HandlungsmaximenMaximeHandlungs- als Begebenheiten innerhalb der Kultur zurückgeht, wird als endogener KulturwandelKulturwandelendogener bezeichnet. Entsteht hingegen ein Wandlungsprozess durch die Begegnungen mit anderen Kulturen, aus denen Teile übernommen und zu einer neuen Form abgeändert werden, spricht man von induziertem Kulturwandel.

Für Veränderungen kultureller und sozialer Entitäten gibt es verschiedene Mechanismen, von denen einige auch auf den Sprachwandel übertragbar sind. Diese Mechanismen basieren auf Einflussfaktoren, die auf den sozialen Wandel einwirken. Im Wesentlichen kann man als Einflussfaktoren auf den Kulturwandel die Prozesse Fortschritt, AdaptionAdaption (Anpassung an Umwelteinflüsse), DiffusionDiffusion und AkkulturationAkkulturation (Übernahme und Anpassung aus/an fremde/n Kulturen) sowie InventionInvention (Erfindung oder Einführung neuer Prinzipien, Werkzeuge oder Bräuche) identifizieren, wobei Fortschritt und Invention als endogene KulturwandelKulturwandelendogenerprozesse den induzierten Formen Adaption, Diffusion und Akkulturation gegenüberstehen (vgl. dtv-Atlas Ethnologie: 87ff.).

Abb. 4

Einflussfaktoren auf den Kulturwandel

Nun ist es so, dass kultureller Wandel unterschiedlich rasch vonstattengeht. Es gibt Prozesse, die schneller ablaufen und oft innerhalb einer Generation abgeschlossen sind und solche, die erst über einen langen Zeitraum zu Effekten führen. Im Prinzip kann man zwischen motiviertem und unmotiviertem Kulturwandel unterscheiden, wobei motivierter Kulturwandel zu schnellen Veränderungen führt, die aber weniger stabil sind als unmotivierte Veränderungen, die auf TradierungTradierung beruhen und damit langsam, aber beständig ablaufen. Dieser Zusammenhang gilt auch und insbesondere für den Sprachwandel:

[bad img format]Geplante Eingriffe in ein Sprachsystem (z.B. durch Orthografieregeln, Wortneuschöpfungen durch Werbung o.Ä.) sind oft nur von kurzer Dauer, wogegen sich langfristige Veränderungen über TradierungenTradierung ergeben. Tradierung führt als Prozess des Kulturwandels zu komplexen strukturellen Veränderungen (Prozess vs. Eingriff).

3.2 Was ist Sprachwandel?

Sprache und Sprachwandel hängen untrennbar miteinander zusammen. Ohne das eine ist das andere nicht denkbar. Weder gibt es Sprache ohne Sprachwandel noch gibt es Sprachwandel ohne Sprache. Das klingt banal und doch ist diese Wechselwirkung eine erste und wichtige Erkenntnis dieser Einführung. Man kann sagen: Das eine folgt unmittelbar aus dem anderen. Aber ist es nun die Sprache, die den Wandel bedingt oder ist es der Wandel, der die Sprache formt? Auf den ersten Blick ist das keine schwere Frage. Ohne etwas, das sich verändern könnte, gäbe es keine Veränderung. Es ist also plausibel anzunehmen, dass es zunächst die Sprache selbst ist, die die Bedingungen für ihren Wandel schafft. Und dennoch ist beides richtig: Einerseits haben Sprachen aufgrund ihres Wesens das Potenzial zur Veränderung. Und andererseits führt Sprachwandel – mit zeitlichem Abstand betrachtet – zu neuen Sprachen bzw. zu neuen Sprachzuständen.

Sprachwandel findet jederzeit und vor allem auf allen Makro- und MikroebenenMikroebene der Sprache und dabei auch ebenenübergreifend statt. Solange Sprachen aktiv gesprochen werden, müssen sie sich den kommunikativen BedürfnissenBedürfnissekommunikative ihrer Sprecher anpassen können. Aus linguistischer Sicht können wir verschiedene Dimensionen auf Wandelphänomene hin analysieren, wobei die Analyse davon abhängt, welche SprachauffassungSprachauffassung wir als „richtig“ anlegen. Dazu hatten wir in Kapitel 1 bereits hinreichende Gedanken formuliert: Je nach Blickrichtung auf den Gegenstandsbereich Sprache lässt sich unterschiedlich erklären, was Sprachwandel ist und wodurch er entsteht.

Um Sprachwandel also adäquat erklären zu können, müssen wir eine sprachhistorische Betrachtung anstellen, die vergleichend Sprachzustände zu unterschiedlichen Zeitpunkten darstellt, und gelangen darüber zu Hypothesen, worin die Unterschiede begründet sein könnten. Die „richtige“ SprachauffassungSprachauffassung hilft uns dabei. Eine systemlinguistische Analyse hilft zudem dabei, Familienähnlichkeiten zwischen Einzelsprachen erfassen zu können, wobei eine solche Betrachtungsweise eher theoretischer als analytischer Natur ist.

Sprachwandel lässt sich nicht nur durch eine Festlegung des Sprachsystems und seiner systemimmanenten Prinzipien fassen. Vielmehr können wir in das System selbst hineinblicken und feststellen, dass auch auf den MikroebenenMikroebene der Sprache selbst Veränderungen beschreib- und erklärbar werden. Die nachfolgende Abbildung zeigt, welche Dimensionen insgesamt beim Sprachwandel miteinander verwoben sind, wobei wir in Kapitel 1 bereits die Dimension des Sprachsystems beleuchtet haben und uns in diesem und den beiden folgenden Kapiteln insbesondere sprachpragmatischen Aspekten des Sprachwandels widmen werden. Eine Betrachtung der Dimension Semantik erfolgt aufgrund der Besonderheiten des Bedeutungswandels im zweiten Teil dieser Einführung.

Abb. 5

Dimensionen des SprachwandelsDimensionendes Sprachwandels

Sprachwandel als ein Sonderfall des soziokulturellen Wandels folgt denselben Prinzipien, wie wir sie im Abschnitt 2.1.1 kennengelernt haben. Die Einflussfaktoren, die für Kulturwandel im Allgemeinen gelten, bestimmen auch den Wandel von Sprachen.

[bad img format]Sprachwandel ist ein prozessuales Phänomen, das seinen Ursprung beim Einzelnen nimmt und durch Verbreitung als Systemwandel mit zeitlichem Abstand beobachtbar und beschreibbar wird.

Dabei gibt es für eine Betrachtung grundsätzlich zwei verschiedene Perspektiven: Wir können zum einen den Sprachzustand zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit bestimmen und diesen Zustand mit den Bedingungen vergleichen, die zu unserer Zeit gegeben sind. Eine solche historische Sprachbetrachtung zeigt Sprachwandel aus einer diachronendiachron Perspektive. Die sogenannte Historische Sprachwissenschaft ist auf eine solche diachrone Betrachtung ausgerichtet, indem sie (synchronesynchron) Sprachzustände vergleicht, um über die Unterschiede zu verschiedenen Zeitpunkten Prinzipien der Veränderung zu bestimmen.

Die zweite Möglichkeit der Sprachbetrachtung ist die synchronesynchron Betrachtung, die einen Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne Einbeziehung der Vergangenheit analysiert. Synchrone Sprachbetrachtung hilft dabei, Sprache als System in der Gesamtheit zu erfassen. Sie liefert aus Sicht der Sprachwandelforscher hilfreiche Befunde darüber, welche Veränderungen innerhalb der Gesamtsprache zu einem bestimmten Zeitpunkt, beispielsweise im Jahr 2016, stattfinden. So kann man einzelne sprachliche Subsysteme oder Varietäten, wie etwa die Jugendsprache oder die Sprache in der Politik, genauer untersuchen und herausfinden, welche Einflüsse solche Subsprachen auf die GemeinspracheGemeinsprache haben. Gegenwärtig ist beispielsweise in der Jugendsprache festzustellen, dass der Elativ häufig durch das gebundene Morphem mega- ausgedrückt wird, wie beispielsweise in megalangweilig oder megaschön. Solche gruppenspezifischen Verwendungsweisen sind deswegen möglich, weil Varietäten über eigene sprachliche KonventionenKonvention verfügen und damit Alternativen zum etablierten Sprachgebrauch bereithalten. Man nennt die Möglichkeit, über kommunikative Alternativen verfügen zu können, das sprachliche RegisterRegistersprachliches, über das Sprecher einer Sprache verfügen.

 

[bad img format]Sprachwandel wird häufig durch konventionalisierten Gebrauch gruppensprachlicher RegisterRegister ausgelöst. Eine Verbreitung synchronersynchron Sprachphänomene kann u.U. zu diachronemdiachron Sprachwandel führen.

Zunächst einmal ist es so, dass abweichender Sprachgebrauch allein noch keinen Sprachwandel bewirkt. Das gilt natürlich insbesondere für den einzelnen Sprecher, der ein Wort oder einen Satz anders verwendet, als es die sprachliche KonventionKonvention vorsieht. Der Einzelne kann die Sprache nicht ändern. Sie können das ja einmal selbst testen: Verwenden Sie doch einmal ein Wort zur Benennung einer Sache, das es gar nicht gibt. Nennen Sie beispielsweise einen Stuhl doch künftig Glumpf. Ich wette, dass es Ihnen nicht gelingen wird, dass Sie die Sprache derart wandeln, dass irgendwann alle Sprecher des Deutschen Glumpf statt Stuhl sagen werden. Dazu benötigen Sie noch viele Mitstreiter, damit Ihnen das – zumindest in einer kleinen Gruppe – gelingen kann. Langfristigen Erfolg werden Sie mit diesem Unterfangen nicht einfahren können – es gibt nämlich gar keinen Grund für die Sprecher in der Sprachgemeinschaft, künftig Glumpf statt Stuhl zu sagen. Ganz im Gegenteil: Es wäre zum einen ein unnötiger kognitiver Aufwand notwendig, um die alte zugunsten der neuen Bezeichnung zu vermeiden. Und es wäre zum anderen mit einem hohen Risiko behaftet, diese sprachliche Neuerung konsequent umzusetzen: Es besteht die Gefahr, ständig nicht verstanden zu werden – und das ist das Letzte, was man sich als Sprecher wünschen wird.

Daran zeigt sich ein wesentliches Kriterium, das erfüllt sein muss, damit Sprachwandel ausgelöst und erfolgreich abgeschlossen wird:

[bad img format]Sprachwandel findet nur dann statt, wenn eine alternative oder neue Sprachverwendung nicht nur für den Einzelnen, sondern für jeden individuellen Sprachbenutzer von Vorteil ist; singuläre Sprachabweichungen führen nicht zum Sprachwandel, sondern sind sprachliche FehlerFehlersprachliche.

Anders sieht es aus, wenn Sie ein Ding erfinden, das Sie Glumpf nennen. In dem Maße, in dem sich das Ding verbreitet, wird auch der Begriff sich ausbreiten. Sie würden auf diese Weise das lexikalische Inventar durch Neubenennung erweitern.

Nach PETER VON POLENZ gibt es vier Faktoren, die einzeln oder im Zusammenspiel den Sprachwandel bestimmen und über eine BeeinflussungBeeinflussung der HandlungsmaximenMaximeHandlungs- der Sprachbenutzer Sprachwandel auslösen können:

Abb. 6

SprachwandelfaktorenSprachwandel-faktoren (nach POLENZ 1991a)

Welcher der genannten Faktoren auch maßgeblich den Sprachwandel auslöst, es ist in jedem Fall ein fortschreitender Prozess, der durchlaufen werden muss. Ohne eine bestimmte Abfolge und ohne Menschen, die an diesem Prozess beteiligt sind, finden InnovationenInnovation, sprachökonomische Bestrebungen, VariationenVariation und auch Evolutionen keinen Fluchtpunkt. Es stellt sich also die Frage: Welche Phasen werden beim Sprachwandel durchlaufen, damit über eine bestimmte Zeitspanne aus einem Ausgangszustand A ein Endzustand E wird, der durch die diachronediachron Brille betrachtet als Sprachwandel bezeichnet werden kann, bei dem sich eine ältere Sprachform von einer neuen Sprachform unterscheiden lässt?