Sprachwandel - Bedeutungswandel

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2.2.3 Ist Sprache ein Werkzeug?

Wir haben bereits erkannt, dass Sprache kein Organismus ist. Dennoch kann man mit gutem Recht behaupten, dass es sich um ein OrganonOrganon, also um ein Werkzeug handelt.1 Der wesentlichste Unterschied zwischen den Auffassungen von Sprache als Organismus und von Sprache als Organon besteht darin, dass die Sprache im letzteren Falle nicht als eigenständige Entität, die es auch unabhängig vom Menschen geben könnte, sondern als ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur angesehen wird. Aber auch durch den Organon-Begriff darf man sich nicht in die Irre führen lassen: Sprachen dienen uns zwar zu bestimmten Zwecken, deshalb sind sie keine unabhängigen Organismen. Sie sind Werkzeuge, aber auch nicht im Sinne eines Hammers oder einer Zange, denn solche Werkzeuge sind vom Menschen mit Absicht erschaffen worden. Für Sprachen gilt das nicht.

[bad img format]Sprache erhält ihren Charakter als Werkzeug über den Gebrauch, nicht durch Planung.

Wie jedes Werkzeug ist auch die Sprache funktional; das bedeutet, dass sie sich zu bestimmten Zwecken nutzen lässt. Der Werkzeugcharakter wird dann deutlich, wenn man hinterfragt, wozu Sprache eigentlich da ist, also welche Funktion Sprache erfüllt.

Wenn Menschen miteinander kommunizieren, dann werden nicht nur Informationen übertragen. Ganz im Gegenteil: Wir wollen mit jeder Botschaft viel mehr ausdrücken als das, was wir sagen. Das konnten wir bei Karlheinz, dem Affenmenschen, bereits erkennen, der seine Laute mit einer bestimmten Absicht hervorgebracht hat, wodurch das SymptomSymptom vom SymbolSymbol erst unterscheidbar gemacht wurde.

Ein naiver Sprachbegriff würde davon ausgehen, dass Sprache dazu da ist, die Welt, so wie sie ist, abzubilden. Kommunikation wäre dann der Austausch von Informationen über die Welt. Wenn das so wäre, dann wäre Kommunikation sehr langweilig und es würde weit weniger miteinander gesprochen, als es in der Realität der Fall ist. Überprüfen Sie das einmal an Ihrem eigenen Sprachhandeln: Warum sprechen Sie mit anderen Menschen? Sie werden feststellen, dass Sie, wenn Sie abends mit Freunden zusammensitzen, nicht konsequent über ein oder zwei Themen sprechen. Vielmehr springen Ihre Gespräche immer hin und her – mit verteilten Gesprächsanteilen. Nach einem solchen Abend nehmen Sie sicher auch einige neue Informationen mit nach Hause. Viel wichtiger aber ist es, dass Sie durch Sprache in einem sozialen GefügeGefügesoziales eingebunden waren. Sie haben sich darstellen können, Sie haben Ihre Meinung positionieren können, Sie haben als Ratgeber fungiert u.v.m. Sie haben durch Ihr Sprachhandeln auf Ihre Umwelt eingewirkt und Ihre Rolle im sozialen Gefüge u.U. gefestigt. Ihr Sprechen hat sicher etwas bewirkt und wenn Sie in diesem Gespräch beispielsweise Ihrem besten Freund versprochen haben, ihm beim Reparieren seines Fahrrades zu helfen, dann haben Sie sogar aktiv durch Sprechen gehandelt: Jemandem ein Versprechen zu geben, ist eine sprachliche und zugleich eine soziale Handlung. Die Lehre von solchen sprachlichen Handlungen nennt man in der Sprachwissenschaft Pragmatik. Die Pragmatik geht, grob gesagt, von folgender Prämisse aus:

[bad img format]Sprachliches Handeln ist immer auch außersprachliches Handeln — und damit ein Werkzeug zur sozialen Interaktion.

Jetzt, da wir wissen, dass Sprache eine Handlungsfunktion besitzt und nicht etwa zur Spiegelung der Welt dient, können wir erkennen, dass Sprachwandel nicht dadurch bestimmt ist, dass sich die Welt verändert.

[bad img format]Nicht der Wandel der Welt führt zu einem Wandel der Sprache, sondern Veränderungen in den HandlungsmaximenMaximeHandlungs- von Sprechern. Diese Handlungsmaximen können durch einen Wandel in der Welt bestimmt sein, dies ist aber weder notwendig noch hinreichend für Sprachwandel.

Auch WILHELM VON HUMBOLDT ist dieser Auffassung, wenn er schreibt, „daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (HUMBOLDT 1820/1963: 19f.).

Der Sprachpsychologe KARL BÜHLER hat ein OrganonOrganon-Modell entwickelt, das anschaulich zeigen kann, welche Funktion Sprache in der menschlichen Kommunikation erfüllt. In erster Linie ist BÜHLERs Modell ein linguistisches Modell für Kommunikation, denn die Sprache steht bei diesem Modell im Zentrum der Betrachtung. Die Idee BÜHLERs war es, das Sprachzeichen und die Sprache an sich in den Zusammenhang mit der konkreten Sprechhandlung zu setzen. Das Besondere daran: BÜHLER betrachtet Sprache als ein Gebilde der Handlung, erkennt also, dass Sprechen immer auch gleichzeitig Handeln bedeutet. Aus diesem Grund nennt er sein Kommunikationsmodell in Anlehnung an Platons Dialog „Kratylos“ das Organon-Modell.2Organon Die Sprache selbst ist für BÜHLER ein Werkzeug, mit dessen Hilfe man einem anderen Menschen etwas über die Dinge der Welt mitteilen kann.3

BÜHLER entwickelt sein Modell anhand des konkreten Schallphänomens, das entsteht, wenn wir sprachliche ZeichenZeichensprachliches hervorbringen. Das OrganonOrganon-Modell geht von einer wechselseitigen Beziehung zwischen Sender und Empfänger aus. Hinzukommt, dass es in diesem Modell eine Verbindung zu den materiellen Gegenständen selbst gibt. Es gibt somit eine RelationRelationen des Schallphänomens zum Sprecher (Sender), eine Relation des Schallphänomens zum Hörer (Empfänger) und eine Relation des Schallphänomens zu den Dingen oder Sachverhalten der Welt. Mit Sprache lassen sich in diesem Modell also Dinge und Sachverhalte darstellen. Und nun kommt der Clou: Das Schallphänomen ist für den Sprecher Ausdruck seines Erlebens und seiner Empfindungen, für die Gegenstände und Sachverhalte in der Welt eine symbolhafte Darstellung und für den Hörer ein Signal oder ein Appell, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten (und wenn es nur das Zuhören ist). Ausdruck, Darstellung und Appell sind somit die drei Funktionen, die sich für BÜHLER in jedem konkreten Sprechereignis zeigen. Das Modell selbst lässt sich wie folgt schematisch darstellen:

Abb. 2

Das OrganonOrganon-Modell (nach BÜHLER)

Die Sprache wird hier als ein Mittel, Werkzeug oder Instrument gesehen, durch das der Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert, durch das er sie beeinflusst oder manipuliert. Diesen Tätigkeitscharakter finden wir schon bei HUMBOLDT, wenn er feststellt:

Sie selbst [die Sprache] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). […] Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (HUMBOLDT 1836/1963: 418)

Halten wir also für den Augenblick zusammenfassend fest:

[bad img format]Sprache ist Mittel der BeeinflussungBeeinflussung anderer Menschen mittels sprachlicher SymboleSymbol.

Sprache ist also geknüpft an strategische HandlungsmaximenMaximeHandlungs-, die wiederum soziokulturell determiniert und damit dynamisch sind.

[bad img format]Sprachwandel ist somit ein Spezialfall soziokulturellen Wandels.

Dass Sprache Handeln ist und dass Handeln wiederum ein sozial bestimmtes Phänomen ist, welches bestimmten HandlungsmaximenMaximeHandlungs- verpflichtet und damit zweckgerichtet ist, wird auch anhand der im vorherigen Abschnitt besprochenen Unterscheidung zwischen SymptomenSymptom und SymbolenSymbol evident: Es ist ein gravierender Unterschied, ob jemand absichtsvoll ein Wort äußert oder ob er durch ein reflektorisches Husten Laute hervorbringt. Das Wort ist ein sprachliches ZeichenZeichensprachliches, das Husten nicht. Dasselbe gilt auch für nonverbale Zeichen: Wenn jemand zum Ausdruck seiner Verärgerung das Gesicht verzieht, dann kommuniziert er auf diese Weise und gibt seinem Gegenüber zu verstehen, dass er wütend ist (und eine bestimmte Reaktion erwartet). Das Verziehen des Gesichts ist ein kommunikatives, sprachliches Zeichen. Ein vor echtem Schmerz verzerrtes Gesicht hingegen ist ein Symptom, aber kein Zeichen. Wenn jemand den Laut eines Gähnens imitiert, ist das ein absichtsvoll hervorgebrachtes sprachliches Zeichen. Echtes Gähnen hingegen ist ein Symptom für Müdigkeit, das durch Sauerstoffmangel ausgelöst wird. Und ein tropfender Wasserhahn ist Symptom einer defekten Dichtung, aber im Gegensatz zu einer Hupe am Auto kein auditives Zeichen. Das Tropfen des Wasserhahns will (sofern es sich um einen Defekt handelt) niemanden zu einer bestimmten Handlung bewegen, das Hupen hingegen schon.

[bad img format]Die wesentliche Eigenschaft kommunikativ genutzter Zeichen besteht darin, dass wir sie in der Absicht nutzen, einem anderen Menschen etwas Bestimmtes zu erkennen zu geben. Sie dienen damit der direkten BeeinflussungBeeinflussung.

Sprache erleichtert uns also das Kommunizieren und für sprachlich kodierte Kommunikation, die mit Absicht hervorgebracht wird, ist Sprache auch zwingend notwendig. Nur durch ein absichtsvoll hervorgebrachtes Augenrollen oder durch Ihre Körpersprache können Sie keine komplexen Sachverhalte ausdrücken. Dafür benötigen Sie Sprache.

Diese Erkenntnisse und das Wissen über Sprache als komplexes Zeichensystem lassen Rückschlüsse auf den Prozess des Sprachwandels zu. Sprachwandel ist nämlich auf eine bestimmte Weise an kommunikative Absichten gekoppelt. Denn: Sprachliche Zeichen sind konventionelle Mittel zur Kommunikation. Und Kommunikation ist absichtsvolles Sprachhandeln. So gesehen ist der Sprachwandel eine Folge veränderten Sprachhandelns, was nicht heißen muss, dass diese Folge ebenfalls absichtsvoll entsteht.

 

[bad img format]Das absichtsvolle Sprachhandeln mithilfe komplexer sprachlicher Zeichen führt unter bestimmten Umständen zu einem unabsichtlichen Sprachwandel. Dabei gilt: Sprachwandel ist immer die Folge von Sprachhandlungen, aber Sprachhandlungen haben nicht immer Sprachwandel zur Folge.

Wir werden in Kapitel 3 noch näher auf diesen Zusammenhang eingehen. Zunächst möchte ich Ihnen zeigen, auf welche Weise ein so geordnetes und funktionales System wie die Sprache überhaupt entsteht und wie es zusammengehalten wird. Welche Akteure sind es, die Sprache zu dem machen, was sie ist?

2.3 Ist Sprache das Ergebnis menschlicher Planung?

Zu diesem Zeitpunkt wissen wir schon sehr viel darüber, was Sprache ist und was sie nicht ist. Wir haben gesehen, wozu wir über Sprache verfügen und haben eine Idee davon, wie wir mit Sprache umgehen – und dass dieser Umgang unter bestimmten Umständen, die wir in den folgenden Kapiteln noch näher ansehen müssen, zu Veränderungen der Sprache führen kann. Zum Abschluss dieses Kapitels über Sprache sollten wir uns nun Gedanken dazu machen, welche Kräfte es sind, die Sprache als System hervorgebracht haben und es stabil halten.

Wir müssen zunächst festlegen, wer oder was eigentlich dafür sorgt, dass das komplexe System Sprache, so wie wir es gerade kennengelernt haben, stabil bleibt. Wer oder was formt die Sprache, so dass sie nicht auseinanderfällt? Und wieso ist dieses System dennoch offen für Veränderungen?

Eine plausible Sichtweise und Begründung dafür ist die Erklärung über das Konzept der spontanen OrdnungOrdnungspontane (vgl. KELLER 2003: 30ff.). Dieses Konzept taugt dazu, die Genese und den Wandel von Sprache zu beschreiben, weil es die Frage beantwortet, wie komplexe kulturelle Phänomene und Strukturen, zu denen auch die Sprache zählt, überhaupt entstehen (in Abgrenzung zu der bereits anhand von Karlheinz beantworteten Frage, wie die Elemente dieses Systems, die sprachlichen ZeichenZeichensprachliches also, in die Welt gekommen sind bzw. sein könnten).

[bad img format]Unter einer spontanen OrdnungOrdnungspontane versteht man das ungeplante Entstehen von Ordnung aus einem chaotischen Grundzustand.

Um das verstehen zu können, muss man zunächst wissen, dass Sprache ebenso ein soziales Phänomen ist wie Recht, Geld, Marktwirtschaft oder Religion. All diese sozialen Phänomene entstehen dadurch, dass durch unsichtbare Prozesse aus menschlichen Handlungen sichtbare Strukturen entstehen. Ich möchte Ihnen das anhand der Marktwirtschaft verdeutlichen: Das Prinzip von Angebot und Nachfrage führt dazu, dass Sie mit Geld, das Sie zur Verfügung haben, Dinge kaufen können, die ein anderer in seinem Besitz hat. Nehmen wir an, Sie benötigen dringend eine warme Hose, weil der Winter vor der Tür steht und Sie nur eine kurze Hose besitzen. Sie gehen dann zu einem Freund, von dem Sie wissen, dass er zwei Hosen besitzt – eine, die er selbst trägt und eine, die er Ihnen verkaufen könnte. Nun ist es so, dass Ihr Freund zwar zwei Hosen hat, dafür aber keine Jacke – und auch kein Geld, um eine Jacke zu kaufen. Eine zweite Jacke bietet aber ein anderer Bekannter gegen Geld an, der wiederum … Sie verstehen das Prinzip? Ihr Freund braucht Geld, um sich eine Jacke kaufen zu können – Geld, das Sie besitzen. Der einfachste Weg wäre nun, dass Sie Ihrem Freund Ihr Geld geben, für das er Ihnen seine zweite Hose überlässt, während er mit dem Geld die Jacke kauft usw. Das ist einfacher Tauschhandel und so etwas wie eine basale marktwirtschaftliche Struktur. Komplexere marktwirtschaftliche Systeme bilden sich, wenn beispielsweise Ihr Freund auf die Idee käme, seine Zweithose zu behalten und stattdessen Hosen als Massenware zu produzieren. So könnte er dann nicht nur Ihnen, sondern auch noch vielen anderen Freunden Hosen verkaufen – und er würde stinkreich.

Nun, was soll Ihnen das Beispiel verdeutlichen? Es zeigt, dass sich dann geordnete Systeme bilden, wenn eine Struktur erzeugt wird (Wert einer Hose in RelationRelationen zum Wert des Geldes), in der Menschen unabhängig voneinander zu deren Entstehung beitragen, weil sie alle mit dem gleichen Zweck oder mit demselben Ziel rationale Entscheidungen treffen. Kaufen und Verkaufen folgen dieser zweckorientierten Ordnung. Die Struktur, die dabei entsteht, bildet sich spontan – also ohne, dass Sie, Ihr Freund und alle anderen, die nach den Prinzipien der Marktwirtschaft handeln, diese Struktur hervorbringen oder aufrechterhalten wollen. Und doch bildet sie sich und ist stabiler, als wenn sich jemand diese Struktur ausgedacht hätte. Die Handlungszwecke erzeugen eine stabile Struktur, zumindest eine relativ stabile Ordnung. Wenn nämlich jemand auf die Idee kommt, mehr Hosen zu produzieren als nötig sind, um den Bedarf an Hosen zu decken, werden Hosen billiger und das System verändert sich – der Wert des Geldes steigt in Relation zum Wert einer Hose.

Die Struktur, die ich Ihnen anhand des Beispiels gezeigt habe, zeichnet sich durch Wahlhandlungen aus:

1 Jeder Beteiligte möchte möglichst warm angezogen sein.

2 Jeder Beteiligte gibt das, was er im Überfluss hat, gegen Bezahlung ab.

3 Jeder Beteiligte ist bereit, für Kleidung angemessen viel zu bezahlen.

Nun funktioniert diese Struktur nur, wenn alle drei Handlungsziele zugleich verfolgt werden. Würde man sein Handeln lediglich und ausschließlich nach Prämisse 1 ausrichten, müsste nicht zwingend so etwas wie Marktwirtschaft entstehen. Es wäre auch möglich, dass ein asoziales System entstünde, in dem Diebstahl zu Kleidung verhilft. Ein solches System wiederum wäre eher instabil, der Zustand wäre chaotisch und eben nicht geordnet.

[bad img format]Für soziale Phänomene wie Märkte oder Sprache gilt: Das „Verständnis der Erzeugungsweise von Strukturen [ist] konstitutiv für das Verständnis der Struktur selbst“ (KELLER 2003: 33).

Inwieweit lässt sich das bisher Gesagte auf Sprache beziehen? Wie alle anderen spontanen OrdnungenOrdnungspontane ist auch die Sprache durch KomplexitätKomplexität und durch weit verzweigtes Wissen gekennzeichnet und ihr Sein ist ebenso von Einzelhandlungen abhängig wie bei anderen spontanen Ordnungen. Dabei ist die Sprache als komplexes System eine unbeabsichtigte Folge sprachlichen Handelns, das aufgrund biologischer Anlagen möglich ist: Das Sprachvermögen ist biologisch determiniert und damit die Voraussetzung für Sprachhandeln. Aber Sprachvermögen allein schafft noch keine komplexe Sprache.

Wenn wir auf die Geschichte von Karlheinz zurückblicken, können wir feststellen, dass die (vermutete) Entstehung von Sprache eng zusammenhängt mit menschlichem Handeln und mit der Verfolgung von Einzelzielen – ebenso wie die Marktwirtschaft eng zusammenhängt mit rationalen HandlungsmaximenMaximeHandlungs-. Man könnte für spontane OrdnungenOrdnungspontane im Allgemeinen und für Sprache im Speziellen sagen:

[bad img format]Spontane Ordnungen (und deren Veränderungen) sind zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, sie sind aber nicht das Ergebnis einer menschlichen Planung.

Behalten Sie diese Überlegungen zu spontanen OrdnungenOrdnungspontane im Gedächtnis. In Kapitel 3 werden wir uns noch einmal näher damit beschäftigen und die Frage stellen, auf welche Weise Sprache als spontane Ordnung entstehen kann und welchen Stellenwert menschliche Sprachhandlungen dabei einnehmen. Wir werden sehen, dass eben diese Sprachkonzeption der Schlüssel zur Erklärung des Sprachwandels sein kann.

Zunächst gilt es aber, den zweiten der beiden Grundbegriffe genauer zu beleuchten: den Begriff des Wandels.

2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur

[bad img format]Wenn Sie sich intensiver mit der organizistischen SprachauffassungSprachauffassungorganizistische beschäftigen wollen, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre von SCHLEICHER 1863 oder die Prinzipien der Sprachgeschichte von HERMANN PAUL von 1920. Beide Werke sind etwas in die Jahre gekommen, dennoch lesenswert und auch für Studienanfänger verständlich. Die Sprachgeschichte von PAUL ist online über das Projekt Gutenberg kostenfrei zugänglich.

Zur Vertiefung der Zeichentheorie nach SAUSSURE sollte die Lektüre seines Hauptwerks Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft selbstverständlich sein. Sie werden im Studium immer wieder damit in Berührung kommen.

Das Märchen von Karlheinz, dem Affenmenschen lässt sich nachlesen bei KELLER 2003: 37ff. Es wurde hier nur sehr verkürzt dargestellt. Bei KELLER findet sich eine sehr viel detailliertere Herleitung, die sowohl geistreich als auch unterhaltsam geschrieben ist.

Sprechen als menschliches Handeln (Sprache als Werkzeug und Tätigkeit) wurde in diesem Kapitel über das Organonmodell KARL BÜHLERs beschrieben. Hier lohnt ein Blick in die Originalschrift Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934).

Um sich weiter mit dem Konzept von Zeichen im Alltag zu beschäftigen, empfiehlt sich die Lektüre von KELLER 1995a: 9ff.

Bei KELLER 2003 können Sie sehr ausführlich nachlesen, was spontane OrdnungenOrdnungspontane sind. Die Herleitungen sind allerdings für Studienanfänger sehr komplex.

3 Was ist Wandel?

Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss.

HERAKLIT VON EPHESOS (etwa 520–460 v. Chr.)

[bad img format]Ziele und Warm-up

Sprache ist ein taugliches Mittel zur Verständigung und wir nutzen sie täglich, um unsere kommunikativen Ziele zu erreichen. Damit Sprache auf diese Weise unseren Zwecken dienen kann, muss sie offen für Anpassungen sein. Denn: Unsere Ziele, die wir beim Sprechen verfolgen, ändern sich bisweilen. Dieser Umstand ist kulturell bedingt. Die Welt, in der wir heute leben, ist nicht mehr dieselbe Welt, die sie vor 100 Jahren einmal war. Technische Neuerungen machen Neubenennungen ebenso nötig wie beispielsweise veränderte Höflichkeitsformen oder kulturell bedingte Kommunikationssitten.

Das System Sprache, das aus komplexen Zeichen und Zeichenkombinationen besteht, muss diesen Anforderungen genügen. Als spontane OrdnungOrdnungspontane ist sie ein in sich stabiles Gebilde, sonst könnten wir uns nicht verständigen. Stabil bedeutet aber nicht starr. Im Gegenteil: Sprachen sind wahre Verwandlungskünstler. Über ihren Charakter als Werkzeuge und über ihre Beschaffenheit als spontane Ordnungen sind Sprachen dynamisch; sie wandeln sich mit ihren Sprechern.

In diesem Kapitel geht es also um Wandel. Dabei wollen wir zunächst Überlegungen zum Wandel im Allgemeinen anstellen und in einem nächsten Schritt diskutieren, was Sprachwandel ist und warum Sprachwandel im Speziellen stattfindet. In Kapitel 4 werden wir dann Theorien zum Wie des Sprachwandels, also zu möglichen Prinzipien besprechen.

Als Einstieg in diese Einheit sollen uns einige intuitiv zu beantwortende Fragen und Aufgaben dienen:

 Denken Sie einmal fünf oder zehn Jahre zurück: Was in Ihrem Leben hat sich in dieser Zeit alles verändert?

 Spielen Sie das Spiel „Tabu“: Versuchen Sie innerhalb von 15 Sekunden einem Freund in wenigen Sätzen zu erklären, was wir im Deutschen mit dem Begriff Wandel meinen! Vermeiden Sie dabei die Begriffe Zeit, früher, heute, anders, Veränderung und Zustand!

 Nennen Sie fünf Beispiele aus dem Alltag für Phänomene, die sich gerade wandeln oder gewandelt haben!

 Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Versuchen Sie einmal, das Phänomen Wandel mithilfe einer Skizze (Zeichnung etc.) darzustellen.

 Haben Sie schon einmal mit jemandem über Sprachwandel diskutiert? Worum ging es dabei und was war Ihre Position?

 Was unterscheidet Ihrer Meinung nach den Klimawandel vom Sprachwandel?

 Haben Sie ein aktuelles Beispiel für den Wandel in der Sprache?