Die Magie von Pax

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Die Magie von Pax
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Sarah Nicola Heidner

Die Magie von Pax

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Woman in white © Sergey Nivens - Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Für meine Eltern – danke!

Der ungerechteste Frieden

ist immer noch besser

als der gerechteste Krieg

Marcus Tullius Cicero

Kapitel 1

»Der letzte Schultag. Irre, dass es jetzt soweit ist«, sagte Bea und schüttelte fassungslos den Kopf. Gedankenverloren spießte ich ein Salatblatt auf meine Gabel und schob es mir in den Mund. »Hm«, machte ich. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern, wie auch meiner besten Freundin Bea, hatte ich diesem Tag immer mit Schrecken entgegen gesehen. Ich weiß nicht, ob Bea es einfach nicht mehr wahrnahm, oder ob sie sich damit abgefunden hatte, dass ich eine Außenseiterin, ein Freak, war. Ich war ihr unendlich dankbar, dass sie meine Freundin war. Es war zwar nicht so, als würden mich alle in der Schule hassen, aber hinter meinem Rücken verspotteten sie mich dann doch.

Noch sehr gut konnte ich mich an die siebte Klasse erinnern. Ich saß gerade auf der Toilette, als ich meine (damalige!) Freundin Isabell mit ein paar anderen Mädchen hereinkommen hörte. »Warum gibst du dich eigentlich mit Sofia ab?«, fragte eines der Mädchen. »Nun ja, sie ist ein Freak«, sagte Isabell mit ihrer arroganten Stimme (ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit ihr befreundet gewesen war). »Aber sie kann auch ganz lustig sein. Wie dem auch sei, in der zehnten Klasse werde ich sie sowieso fallen lassen. Im Moment ist sie mir noch ganz nützlich, denn sie ist wirklich klug und man kann hervorragend von ihr „lernen“. Seid ihr jetzt fertig mit Schminken? Ich muss von unserem Freak noch Geschichte abschreiben.«

Na ja, auf jeden Fall war seitdem nur noch Bea meine Freundin, und alle anderen mieden mich. Ich war ja schon froh, dass ich die zehnte Klasse überstanden hatte. Aber als ich an den heutigen Abend dachte, fing mein Magen an, verrückt zu spielen. »Ist irgendetwas, Sofia?«, fragte Bea. Ich schüttelte den Kopf, dann beschloss ich aber, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Ihr alle freut euch so auf die Mentoren, die euch in eurer Magie unterrichten und diese fördern«, sagte ich leise und schaute mich in der Mensa um. An allen Tischen saßen die Oberstufenschüler mit einem breiten Grinsen im Gesicht, freuten sich auf den heutigen Abend – die jüngeren Schüler hingegen schauten die älteren neidisch an.

Bea nickte mitfühlend, sagte aber nichts. Was sollte man darauf auch erwidern? Jeder in unserer Stadt Pax hatte Magie, und sei es auch nur die Fähigkeit, Gegenstände zu bewegen, wie die Rotkutten sie hatten, zu denen alle Schüler hier im Schülerhaus zählten. Die Rotkutten beherrschten zwar nur die rangniedrigste Magie, aber dennoch wünschte ich mir jeden Tag (und eigentlich auch jede Nacht), eine von ihnen zu sein. Als meine Schulwahl angestanden hatte, wurde ich einfach auf eine Rotkuttenschule gesteckt. Wahrscheinlich, weil ich denen am ähnlichsten war. Aber alle Schüler hier hatten nun mal Magie, einige konnten vielleicht auch Gebäude verschieben, andere nur Bücher oder Stifte. Aber sie alle waren der Telekinese mächtig. Sie alle konnten etwas, im Gegensatz zu mir. Sie alle hatten Magie – und ich nicht.

»Sofia, du bekommst heute doch auch einen Mentor«, sagte Bea tröstend und biss herzhaft von ihrer Pizza ab. »Ja, und derjenige wird sich auch sehr freuen, jemanden ohne Magie unterrichten zu dürfen«, sagte ich sarkastisch. »Mentoren sind dazu da, die Magie der jeweiligen Schüler auszubilden, damit diese später einen zu ihnen passenden Beruf erlernen können. Aber was soll der Mentor denn schon mit mir machen?«

Ich sollte mich beruhigen. Dadurch, dass ich mal wieder wütend auf mich selbst wurde, bekam ich auch keine Magie. Bea seufzte nur und schaute mich dann aus ihren großen, blauen Augen lieb an. (Das war der Grund, weshalb ich ihr niemals einen Wunsch abschlagen konnte.)

»Wir ziehen uns jetzt gleich um, und dann werden wir unsere Eltern abholen, okay?« Schon wieder ein Grund, weshalb ich mich eigentlich in meinem Bett verkriechen und den Abend verschlafen sollte – das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir war sehr … gespannt (eine nette Umschreibung dafür, dass es ihnen scheiß egal war, was ich machte).

Bea und ich brachten unsere Tabletts weg und liefen dann die breite Wendeltreppe nach oben zu den Schlafräumen. Die Flure waren schmal und grau, an den Wänden blätterte die Farbe ab und die Nummern auf den Türschildern waren schon lange nicht mehr zu erkennen. Das lag daran, dass die Blaukutten, die mächtigsten aller Magier (sie konnten die Elemente beherrschen!), das meiste Geld verdienten und natürlich für sich ausgaben (Idioten).

Beas und mein Zimmer war sehr klein und einfach eingerichtet. Es gab zwei Holzbetten, einen großen Schreibtisch, den wir uns teilen mussten – der deshalb auch ziemlich chaotisch aussah – und einen alten Schrank, dessen linke Tür vor Jahren einmal herausgefallen war, sodass jetzt jeder, der unser Zimmer betrat, als erstes unsere Schlafanzüge sehen konnte (nicht, dass uns – besonders mich – sehr viele besuchen würden).

Bea hatte darauf bestanden, dass ich auch ein Kleid anziehen musste. Sie sah aus wie ein Engel, in ihrem roten Kleid, das perfekt zu ihren Augen passte. Ihre blonden, lockigen Haare fielen ihr sanft auf die Schulter. Ich lächelte sie an. Mein Kleid war ebenfalls rot, weil die Rotkutten nicht nur im Beruf oder in der Schule rot trugen, sondern sich auch meistens im Alltag auf diese Farbe beschränkten. Ich hatte das Kleid selbst ausgesucht, weil ich nicht auffallen wollte – und nicht, weil ich mich wirklich den Rotkutten zugehörig fühlte. Tatsächlich sah ich sehr unauffällig aus, als Bea und ich uns im Spiegel in unserem kleinen Badezimmer betrachteten. Das Kleid passte zu meinem dicken, schwarzen Haar, und meine dunklen Augen funkelten gefährlich (okay, ich wusste, warum mich alle für einen Freak hielten. Nicht nur, dass ich keine Magie hatte, ich sah auch noch aus wie ein Freak). Hoffentlich würden die Schüler heute mit ihren Eltern lieber über die Mentoren, die sie bekommen würden, reden, und nicht über den magielosen Freak an ihrer Schule.

»Bereit?«, fragte Bea und öffnete die Tür. Auf dem Flur standen rotgekleidete Schüler in Gruppen zusammen, hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich aufgeregt über den bevorstehenden Abend. Während sie jedoch von Freude erfüllt zu sein schienen, krampfte sich mein Magen bei dem Gedanken an die Mentoren und meine Eltern zusammen.

 

»Nein, kein bisschen«, ich schüttelte den Kopf und folgte Bea nach draußen.

Bea und ich mischten uns unter die Schülermenge, die in Richtung Eingangshalle strömte. In der riesigen Halle angekommen, löste sich die Menge auf und die Schüler liefen kreischend auf ihre Eltern zu, die sie seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Überall lagen sich Familien in den Armen und der Lärmpegel stieg von Minute zu Minute an, weil immer mehr Schüler ihren Eltern hysterisch schreiend um den Hals fielen. Mein Magen zog sich zusammen und ich klammerte mich an Beas Arme.

»Ich geh dann mal«, sagte sie leise zu mir und begrüßte ihre Eltern, die mich mit einem abschätzigen Blick bedachten. Natürlich wollte niemand, dass ihre Tochter mit mir befreundet war. In diesem Moment sah ich meine Eltern, eine kleine Frau mit rötlichen Haaren und den dicken Mann neben ihr. Zögerlich machte ich ein paar Schritte auf sie zu und der Mund meiner Mutter verzog sich sofort.

»Hallo Sofia«, sagte sie kühl, mein Vater schwieg.

»Äh … Hi«, sagte ich vorsichtig.

»Wir haben gehört«, meine Mutter senkte die Stimme, »dass du trotz deiner fehlenden Magie einen Mentor bekommst. Ist das wahr?« Ich nickte mit trockenem Mund. Wie ich die Gespräche mit meinen Eltern hasste! Sie arbeiteten beide als Zaubertrankmischer, kein besonders angesehener, aber auch kein schlechter Beruf. Rotkutten hatten allgemein nicht viele Aufstiegsmöglichkeiten.

»Nun denn, hoffen wir, dass er dir ein bisschen helfen kann. Hast du dich übrigens schon einmal umgesehen wegen deines Berufes? Ich schätze mal, du wirst in einer Familie das Hausmädchen spielen können. Ich habe gehört, dass Familie Meier jemandem zum Putzen sucht, sie ist ja eine der angesehensten Rotkuttenfamilien. Es wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für dich, an ein bisschen Geld zu kommen. Was meinst du dazu, Sofia?«

Ich wollte das alles gar nicht hören, wollte meine Zukunft nicht im Blick haben. Vor allem wollte ich nicht, dass meine Eltern mir vorschrieben, was ich zu tun hatte.

»Ich habe noch zwei Jahre mit meinem Mentor«, sagte ich deswegen bestimmt. »Und außerdem bin ich sechzehn und sehr wohl in der Lage, mich alleine zu informieren.«

Wir schwiegen; es war ein unangenehmes Schweigen, das mich unruhig machte und den Blick senken ließ. Ich seufzte erleichtert auf, als der Direktor die Halle betrat und sofort auch alle anderen Gespräche verstummten. Yu Weiß war ein großer, schlaksiger Mann mit kurzen, braunen Haaren. Man munkelte, er sei eine Blaukutte, aber niemand wusste das genau. Ich glaubte, dass er mindestens eine Schwarzkutte wäre, die sehr viel mehr Macht als die Rotkutten hatten, aber noch nicht so viel wie die Blaukutten. Schwarzkutten gab es häufiger, sie machten etwa achtzehn Prozent der Bevölkerung aus, Blaukutten nur zwei. Der Rest waren Rotkutten. Allerdings waren Schwarzkutten böse und der Schulleiter schien mir sehr freundlich zu sein, also traf das vermutlich nicht zu.

»Die Mentoren sind nun bereit. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der Strom aus Eltern und Schülern führte uns aus der Halle hinaus durch die Mensa in unseren Saal, in dem alle Feiern abgehalten wurden. Die Bänke waren längs auf dem zerkratzen Boden verteilt aufgestellt; vorne auf der Bühne standen etwa dreißig Mentoren vor den geflickten, zugezogenen Vorhängen.

Meine Eltern und ich setzten uns in eine der letzten Reihen und warteten schweigend, bis Yu Weiß die Bühne betrat.

»Liebe Eltern, liebe Schüler«, begann er mit seiner sanften Stimme. »Schon wieder ist ein Jahr vorbeigezogenen und nun haben genau zweiunddreißig Schüler den zehnten Jahrgang hinter sich gelassen. Morgen schon wird der Unterricht der Mentoren beginnen. Ihre Kinder begeben sich nun auf den Weg der Entfaltung ihrer Kräfte. Das hat viel mir ihrer Magie, aber auch mit der geistigen Stärke jedes einzelnen zu tun. Was die Mentoren von den Schülern halten, ist sehr wichtig, auch für den späteren Beruf. Aus diesem Grund sind es sehr kluge Rotkutten, die sich unserer Schüler annehmen werden. Ich selbst habe die Mentoren dieses Jahr ausgewählt und auch ich bin dieses Jahr Mentor.«

Sofort tuschelten die Schüler in den Reihen vor mir. Jeder wollte Yu Weiß als Mentor haben, aber wahrscheinlich würde er die mächtigste Rotkutte meines Jahrgangs nehmen: Isabell.

Ich senkte den Blick und schlug unruhig meine Beine übereinander.

»Ich will euch, liebe Schüler, aber auch nicht zu sehr langweilen. Wenn ich eure Namen vorlese, begebt ihr euch bitte mit euren Eltern nach vorne auf die Bühne … Isabell Scheft!«

Ich hob wieder den Kopf und sah, wie Isabell mit erhobenem Kinn nach vorne lief, flankiert von ihren Eltern, und sich neben Yu Weiß stellte. Der erste Mentor in der Reihe trat vor, ein kleiner, stämmiger Mann mit einem etwas merkwürdigen Gesicht (es sah ehrlich gesagt aus, als wäre er gegen eine Wand gelaufen) und Isabell verbeugte sich vor ihm. Die Abfolge hatten wir vor ein paar Wochen mit unserer ehemaligen Klassenlehrerin geübt. Der Mann nahm etwas Wasser aus einer Schale, die Yu Weiß ihm reichte, und ließ drei Tropfen auf ihren Kopf herunterfallen.

»Im Name der Rotkutten«, sagte er und träufelte noch etwas Wasser auf ihren Kopf, »der Schwarzkutten«, drei Tropfen rieselten auf ihren Kopf, »und der Blaukutten. Isabell Scheft, wirst du mir gehorchen, um deine Magie zu entfalten? Wirst du mir Glauben schenken, was auch immer ich dir erzähle, und meiner Meinung vertrauen?«

Isabell nickte. »Ja, ich werde.« Die Menge klatschte, und Isabell und ihre Eltern setzten sich wieder, auf ihren Gesichtern prangte ein breites Grinsen.

Ich wusste, warum Isabell als erste nach vorne hatte gehen dürfen; sie hatte am meisten Magie, und bekam aus diesem Grund auch den ersten Mentor. Am Ende der Klasse zehn hatten wir eine Art Abschlusszeugnis erhalten, auf dem der Grad unserer Magie stand. Auf meinem Stand 0 (nachvollziehbar), Isabell hingegen hatte 17 Magiepunkte erhalten, Bea 9. 17 Magiepunkte waren für Rotkutten schon ziemlich viele, natürlich nichts gegen Blaukutten. (Ich hatte gehört, dass ihre Magie bis zu 86 Punkte erreichte!)

Es folgten ein paar Kutten aus meiner Parallelklasse, dann zwei Jungen aus meiner Klasse und Bea. Ich lächelte sie an, als sie nach vorne ging, so anmutig wie sie lief, konnte man es fast fliegen nennen. Ihr Mentor war eine große Frau, die verkniffen schaute und ihr so viel Wasser aufs Haar schüttete, dass es ihr in die Augen lief. Aber Bea grinste tapfer und zwinkerte mir zu, was ihre Eltern mit einem leichten, ungläubig Kopfschütteln quittierten. Je mehr Schüler aufgerufen worden, desto unruhiger wurden meine Eltern. Ich fragte mich wirklich, wieso. Ihnen war doch klar, dass ich die wenigste Magie von allen hatte (nämlich gar keine) und deshalb als Letzte aufgerufen werden würde.

Die Mentoren, die schon Schülern zugeteilt worden waren, verschwanden hinter dem Vorhang, sodass ich immer genau wusste, wie viele Mentoren noch übrig waren. Bald darauf stand nur noch Yu Weiß auf der Bühne. Das konnte nicht wahr sein! »Wir haben dieses Jahr ein besonderes Mädchen bei uns«, sagte der Direktor und ich schaute auf meine Füße. Bitte nicht, betete ich. Bitte sag es jetzt nicht!

»Sie hat keine Magie«, widersetzte Yu Weiß sich meiner stummen Bitte. In diesem Augenblick drehten sich alle Eltern um und starrten mich an. Meine Mutter rückte unauffällig (wie sie wahrscheinlich dachte) ein bisschen von mir weg. »Und die meisten Mentoren, die ich gefragt habe, wussten nicht, was sie sie lehren sollten. Aus diesem Grund werde ich mich ihrer annehmen.« Sofort entbrannte Protest, vor allem von den Eltern der ersten Schüler (angeführt natürlich von Isabells Mutter und Vater). »Warum unterrichten Sie denn nicht die Mächtigsten?«, brüllte Isabells Vater. Doch ein Blick von Yu Weiß brachte ihn zum Schweigen. »Kommst du nach vorne, Sofia Winters?«

Ich konnte ihre Blicke förmlich spüren, als ich nach vorne ging. Der Direktor lächelte mich leicht an. »Keine Magie ist auch eine Magie«, sagte er leise, sodass nur ich es hören konnte, und hob die Schale. »Im Namen der Rotkutten, der Schwarzkutten und der Blaukutten. Sofia Winters, wirst du mir gehorchen, um deine ganz eigene Magie zu entfalten? Wirst du mir Glauben schenken, was ich dir auch immer erzähle und meiner Meinung vertrauen?« Das Wasser, das er auf meinen Kopf träufelte, machte mich merkwürdig ruhig und ließ mich die ganzen empörten und teilweise auch entsetzten Gesichter, die in diesem Moment zu mir hochstarrten, vergessen.

Ich nickte. »Ja, ich werde.«

Meine Eltern verschwanden als erste. Kaum waren sie weg, verkroch ich mich in meinem Zimmer, um den wütenden Blicken meiner Mitschüler und den Eltern zu entgehen, die sich noch im Saal versammelt hatten, um zu feiern und später in der Mensa zu essen. Natürlich waren auch Bea und ihre Eltern dort geblieben, sodass ich mich in mein Bett kuschelte und meinen Gedanken nachhing. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber je mehr ich es versuchte, desto zorniger wurde ich. Gönnte mir denn niemand auch nur einen kleinen Triumph? Gönnte mir niemand eine Ausbildung?

Mir schnürte es die Luft zu und ich öffnete das Fenster, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Draußen stürmte es, was es eigentlich sehr selten tat. Das Wetter war beständig und obwohl wir Spätherbst hatten, war es nicht viel kühler als im Sommer und ich nahm auch nicht an, dass die Temperaturen bis zum Winter besonders weit fallen würden.

Der Wind fegte mir ins Gesicht und ließ meine Haare hinter mir tanzen. Ich genoss die kühle Luft, die ins Zimmer wehte und begann mich zu beruhigen. Sollten meine Mitschüler und von mir aus auch deren Eltern doch reden. Ich hatte einen Mentor – wahrscheinlich einen der besten. Ich blieb noch einen Moment am Fenster stehen, so lange, bis sich der Sturm langsam legte. Ich beschloss, nicht zum Abendessen zu gehen. Beas Eltern würden noch da sein und mit ihnen wollte ich bestimmt nicht essen. Ich konnte mich ja immer noch nachts runter schleichen, bei so etwas hatte ich eine gewisse Routine. Das erste Mal war ich auch wegen der ersten Stunde der Mentoren aufgeregt und verspürte nicht nur die gewöhnliche Angst. Yu Weiß war der einzige, der mich bisher normal behandelt hatte (und ich spreche nicht nur von Schülern, sondern auch von Lehrern). Vielleicht würden die nächsten zwei Jahre doch nicht so schlimm werden.

Bea kam erst am späten Abend in unser Zimmer. »Lass sie reden«, sagte sie nur. »Du hast echt Glück. Yu Weiß ist wirklich nett und meine Mentorin – Quandri – wirkt sehr streng.« Wir redeten nicht viel an diesem Abend, weil es nichts zu sagen gab. Morgen würde sich klären, wie das mit den Mentoren lief und ob die anderen Schüler mir meinen kleinen Erfolg noch übel nehmen würden.

Ich schlief nicht viel in dieser Nacht. Irgendwann lief ich nach unten in die Küche und nahm mir etwas Nachtisch. Ich war so häufig nachts essen gewesen, dass ich den Weg ohne Probleme im Dunkeln fand. Ich hasse es, wenn man weiß, dass man am nächsten Morgen ausgeschlafen sein muss, aber nicht einschlafen kann. So war das auch heute. Ich dachte gar nicht so viel über die Mentoren nach, eher über meine Eltern. Ich hatte gehofft, dass sie sich doch verändert hatten. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass sie mir sagten, wie sehr sie mich vermisst hatten. Immerhin hatten sie mich seit zwei Jahren nicht gesehen. Meine Eltern waren keine, die zu den Besuchertagen kamen wie Beas Mutter und Vater.

Manchmal fragte ich mich, ob das nur daran lag, dass ich keine Magie hatte. Ich konnte mich einfach zu wenig an früher erinnern, als es noch normal war, dass sich keine Anzeichen der Magie zeigten.

Ich wusste nicht, wann ich endlich eingeschlafen war. Irgendwann wachte ich jedenfalls von dem Geräusch der Dusche auf. Bea duschte jeden Morgen vor mir, und normalerweise liebte ich es, im Bett zu liegen und dem Rauschen des Wassers zu lauschen. Doch heute war ich viel zu nervös. Ich wusste nur, dass die Mentoren uns beim Frühstück abholen würden und wir auch Vormittags- und Nachmittagsunterricht haben würden.

Nachdem Bea und ich fertig waren, liefen wir nach unten in die Mensa. Die Schlange reichte mal wieder bis zur Tür. Ich stellte mich hinter einer Sechstklässlerin an und nahm mir ein Tablett. Wie immer konnten sich vorne manche nicht entscheiden und hielten alle anderen auf. Als wir endlich beim Buffet angekommen waren, nahm ich mir Müsli und Bea sich ein Brötchen, dann setzten wir uns an unseren Stammtisch ganz am Ende des Raumes an der Fensterseite.

Kaum hatte Bea einmal in ihr Brötchen gebissen, stand ihre Mentorin von ihrem Platz am Lehrertisch auf und kam zielstrebig auf sie zu.

 

»Du kannst mich Quandri nennen, Bea. Ich möchte anfangen. Folgst du mir bitte?« Mich ignorierte sie eiskalt. Nicht, dass ich so etwas nicht gewohnt wäre, die Lehrer waren da nicht viel besser als die Schüler. Bea schaute leidend auf ihr angebissenes Brötchen, stand dann aber auf und lächelte mir nervös zu.

»Viel Glück«, formte ich lautlos mit den Lippen, dann folgte Bea ihrer Mentorin Quandri aus der Mensa. Alleine aß ich mein Müsli auf und beobachtete, wie nach und nach alle älteren Schüler von ihren Mentoren abgeholt wurden, bis nur noch die Unter- und Mittelstufenschüler da waren, deren Unterricht erst um kurz nach neun Uhr begann.

Ich dachte schon, dass mich niemand mehr abholen würde, als Yu Weiß die Mensa betrat.

»Sofia, kommst du mit?«, fragte er und ich stand sofort auf. Wir gingen in einen leerstehenden Klassenraum, der nicht von den Klassen genutzt wurde. Yu Weiß setzte sich auf (ja, auf! Das machte ihn sehr sympathisch) das Lehrerpult und ich nahm auf der Fensterbank Platz. »Weißt du, was die Magie der Schwarzkutten ist?«, fragte er sofort ohne eine Art von Erklärung oder Einleitung á la »Ich bin jetzt dein neuer Mentor und erzähle dir erst einmal etwas von den Themen, die wir ansprechen werden.«

»Sie beherrschen die Nekromantie – Totenmagie. Aber niemand weiß wirklich, welche Magie sie haben. Die Schwarzkutten schotten sich sehr von uns ab«, sagte ich sofort und schauderte. Schwarzkutten waren gefährlich. Sie waren sehr mächtig, standen aber nicht, wie die Blaukutten, für Weisheit und Güte, sondern für List und Falschheit. Das war natürlich nicht fair, weil es natürlich auch miese, arrogante Blaukutten und nette Schwarzkutten gab, aber dennoch hatten die Schwarzkutten eben diesen Ruf – und auf die Mehrheit trafen die Eigenschaften List und Falschheit auch zu.

»Und ab welchem Jahr setzt die Magie bei Kindern ein?«

Ein heikles Thema für mich. »Ab sechs Jahren«, sagte ich leise. Ich wusste nicht, wie lange Yu Weiß mir Fragen stellte. Es gab allgemeine Fragen, dann bezogenen sie sich auch wieder auf ein bestimmtes Kraut oder eine Art von Magie. Irgendwann nickte er. »Du weißt wirklich viel, Sofia. Das ist eine gute Grundlage. Du fragst dich sicher, was ich mit dir machen werde, da du keine Magie beherrschst.«

Ich zuckte zusammen, aber er redete einfach weiter. »Wir werden hier natürlich viel Theorie machen, aber auch etwas anderes. Und ich muss dir das Versprechen abnehmen, darüber mit niemandem, wirklich niemandem, zu sprechen. In Ordnung?«

Verwirrt nickte ich. Was wollte er denn mit mir schon machen?

»Gut«, sagte er. »Denn ich werde dich ein bisschen auf das Leben vorbereiten. Ich möchte, dass du fragst, wenn du etwas nicht verstehst. Aber ich werde dir nicht sagen, warum wir bestimmte Dinge tun. Das bedeutet, dass du lernen musst, mir zu vertrauen. Du kannst jetzt zum Mittagessen gehen. Nach der Pause hole ich in deinem Zimmer ab.«

Sehr verwirrt machte ich mich auf den Weg zum Mittagessen. Bea saß schon an unserem Tisch und stocherte in ihren Nudeln herum.

»Sie ist schrecklich«, zischelte sie mir zu, als ich mich neben sie setzte und deutete mit dem Kopf in Richtung Lehrertisch. »Wir haben die ganze Zeit nur Gegenstände verrückt«, stöhnte sie. »Kein Wort hat Quandri gesagt. Kein Wort! Na ja, wie war es bei dir?«

»Yu Weiß hat die ganze Zeit Fragen gestellt«, sagte ich vorsichtig. »Ich bin mal gespannt, was wir beim Nachtmittagsunterricht machen.« Ich wollte Bea von den Andeutungen erzählen, aber ohne dass ich wusste, worum es überhaupt ging, machte es wenig Sinn.

Bea war wegen Quandri schlecht gelaunt und so gingen wir gleich nach dem Essen auf unser Zimmer und übten Gegenstände verschieben (Bea natürlich, ich feuerte sie nur an). Ich liebte es, wenn sie Kissen allein mit Gedankenkraft durchs Zimmer fliegen ließ und war mir sicher, dass Quandri stolz auf sie sein würde.

Quandri holte Bea als erstes ab, sie kam (ohne zu Klopfen übrigens!) in unser Zimmer und das Kissen, das Bea mir gerade ohne es zu berühren an den Kopf werfen wollte, segelte langsam auf halbem Weg zu Boden.

Quandri hob die Brauen. »Gut, dass du übst«, sagte sie gönnerhaft und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. Bea trottete ihr missmutig hinterher. Yu Weiß kam dieses Mal sehr kurz nach Quandri, um mich abzuholen – im Gegensatz zu ihr klopfte er jedoch höflich an, und stürmte nicht einfach in unser Zimmer.

Ich folgte ihm wieder in ein leeres Klassenzimmer. Kaum hatten wir den Raum betreten, als Yu Weiß sich ein Stück Kreide aus dem Behälter neben der Tür nahm und etwas an die Tafel schrieb:

1. Beobachten

2. Verstehen

3. Reagieren

Seine Schrift war ordentlich und gerade – was für Mentoren und Lehrer meiner Meinung nach sehr ungewöhnlich war. Die Schrift der meisten Lehrer, die ich in den letzten zehn Jahren gehabt hatte, konnte man in etwa so gut entziffern, wie mir Magie beibringen. Verwundert setzte ich mich auf einen der Tische in der ersten Reihe und ließ meine Füße baumeln. »Das«, sagte Yu Weiß, »ist sehr wichtig. Ich möchte, dass du dir das einprägst. Alles was du tust, sollte auf diesen drei Dingen beruhen. Du beobachtest etwas, erschließt, was passiert ist und reagierst angemessen.«

Ich runzelte immer noch verwirrt die Stirn, weil ich nicht wusste, was er mir damit sagen wollte. »Ich nenne dir ein Beispiel«, sagte Yu Weiß, der mir wohl ansah, dass ich ihn nicht verstand. »Angenommen, ich würde jetzt zusammenbrechen und Blut spucken. Du würdest sehen, was mit mir passiert, dann würdest du dich hoffentlich daran erinnern, dass vor allem Babaspilze eine solche Wirkung haben. Deine Reaktion wäre das Holen eines Krankenwagens. Verstehst du, was ich meine?«

Ich nickte langsam. Ja, ich verstand, was er meinte, aber ich wusste immer noch nicht, was er mir damit sagen wollte. Warum dachte er, dass so etwas gerade für mich wichtig wäre, mich aufs Leben, wie er gesagt hatte, vorbereiten würde?

»Nun, ich möchte, dass du das anwendest. Nicht nur bei alltäglichen Gelegenheiten, sondern überall. Wenn du etwas Merkwürdiges siehst, das du nicht verstehst, solltest du dir Informationen beschaffen, damit du es verstehst und anschließend reagieren kannst.«

Den Rest des Unterrichts redeten wir über Magie im Allgemeinen, wie sie sich auswirkte, wenn sie begann (beispielsweise litten viele sechsjährige, wenn sie ihre Magie bekamen, unter Schlafstörungen, Fieber und Kopfschmerzen).

Beas Mentorin Quandri war wohl genauso merkwürdig wie Yu Weiß.

»Sie meinte, ich solle Mentorin werden«, Bea tickte sich gegen die Stirn. Ich saß mit angezogenen Beinen auf dem Rand der Dusche, während Bea sich schminkte. (Sie hatte vor, Luis heute zu fragen, ob sie sich mal treffen wollten. Seit der achten Klasse waren die beide eines von diesen Fast-Paaren, bei denen man sich fragt, weshalb sie noch nicht zusammen sind.)

»Genau, ich. Sehr lustig. Morgen will sie mit mir in die Stadt fahren und ein paar Dinge besorgen, die wir bewegen können. Keine Ahnung, woran sie so denkt. Sessel vielleicht«, Bea grinste und steckte ihre Schminksachen wieder in ihre kleine Tasche zurück. »Und was habt ihr gemacht?«

Ich erzählte ihr von den drei Stichworten an der Tafel. »Ich hab das Gefühl, dass Yu Weiß ziemlich merkwürdig ist«, sagte ich. »Ob das gut oder schlecht ist – keine Ahnung.«

Bea schaffte es an diesem Abend tatsächlich, Luis zu fragen. Sie verabredeten sich für das Wochenende in einem Restaurant in der Stadt (was natürlich nicht erlaubt war) und Bea vergaß sogar ihren Ärger wegen ihrer Mentorin Quandri. Erst als wir in den Betten lagen, kamen wir wieder auf unsere Mentoren zu sprechen.

»Kopf hoch und Schultern raus, Bea«, ahmte Bea die Stimme ihrer Mentorin nach.

Ich musste lächeln. Ehrlich gesagt hatte ich mir das alles schlimmer vorgestellt. Meine Mitschüler beachteten mich immer noch so wenig wie früher – sie schienen den Ärger darüber, dass der Schulleiter mich unterrichte, über ihre erste Mentorenstunden wieder vergessen zu haben – und Yu Weiß war vielleicht ein Mentor mit vielen Merkwürdigkeiten, aber keineswegs mies oder nervig. Im Gegenteil – ich hatte das Gefühl, dass er sehr klug war.

Die nächsten Stunden mit Yu Weiß waren sehr interessant, auch wenn ich langsam aber sicher zu dem Schluss kam, dass er den letzten Schuss nicht gehört hatte. Wahnsinn und Klugheit lagen nun mal sehr nah beieinander. Bea war mit Mentorin Quandri nicht wirklich zufrieden und das besserte sich auch in den nächsten Tagen nicht. Ich lernte Quandri das einzige Mal kennen, als sie mit Bea so unzufrieden war, dass sie der Meinung war, beim Abendessen ihre Lehreinheit fortzusetzen zu müssen. Sie wirkte sehr arrogant und schien sich nur auf ihren Stoff zu konzentrieren, so wie sie Bea herumkommandierte.

Ich war so vollkommen mit Yu Weiß’ Arbeit (und seinen Hausaufgaben) beschäftigt, dass ich praktisch keine Zeit für andere Dinge fand.

Nachdem Luis und Bea ein paar Mal miteinander ausgegangen waren, saß er jetzt immer an unserem Tisch in der Mensa (was schon ein Fortschritt war).

Der Unterricht mit Yu Weiß wurde immer anspruchsvoller, ein paar Stunden konzentrierten wir uns total auf Heilpflanzen und die Woche darauf nur auf die Magie der Rotkutten.

»Natürlich ist die Magie bei jeder Kutte unterschiedlich«, erklärte Yu Weiß mir, während wir in einem der leeren Klassenräume saßen, »aber alle Rotkutten sind der Telekinese mächtig, das heißt, sie können Gegenstände bewegen. Die Schwächeren schaffen es vielleicht nur, eine Feder schweben zu lassen, aber die Besten können Häuser verschieben. Diese wenigen werden normalerweise Architekten.« Dann schauten wir uns Studien über die Magiepunkte der Rotkutten an, die ich mir einprägen sollte.