Ein Kleid aus Seide

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Ein Kleid aus Seide
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Sanne Prag

Ein Kleid aus Seide

Ein Mystik-Krimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorspann

ABEND

NACHMITTAG

NACHMITTAG

SPÄT

NACHT

VORMITTAG

VORMITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHTS

ZEITIGER MORGEN

FRÜH

MITTAG

MITTAG

ABEND

ABEND

NACHT

NACHT

MITTERNACHT

MORGENGRAUEN

MORGEN

MORGEN

SPÄTER NACHMITTAG

MORGEN

MORGEN

VORMITTAG

SPÄTER VORMITTAG

ABEND

ABEND

MITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

FRÜHER ABEND

MORGEN

MITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

ABEND

NACHT

MORGEN

Impressum neobooks

Vorspann

Therese saß auf der Bank, die Falten der goldfarbenen Seide mit den dünnen, blauen Streifen lagen weich auf ihren Armen, auf ihren Beinen, zarter Stoff, der Liebe machte mit ihrer Haut.

Sie war vor allem heilfroh, dass er ihre Beine bedeckte. Die Schmerzen sah man ja nicht, aber die dunklen Flecken. Am Jochbein und am Hals und auf den Rippen hatte sie auch einen. Den am Jochbein hatte sie mit einer extradicken Schicht von Makeup verdecken müssen. Sie konnte fast nicht mehr lächeln, hatte das Gefühl, die dicke Schicht würde Risse bekommen und abblättern. Mit Panik hatte sie festgestellt, dass man den Fleck auf den Rippen sogar durch eine sehr dicke Schicht Farbe sah. Und wenn sie ein bauchfreies Modell anziehen musste, ging das nicht.

Vielleicht ließ Inge weiter mit sich reden in Bezug auf die Kleider?

Die meisten Mädchen hatten eine ähnliche Figur und eine ähnliche Größe wie sie. Manchmal wurde der Stoff speziell auf eine von ihnen aufgenäht, wie ein Hautersatzteil nach Verbrennung, dachte sie. Die meisten Modelle waren aber austauschbar. So war es ihr gelungen, für diesen Tag das Seidenkleid zu erobern. Es hörte erst knapp über dem Boden auf und hatte halblange Ärmel. Die Oberarme konnte sie ja auch nicht herzeigen.

Sie hatte sich sehr konzentrieren müssen, um die richtigen Handlungen zu setzen, damit sie genau dieses Kleid tragen durfte. Den Fleck am Hals verdeckte sie mit der Frisur. Das fühlte sich wie Sicherheit an. Es war ein bisschen heikel geworden, weil Udo sich eingebildet hatte, dass die Frisur so nicht richtig war. Die schützenden Haare wurden von dem Fleck weggezogen. Das hatte Angst bei ihr ausgelöst.

Udo betrachtete die Mädchen als Kleiderständer seiner überwältigen Kreationen. Daher hatte er nur Augen für die Form der Frauen, die Farbe, die Frisur, die sein Kleid zur Geltung bringen würde – der Fleck wäre Störung gewesen, er hatte ihn Gott sei Dank nicht bemerkt, weil sie sich wegdrehte. Nachher fand er die Frisur doch besser, so wie sie war. Die Haare fielen wieder über Theresas dunkle Stelle, sie war erleichtert. Zurückgestellt in die Warteschlange der Modelle, die begutachtet wurden, atmete sie aus und drückte die Haare über den Fleck.

Hauptsache, keiner wollte was von ihr.

Der Job brachte es mit sich, dass von ihr kaum mehr erwartet wurde als von einem Kleiderständer, keine Aussage, keine Wahrnehmung, kein interessierter Blick. Nur sportlich gab es Forderungen. Heftige Bewegung mit den Beinen war verlangt. Das Gehen war aber ein Problem. Die Schmerzen waren sehr deutlich. Immer wieder gab es Momente, in denen sie die akute Schmerzwelle wegatmen musste. Ihr Innenraum war wund.

Der Gedanke, dass sich Schweißtröpfchen auf ihrer Stirne bilden könnten, machte ihr Angst. Sie spürte keine feuchten Tropfen, versuchte aber trotzdem, sich aus der Reihe davonzuschleichen, um einen schnellen Blick in einen der Spiegel werfen zu können. Das war nicht möglich, denn Udo war am kreativen Akt, und da war Bewegung verboten.

Ein quälendes Bild nahm Platz in den schwelenden Resten ihrer Gedanken – Schweißtröpfchen. Ihr gepeinigtes Hirn fraß sich an dem Wort fest, an der Vorstellung – Schweißtröpfchen. Schweißtröpfchen gingen gar nicht, waren eine echte Bedrohung. Sie würden auf ihrer Stirne schwerer und schwerer werden und würden sich auf den Weg ins Tal machen wie kleine Bäche. Unterwegs höben sie dann Täler in der Puderschichte aus und dunkle, manchmal auch rötliche Streifen würden sichtbar werden. Die Folge war ein zerstörtes Puppengesicht. Ihr Puppengesicht war aber ihr Kapital. Es passte mit ihren großen, dunklen Augen und ihrem winzigen Mund gut zu den Kleidern. Bei fast jeder Auswahl war sie dabei, sie musste nur dafür sorgen, möglichst ausdruckslos zu bleiben. Das bedeutete Geld am Konto.

Ihr Gedankensumpf hatte sich seit dem Vorabend nicht geformt. Sie konnte aus dem schlammigen Bodensatz keine Klarheit schälen. Aber Geld auf dem Konto war das erklärte Ziel, gestern, heute, morgen. Das wenigstens war klar.

Ihre Gedanken schwammen undefiniert in einer roten Zone wandernder Schmerzen, und fast hätte sie das Kommando nicht befolgt: Alle wieder auf die Stationen – Foto in einer halben Stunde. Ihr Puppengesicht verschaffte ihr Zugang zu den Jobs, aber sie behielt sie, weil sie diszipliniert war. Da gab es kein Verschlafen, kein Ausweichen, keine Entschuldigung.

Die Station nahm sie und Ariane auf. Ariane war dunkel und langhaarig. Manchmal wurde ihre Frisur gezaust, um ihr ein wildes Aussehen zu geben. Die sportliche Mode brauchte das. Wind ist wild. Ariane war weder sportlich noch wild. Wie Therese ja auch, war sie ein blasses Bild, das Kleider zur Geltung bringen musste. Ihr Leben durfte nicht sichtbar sein. Sie durfte nicht sichtbar sein im Leben.

Ein Aufruhr drei Stationen weiter. Es war laut und bösartig. Sowas ging nicht durch. Nein. Zwei cm zu viel – Raus und scheißen, bis das Modell passt. Wie sie das mache, sei wurscht, sie habe einen Vertrag unterschrieben!

Solche Szenen waren immer sehr belastend und drangen auch an diesem Tag durch bis in Theresas Nebelland. Die Gefahr kam immer ganz nah an ihr Ufer, wie ein Krokodil, das ja auch sie fressen würde, mit seinem dunkelgelben, Zähne besetzten Maul. Zwei panische Zentimeter Verstopfung und das Krokodil hatte sie. Es schnappte nach ihr. Und sie konnte heute nicht laufen.

 

Sie war nicht ganz sicher, wie sie den Laufsteg schaffen konnte. Die Schritte mussten so gesetzt werden, dass die Kleider schwangen. Die Wollust des Stoffes, sichtbar, greifbar, musste durch sie, durch ihren Gang, durch die Beine in Bewegung gebracht werden. Ihre Beine – der Motor, der heute stotterte, schlotterte, weich und kraftlos war.

Sie merkte, dass sie den Bildern vom Vorabend auswich. Die Bilder langten nach ihr und sie entzog sich. Zurückziehen war möglich, laufen nicht.

Das Problem war die Atmung.

Es hatte eine Zeit am Vorabend gegeben, da hatte sie keine Luft holen können. Sie hatte das Gefühl gehabt, nie wieder Luft holen zu können. Ihre Brust war eingedrückt gewesen. Tatsächlich, bis ans Rückgrat. Sie hatte nicht so viel davon – von der Brust. Sie musste das, was sie hatte, immer ausstopfen. Sie hatte keinen Polster, keinen Airbag. Vielleicht hatte es sich deshalb so angefühlt – bis zum Rückgrat?

Viel Brust war auch nicht immer gut für den Job. Es gab Kleider, die waren froh über wenig.

Die anderen Mädchen diskutierten ständig darüber, ob sie sich die Brust „machen ließen“. Sie hatte zugehört und überlegt, genau beobachtet, ob sie dadurch mehr Angebote erhalten könnte. Bei der Unterwäsche war’s gut. Man hatte etwas zum Hineintun in die Spitzen. Aber Wäsche war ein kleiner Bereich. Genau betrachtet hatte sie eher den Eindruck, dass mehr Busen bei den Modellen störte. Es müsste klar einen Vorteil bringen, mehr Einsätze, damit sie all das schöne Geld investierte, um sich mehr Busen machen zu lassen.

Antoin arbeitete an ihrem Haar. Das Blond war dermal sehr gelbstichig geworden. Ob sie eine fast weiße Variante ausprobierte? Es war aber nicht gut, etwas zu wollen. Das hatte sie gelernt. Sie war dafür da, sich formen zu lassen, durch Kleider, durch die Kunst des Friseurs, durch die Choreografie. Sie gab den diversen Künstlern die Illusion einer formbaren Welt, das war ihre von allen akzeptierte Aufgabe. Selbst zu sagen, ich will Weißblond ausprobieren, war nicht gefragt. Andrerseits hatte sie das Problem, dass auch niemand an der Verbesserung ihrer Einkünfte interessiert war. Sie selbst musste sich so herrichten, dass sie jeden Job bekam, den sie wollte. Nach dem Vorabend war es einfach notwendig, dass sie ihre Extrajobs mehr auswählen konnte.

Das Konto war gut gefüllt. Vielleicht konnte sie jetzt eine Zeit aussetzen? Sie fühlte den schmerzenden Körper und wusste, sie würde so schnell nicht wieder zu einer Veranstaltung wie gestern gehen können.

Blöde Zimperliese!! So ging das nicht. Sie konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass irgendwer sie füttern würde. Und jeder Job konnte morgen vorbei sein. Geld am Konto war Überleben.

Vor drei Jahren noch war Krieg um sie her. Mutter tot. Vater irgendwo verschollen. Sie war mit ihrem kleinen Bruder bei Nacht und Nebel Richtung Grenze unterwegs gewesen. Hatte sich in der Flüchtlingsschlange zu einer Familie gestellt, als ob sie dazugehören würde. Das half, sie wurde in der Woge über die Barrieren geschwemmt. Institutionen und Papiere und Zelt und Institutionen und Papiere und Namen und Fingerabdruck. Und warten und wieder warten. Und sie wollte doch endlich arbeiten. Dann war sie auf die Modebranche gestoßen und deren Möglichkeiten - den Aufgaben eines Kleiderständers mit Motor.

Sie hatte die Sache noch nicht wirklich ganz im Griff. Die Gagen waren noch zu niedrig. Aber verhandeln kam im Moment nicht in Frage. Mit den blauen Flecken musste sie jetzt sehr still und angepasst sein. Wenn man so aussah, konnte man keine Forderungen stellen.

Rod kam auf sie zu. Rod war Assistent, der der alles wusste, alles ordnete, alles bereit hatte in einem dicken schwarzen Buch. „Sonder-Fototermin“, sagte er. „Machst du mit? Heute 23 Uhr in der Burg hier. Ist nicht offiziell.“

Sie schaute ihn nur ruhig an. Es würde die ganze Nacht durchgehen. Sie hatte zu ihrem Schrecken bemerkt, dass ihr rechtes Knie gerade am Anschwellen war. Diese Termine waren aber immer erstklassig bezahlt und steuerfrei. Ob sie das schaffen würde?

Er bemerkte ihren ruhigen Blick. Er wusste auch, wie die Frage war, die unausgesprochene. Aber er ließ sie noch ein wenig dunsten. Schließlich sagte er mit breitem Grinsen: „1000 – Echt.“

Das konnte sie nicht auslassen. Angeschwollenes Knie hin oder her. Problem war: Würden die Flecken noch dunkler werden? Sie schaute Rod ernst und ruhig an.

Der überlegte, was sie noch wollen könnte. „Kein Quartier, wenn sie soviel zahlen, gibt’s Zimmer nur unter bestimmten Umständen.“ Rod meinte das nicht zynisch. Wenn sie sich einen Kerl mit Quartier reinziehen wollte, war das ihre Sache. Sie hatte den Termin perfekt zu absolvieren, das war alles.

Perfekt absolvierte Termine verlangten eine halbwegs stabile Konstitution.

Nicht, dass es wichtig war, wie sie sich fühlte. Sie war keine Schauspielerin. Aber sie musste sich auf Wunsch verbiegen können, ganz unwahrscheinliche Körperhaltungen einnehmen. Wenn sich ein Teil nicht biegen ließ, war das ein Minus. Abzug. Verachtung, die anhielt. Manchmal dachte sie, dass es so etwas wie ein Schwarzbuch der Körperhaltungen gab. Wenn was nicht ging, war sie eingetragen, eingeschränkt verwendbar – Wertminderung. Das war der Punkt, an dem Mädchen nicht völlig austauschbar waren. Wichtig war, bei einer sehr anstrengenden, schwierigen Körperhaltung keinen roten Kopf zu bekommen, lässig zu lächeln. Das ging fast nicht, wenn man keine Luft bekam.

Da war es wieder, das scheußliche Gefühl vom Vortag. – Keine Luft. Fast so schlimm wie kein Essen, kein Wasser, aber schneller in der Bedrohung, gewaltiger im Moment. So sehr sie versuchte, es abzuschütteln, es war da, riss plötzlich ein Loch in den Vorhang vor dem Gestern.

Sie versuchte, wie beweglich ihre Finger waren, immer ein Auge auf die gerade anlaufende Fotosession. Die Finger ließen Bewegung zu, obwohl ihre Handgelenke schmerzten. Aber das angeschwollene Knie ließ sich nicht ganz abbiegen.

Tennisspieler durften weinen, wenn ein Bein krampfte. Sie durften Timeout nehmen, sich deutlich sichtbare Bandagen um die unfunktionellen Teile wickeln. Durften humpeln, sich bedauern lassen und wegen ihrer Stärke bewundert werden. Alles undenkbar in ihrem Fall. Schon zu sagen, dass Abbiegen nicht möglich wäre, war so etwas wie Vertragsbruch. Sie musste das Knie bei der Nachtsession beichten und irgendeinen harmlosen Grund erfinden. Nicht die Wahrheit, nein keinesfalls. Kein Mensch in einem Fotostudio war an der Wahrheit interessiert. Die wollten herrliche Bilder, Eindrücke schaffen, wunderbare Impressionen. Ein kaputtes Knie war ein Hindernis, sonst nichts.

„Sag Rod, wer macht denn bei der Nachtsession Kamera?“ Sie hatte sich an Rod angeschlichen und zupfte an seinem Ärmel.

Er, mit rot geränderten Augen, hatte nach dem Vortag auch keine gute Nacht gehabt. Er befragte seine Seele, seine Erinnerung, sein gesamtes System, sein dickes Buch. „Heinz“, sagte er schließlich. Rod war immer höflich und bereitwillig, sogar zu einem Kleiderständer.

Heinz war ok. Eigentlich mochte sie Heinz sehr gerne. Sensibel und realistisch, eine gute Mischung.

SPÄT NACHTS

Die erste Kamera-Einstellung, die ersten Bilder waren geschafft, aber sie wusste, dass sie im Moment keine mehr schaffen würde. Sie setzte einen sehr verlorenen Blick in ihre Augen und ging aus dem Raum in eine dunkle Halle. Flucht vor der Wiederverwendung, scheinbar Richtung WC.

Da standen Rüstungen und Glaskästen mit aufgespießten Käfern, Tote an der Wand und Tote unter Glas in übrig gebliebenen Panzern aus Eisen oder Chitin mit dem Speer noch mittendurch. Die Rüstungen, die Leben schützen sollten, entlang der Wände und in den Vitrinen aufgereiht als Schauobjekte, aufgespießt. Die Schutzhüllen waren einmal Lebensgrundlage gewesen, jetzt nur mehr Deko, abgewirtschaftet, mit Staub drauf, Ritter wie Käfer.

Was die Männer in Rüstung wohl damals gedacht hatten, wenn sie entlang der Vitrinen zum Tournier geschritten waren? Ob sie sich auch so aufgespießt gesehen hatten? Zuerst tot und dann Dekoration wie diese Käfer, für alle die zufällig da waren. Der Tod - ein interessantes Ereignis für Leute in eleganten Kleidern. Der Tod beim Tournier war wohl Rahmen für die Kleider, die ja Anlässe brauchten, um angezogen zu werden. Das Ende eines Lebens als nebensächliches Ereignis am Rande einer Modenschau. Therese fragte sich, ob das die Ritter in dieser Burg auch als so komisch gefühlt hätten wie sie. Es kam ihr ungereimt vor, die falsche Wichtigkeit.

Sie erweckte weiterhin den Anschein, als ob sie gerade ein WC suchen ging. Für wen? Keiner sah sie. Da war niemand. Sie schaute an den Wänden entlang in die Nischen.

Sie hatte mit Heinz einen Flüsteraustausch wegen des Knies gehabt, fertig in eine auberginefarbene, glatte Robe gehüllt, mit glatten, langen, auberginefarbenen Handschuhen, die ihre Flecken an den Armen gut verdeckten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie gerade über den Randstein gekippt war und ihr Knie anschwelle. Er verstand – keine Extremstellungen mit dem Knie. So etwas gab es eben, konnte passieren. Sie war vorübergehend in Sicherheit. Der kühle Gang ließ ihre Angst vorm Schwitzen kleiner werden. Sie musste nur aufpassen, dass das Kopftuch nicht verrutschte. „Wie Samenkapseln“, hatte Udo gesagt. Es verdeckte die Haare großteils, und gleichzeitig lugten sie an Ecken und Spitzen sichtbar hervor aus der kunstvollen Pracht am Kopf, manchmal in einer anderen Farbe als die Haare darunter. Kopftücher als Zentrum der Modelinie. „Könnte ein Erfolg werden“, hatte sie Udo zu einer Assistentin sagen gehört. „Man spart den Friseur.“

Sie sah in das Glas einer Vitrine, um zu klären, ob eine ihrer Schadstellen sichtbar geworden war. Sie bildete sich ein, dass der Fleck am Hals sich deutlicher abzeichnete. Wenn der noch dunkler wurde, war er nicht mehr zu übersehen. Vielleicht konnte sie Udo infiltrieren, Streifen für den Hals, Halskrausen oder Spitzenstreifen der Kopftuchlinie hinzuzufügen?

Sie schaute in eine andere Vitrine, um sich von ihren Schmerzen abzulenken.

Da lag eine Maske, das Bild eines sehr alten Mannes. Die Maske eines Greises, sehr hell, fast weißlich, Porzellan vielleicht. Mit geschlossenen Augen lag er da, wie schlafend, zwischen ausgestopften Tieren und seltsamen Musikinstrumenten. Ein leises Lächeln auf den Lippen, schien er friedlich zu schlafen, still, ohne Forderung. Sie versenkte ihren Blick in sein ruhiges Gesicht, in die feinen Falten, wie Plissees vom zu heißen Bügeln. Die Bilder vom Vortag kreisten fern wie im Reigen. Sie in der Mitte hielt die Gesichter auf Abstand, ein Zauberbann, der viel Kraft kostete. Sie ließ sich sanft in den Schutz dieses Vatergesichtes gleiten. Fünf Minuten Ruhe, bevor sie sich wieder der siedenden Welt gegenübersah. Seine stillen Züge genießend, wie eine weiche, leichte Decke – da öffnete er die Augen.

Die Maske öffnete die Augen – sehr hellblaue Augen. Sie schauten aus dem Glas wie frisch erwacht.

Therese war elektrisiert. Fing sie jetzt schon zu spinnen an? Das konnte sie sich nicht leisten. Spinnereien musste man sich leisten können.

Die Maske schloss die Augen wieder, und es war, als ob nichts gewesen wäre. Sie verharrte noch zwei Minuten.

Zwei Minuten sind sehr lange, wenn man in Erwartung auf einen bestimmten Punkt starrt. Die Augen blieben geschlossen, als ob nichts gewesen wäre. Ihr hungriger Blick wartete auf ein Zucken der Lider, ein Verändern des Mundes. Da war nichts.

Hatte sie Halluzinationen?

Sie musste zurück.

Sie musste zurück und hatte noch immer keine Ahnung, wo das WC war. Und da gab es blaue Augen, die sie ansahen, oder gab es die nicht?

Der hell erleuchtete Saal hatte sie wieder. Überall heiße Scheinwerfer, darüber weiße Lichtpunkte im Hitzenebel. In der Mitte stand eine Gruppe um einen Mann, den sie nicht kannte. War es gut hinzugehen, oder sollte sie sich besser still in eine Ecke setzen?

Er war hellgrau und einheitlich angezogen. Wer war der? Kein Star. Sie hatte gelernt, grau angezogen waren meist nicht die männlichen Stars. Stars waren weiß glitzernd, schwarz oder bunt. Sie war noch zu keinem Entschluss gekommen, als Heinz aus der Gruppe rief: „Theresa komm, du bist gefragt.“

Langsam ging sie hin, eine starke Spannung im Steißbein. Sie musste sich völlig gerade halten, ihr Gang sollte leicht wirken, schwerelos. Die Schmerzen bremsten den Schritt. Kunstgriff der Leichtigkeit: Sie hatte gelernt, wie leichte Schritte auszusehen hatten. Sie hob die Beine wie eine Marionette an Fäden. Es war wichtig, denn da schien es einen Job zu geben. Sie wusste, da würde ein Angebot kommen. Die Schmerzen schütteten Stoffe in ihren Körper, wie Alkohol. Sie wurde leichtfertig. Schwerelos leichtfertig, völlig unrealistisch. Sie würde jetzt und hier um die Gage pokern.

 

Udo sagte: „Das ist Walter von Ponhomy. Ihm gehört die Burg. Hier wird ein Film entstehen. In den Mauern und im Park wird gedreht werden und wir sind mit dabei. Er hat uns engagiert und wir werden unsere Modeschau als Teil des Filmes zur Verfügung stellen. Aber außerdem möchte er, dass einige von unseren Damen sich beim Dinner unter die Gäste mischen. Dekor, Glamour, die Freude am Schönen.“

Das war eine andere Form von zusätzlicher Arbeit „zu den üblichen Preisen“. Nein! Diesmal nicht. Sie raffte alles an Selbstbewusstsein zusammen, das sie greifen konnte und fragte still: „Wie soll das sein?“

Theresa überragte die Runde, weil kein anderes Mannequin dabei stand. Sie wirkte überzeugend in dem dunklen, glatten Kleid und ihrer Samenkapsel-Krone. Aufrecht, ausdruckslos und einen Kopf größer als die anderen.

Udo sah Walter von Ponhomy an, er reichte die Frage weiter – wie sollte das sein?

Nun, der war ein wenig überrannt, ein wenig zu schnell gefragt. Aber er war Geschäftsmann genug, um solchen Situationen gewachsen zu sein, dachte er. Er begann, sich festzulegen. „Gewohnt wird im Haupthaus, die Dreharbeiten beginnen in der Früh und laufen bis Abend durch, manchmal bis in die Nacht. Jeder bekommt einen Zeitplan, wann er anwesend zu sein hat, am Filmset und für Empfänge im Haus. Einen Termin nicht erfüllen bedeutet Vertragsbruch. Die Dreharbeiten werden ungefähr vierzehn Tage dauern“, ratterte er herunter.

Theresa hatte einmal gehört, dass solche Dreharbeiten nie so verliefen wie geplant. Am Anfang, so hatte ihr eine Schauspielerin erzählt, hatten der Regisseur und der Produzent immer sehr klare Vorstellungen davon, in welch kurzer Zeit alles gut und geordnet in die Kamera zu bringen war. Diese Vorstellungen überholten sich nach einer Woche, waren nach zwei Wochen meistens indiskutabel. Das hieß, hier ging es um einen längeren Job, dessen Dauer nicht abzusehen war. Und die anfangs geplanten Einsätze stimmten nicht. Das Zauberwort hieß Tagesgage, keine Pauschale.

Sie sah Herrn von Ponhomy daher mit großen Augen vertrauensvoll an und sagte: „Aber ich nehme an, ich muss einen Vertrag für einzelne Tage unterschreiben.“

Von Ponhomy hatte sich darüber noch nicht den Kopf zerbrochen. Er war schließlich weder der Regisseur noch der Produzent. Er stellte seine Burg und die Mode zur Verfügung, und auch sein Hotel, und er würde beim Filmteam ein- und ausgehen und auch ab und an mit einer Schauspielerin schlafen... Aber er war nur teilweise Organisator. Zwischendurch würde er die Models für seine eigenen Veranstaltungen einsetzen, oder für seine eigenen Bedürfnisse, die Kosten trug der Film. So war das geplant. Er stimmte daher zu.

Theresa wirkte nachdenklich, sie strich ihre Handschuhe glatt. „Ich denke, dass ich in der Zeit kein anderes Engagement annehmen kann, und jetzt müsste ich wissen, wann das stattfinden wird und wie viel ich jeden Drehtag bekomme.“ Ruhig und sachlich.

Von Ponhomy war überfordert, hatte das Bedürfnis, sie einfach niederzubrüllen, aber gleichzeitig das Gefühl, dass er das unter den Augen all der Anwesenden nicht tun konnte, nicht ohne Prestigeverlust. Er hatte sich aber mit den Details noch nicht auseinandergesetzt. Wie sollte er eine Entscheidung treffen, wenn er keine Ahnung hatte. Er musste aber antworten, diesem dummen Luder. Gott, waren diese Modepuppen dämlich! „Liebes Fräulein, das wird auch nicht anders sein wie eben jetzt. Sie haben hier auch einen Tagesvertrag und eine Tagesgage und so wird es auch am Filmset sein“, meinte er scharf und ungehalten, wie man mit blöden Fragen eben umging.

„Ich wollte nur klar sehen, für mich, ob weiter zu gleichen Bedingungen gearbeitet wird hier in der Burg. Aber wenn Sie es mir sagen, dann bin ich beruhigt, dass die gleichen Bedingungen weiterlaufen“, lispelte Theresa mit kleinem Stimmchen. „Wann muss ich denn unterschreiben und wann beginnen die Dreharbeiten?“

Sich mit geistig Minderbemittelten herumzuschlagen, gehörte wohl zu solchen Projekten, sagte sich Ponhomy. „Morgen früh reist eine Jagdgesellschaft an, die bleiben übers Wochenende und ab Montag kommt das Filmteam. Die Arbeit beginnt also morgen“, sagte er schroff. Im Hinausgehen meinte er noch: „Verträge also zeitlich morgen früh.“ Er hatte hier das Sagen und wollte die Sache schnell in den Kasten bekommen.

Theresa dachte, dass sie die Situation für ihren augenblicklichen Zustand ziemlich gut hingekriegt hatte. Immerhin hatte Ponhomy vor allen, auch vor Udo gesagt, dass er zu den gleichen Bedingungen wie in dieser Nacht Verträge abschließen wollte. Besser ging es nicht. Sie wusste zwar nicht, was sie tun würde, wenn er sich dann an nichts erinnern konnte, aber sie hoffte auf Udo, und darauf, dass er auch interessiert war. Er sollte darüber wachen, dass die Abmachung eingehalten wurde.

Inge hatte ihr ein nachtblaues, kurzes Modell aus Samt ausgehändigt, ärmellos. Nicht nur ärmellos, stellte sie fest, mit großen Löchern wo der Ärmel hätte beginnen sollen und ihren Körper und seine Schadstellen vor kritischen Blicken schützen. Das war ein Problem. Inge hatte das letzte Modell an sie vergeben, für sie aufgehoben, weil sie nicht im Raum war. Panik kreiste im Hinterkopf. Das Modell so anzuziehen, war nicht möglich!

Theresas armes, müdes Hirn brummte. Es kam ihr vor wie eine uralte Lok, die einen elendig langen Zug auf den Berg ziehen sollte, einen steilen Berg. Ihr war schlecht, Müdigkeit umschlang sie wie eine Anakonda. Sie brauchte lange Handschuhe. Bei einem Samtkleid waren Handschuhe ja durchaus eine Möglichkeit, auch wenn sie eigentlich nicht vorgesehen waren. Es gab aber keine nachtblauen, das wusste sie. Ihr Kopf suchte fieberhaft nach Möglichkeiten, während ihr Körper sich in den Samt hineinwand.

Ihr Samenkapsel-Kopftuch war in mattem graugrün mit nachtblauen Samteinsätzen. Sie wusste, wo Inge ihren Handschuhfundus hatte. Sie schlich durch die Kleiderständer-Alleen. Während Inge eine Samenkapsel feststeckte, krallte sie sich den Karton.

Schnelle Durchsicht aller Lagen - nur ein einziges Paar Handschuhe kam farblich in Frage. Die waren zu kurz für ihren Defekt am Oberarm, reichten nur bis zum Ellenbogen, konnten daher den schwarzblau schimmernden Fleck nicht verdecken. Keine Zeit für komplizierte Lösungen. Sie schnitt ein Stück des Ansatzes von einem der Handschuhe ab und befestigte den über der Schadstelle. Eine Oberarmspange wie eine Keltin, ein längerer Handschuh links, der kurze rechts, und Udo musste man klar machen, dass das seine Kreation war. Asymmetrisch, bewegt, extrem…

Schnell – das nächste Problem. Es waren farblose Strümpfe vorgesehen. Knapp über ihren Knöcheln gab es rote Druckringe, wo die Hände an ihr gezerrt hatten. Sie wusste, Inge hatte nachtblaue Strümpfe in ihrem Fundus, die wenig durchsichtig waren. Sie verschwand zwischen den Kleidern, stellte die Handschuhschachtel zurück und lief mit der Strumpfschachtel davon. Nachtblaue mit Naht, wenig durchsichtig – schnell, die Zeit war am Auslaufen. Sekundengenau kam sie zwischen den Kleiderständern heraus. Da war schon wieder Besichtigung. Unschuldig stellte sie sich in die Reihe, den Arm über dem großen Fleck an der Rippe.

Udo hatte seinen Künstlerblick. Bei Theresa verharrte er. Theresa schaute so leer wie möglich. Drehte sich ein wenig, spielte mit der Handschuhkreation. Udo versuchte sich zu erinnern, wann er auf diese Form gekommen war. Es fiel ihm nicht ein, war wahrscheinlich ein Missverständnis, aber sah eigentlich interessant aus. Er musste nochmals darüber nachdenken.

Da kam Ponhomy zurück. Ihm war eingefallen, dass auch bei Ankunft der Gäste am Vormittag Damen in Udos Kreationen bei den Gästen stehen konnten, irgendwas würde er von Udo dafür verlangen. Und am Abend wäre dann die richtige Modeschau, Reklame für seine Burg und eine gute Einleitung zu dem neuen Filmprojekt. Udo sollte darüber nachdenken.

Die Stimmen waren in weiter Ferne für Theresa. Müdigkeit hüllte sie inzwischen ein wie ein Kokon. Sie spürte, wie sie langsam wegbrach. Die Gesichter vom Vortag drängten sich ins Bild. Ihre Abwehr schwächelte. Alle lachten durch ihre Schmerzen hindurch, besoffen, schrill. Sie konnte sehr schlecht sitzen, vor allem nicht auf diesem Hocker. Die Gesichter veränderten sich, bösartig schreiend. Es war ein Fehler gewesen, sich als Dekoration auf dieser Party anheuern zu lassen. Im gleichen Moment spürte sie die Hände an den Fußknöcheln, die Hände, die die schmerzenden, roten Druckstellen erzeugt hatten – und gleichzeitig kam wieder die Atemnot, der Druck auf der Brust. Dann war der da, den sie aus ihrem Kopf heraushalten wollte. Der, der auf ihrem Rückgrat kniete und ihr die Luft wegpresste. Er saß plötzlich vor ihren Augen, durch den Riss im Vorhang musste sie ihm zuschauen. Eisige Kälte breitete sich über ihren Körper aus.

Eine Fotorunde noch. Und was dann?

Udo kam zu ihr. „Sag den anderen, die beim Filmprojekt mitmachen, dass es Zimmer gibt – und morgen Abend ist ein Auftritt geplant.“ Dann lief er weiter. Ende der Durchsage, sie hatte keine Ahnung, wo die Zimmer waren.

Wer war wohl bei dem Projekt dabei, und wo konnten Zimmer sein? Sie suchte Rod im Saal, ließ den Blick über die betriebsamen Menschen im Licht gleiten, bis sie ihn gefunden hatte. Dann kroch sie schwerfällig von dem Hocker und versuchte, einen geraden Schritt vor den anderen zu setzen. „Udo sagt, wir sollen allen, die beim Filmprojekt mitmachen, sagen, dass es Zimmer gibt, und morgen Abend ist Auftritt. Ich kann nicht – muss zum Foto. Wo sind denn die Zimmer?“

„Zimmer sind oben.“ Rod eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Wo oben? Zimmer klang wie Ruhe, wie Schlaf, aber sie wusste es, sie konnte noch nicht nachlassen, noch nicht dem schmerzenden Körper nachgeben. Wo genau war oben? Kein Mensch würde dafür sorgen, dass sie das Zimmer fand. Sie musste sehr genau darauf achten, wo die anderen hingingen, damit sie nicht vergessen zurückblieb.