Buch lesen: «Pralinen unter Palmen», Seite 3

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Scheinbar ging es in dieser sternenklaren Nacht einer anderen Person nicht anders als mir in Punkto Schlaflosigkeit, denn ich erhielt gegen drei Uhr eine Nachricht über eBay bezüglich meiner gerade eingestellten Anzeige:

Hallo, ich bin stark an dem Ring interessiert. Können Sie mir ein Foto vom Echtheitszertifikat zusenden? Bitte teilen Sie mir auch schnellstmöglich Ihre Bankverbindung mit. Ich würde sofort bezahlen, es eilt. Gruß N.

Da wollte wohl jemand Hals über Kopf auf die Knie fallen und um eine Hand anhalten?

Ich lachte laut auf, denn ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort auf die alberne Anzeige gerechnet. Das gab’s doch nicht. Zum Glück war ich ein bizarrer Mensch und trug das besagte Zertifikat seit der Verlobung stolz in meinem Portemonnaie mit mir herum, um es allen zu zeigen, die meinen Ring bewunderten.

Schnell stand ich auf und lief barfuß im Dunkeln zu meiner Tasche. Der Fußboden war eiskalt und ich schauderte. Ich beeilte mich, um mich vor dem Tod durch Erfrieren zu schützen und lief mit dem Zertifikat in der Hand schnurstracks wieder zurück in mein altes Kinderzimmer.

Dort angekommen, schaltete ich die Nachttischlampe ein und krabbelte eilig unter die noch warme Bettdecke. Konzentriert fotografierte ich ein paar Mal das Zertifikat ab, bis alles deutlich zu erkennen war. Ich sendete dem Interessenten das Foto und die gewünschten Daten zu. Zum Preis hatte er sich nicht geäußert. Er würde doch nicht wirklich so viel zahlen wollen? Oder etwa doch?

Nun konnte ich erst recht nicht schlafen und wartete gespannt auf eine weitere Nachricht, die prompt kam:

Danke für die zügige Antwort. Alles in Ordnung. Ich überweise Ihnen den gewünschten Betrag genau in diesem Moment und verlange dafür, dass sie mir den Ring samt Zertifikat gleich morgen als Eilsendung zukommen lassen. N.

Hatte die Person das tatsächlich geschrieben, oder träumte ich?

Manche Menschen hatten vielleicht Nerven und einen Umgangston, dachte ich mir. Aber bei dem großen Geldbetrag war mir das herzlich egal. Wenn es tatsächlich ernst gemeint war und ich morgen den beachtlichen Geldbetrag auf meinem Konto vorfand, war ich reich!

Mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein, als sich mein Vater bereits auf den Weg zur Arbeit machte.

1. März

Nach der größtenteils durchwachten Nacht war ich unheimlich froh, dass meine Mutter mich am nächsten Morgen solange in den Federn liegen ließ, wie es mir beliebte.

Auch an diesem Tag wurde ich sanft durch warme Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht geweckt. Aber heute wusste ich sofort, wo ich mich befand. Und noch ein Lichtblick erhellte den Start in den Tag – ganz im Gegensatz zu gestern begrüßten mich keine dumpfen Kopfschmerzen. Das war doch schon mal ein Anfang, sagte ich mir, setzte mich auf und drückte die blanken Füße in den lilafarbenen Plüschteppich, der seit Jahren vor dem Bett lag.

Dann fielen mir die Szenen der vergangenen Nacht mit einem Schlag wieder ein und ich sprang putzmunter und äußerst beherzt auf. In Sekundenschnelle hatte ich mein Handy in der Hand und erschrak beim Blick auf die Uhrzeit. Es war schon beinah Mittag. Kein Wunder also, dass die Mittagssonne mich aus dem Winterschlaf geholt hatte.

„Dann ist das wohl die Stunde der Wahrheit“, flüsterte ich, als ich das Online-Banking gespannt öffnete. Es lud und lud, bis … „Ich glaub es nicht.“

Ich hatte doch tatsächlich das Geld erhalten, stellte ich an meinem Kontostand fest. Glaubte man sowas? Ich war reich. Wie hieß es doch so schön? Pech in der Liebe, Glück im Spiel? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt?

Vor lauter Freude hüpfte ich ungestüm in meinem ehemaligen Kinderzimmer auf und ab, warf Britney an den Wänden Kussmünder zu (die hing ja eh nur ab) und kreischte wie ein verliebter Teenie während eines Justin-Bieber-Konzerts. Offenbar veranstaltete ich solch einen Lärm, dass es keine zwei Sekunden dauerte, bis die Tür aufgerissen wurde und meine Mutter atemlos auf der Schwelle stand.

„Katharina, was ich denn los, um Himmels Willen“, rief sie verärgert.

Ertappt hielt ich inne.

„Ich hoffe, du hast nicht deine alten CDs entdeckt und führst einen Tanzwettbewerb auf. Unten bebt ja die Lampe an der Decke. Du weißt, wie ich das finde.“

Peng, fühlte ich mich sofort in meine Jugendzeit zurückversetzt. Es bedeutete nie etwas Gutes, wenn Eltern dich bei deinem vollen Namen nannten. Jedoch erhellte sich Mutters eben noch vorwurfsvoller Gesichtsausdruck, als sie meine freudige Miene sah. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich aufgehört hatte zu zappeln.

„Hat Mike sich etwa gemeldet? War alles ein Missverständnis“, forschte sie neugierig nach und streckte das Kinn vor.

Naja, nee. Was dachte sie denn? Was konnte an dem Gesehenen ein Missverständnis sein? Die Lage war eindeutig. Eindeutig nicht zu Gunsten meines Verlobten. Und warum musste sie davon eigentlich wieder anfangen.

Meine Mundwinkel sanken um sage und schreibe dreißig Zentimeter nach unten. „Nein und nein. Natürlich nicht“. Fest nahm ich mir vor, meine Laune nicht beeinträchtigen zu lassen und ab heute auf der Glückswelle zu schwimmen. Ich setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und zog die Schultern zu den Ohren. „Mike Wer?“

Dafür erntete ich einen todernsten Blick.

Ich strich mir die vom Hopsen wild gewordenen Haare hinter das Ohr, obwohl sie sofort in ihre Ausgangsposition zurücksprangen.

„Mutti, Planänderung für heute. Hast du nochmal Klamotten für mich?“ Ich klatschte in die Hände, voller Tatendrang und Euphorie. Ich war reich!

Eine Hand noch auf der Türklinke, betrat meine Mutter nun doch den Raum und blieb unmittelbar vor mir stehen. „Katharina, hast du etwa wieder getrunken? Hauch mich mal an.“

Manchmal musste man sich doch echt fragen! Beschwichtigend streckte ich beide Hände vor mir aus und versicherte ihr: „Stocknüchtern. Hör mal, ich mache mich jetzt fertig und dann müssen wir eiligst zur Post, frühstücken und shoppen gehen“. Damit scheuchte ich meine verwunderte Mutter aus dem Zimmer.

„Ich verstehe nicht…“, startete sie einen zweiten Versuch, mich zu durchschauen.

„Wir treffen uns gleich unten. Ich erzähle dir alles, wenn wir unterwegs sind, OK? Wir sind etwas spät dran.“

Dann düste ich in Windeseile in Richtung Badezimmer an ihr vorbei.

Meine Mutter wartete mit säuerlicher Miene bei einer Tasse Kaffee in der Küche auf mich, als ich frischgeduscht und in ihrer Jeans und ihrem Sweatshirt wiederauftauchte. In diesem Augenblick war ich froh, dass wir die gleiche Kleidergröße besaßen und ich nicht nackt oder in den stinkenden Klamotten von vorgestern vor die Tür musste.

Da ich nur mit dem Fahrrad hier war, stellte sich gar nicht erst die Frage, wer heute Chauffeur sein würde. Meine Mutti war an der Reihe, diese Aufgabe zu übernehmen.

Keine vierzehn Minuten später düsten wir los.

Zuerst sprang ich vor der Postfiliale aus dem Auto, während meine Mutter geduldig bei laufendem Motor auf mich wartete. Ich gab das Päckchen mit dem Ring für Herrn oder Frau Schroff als Eilsendung auf und flitzte zurück zum Auto. Es konnte weitergehen!

Jetzt begann der spaßige Teil des Tages. Meine Mutter hatte, wie immer, gut mitgedacht und fuhr extra in ein abgelegenes Lokal, wo ich sie zu einem späten Frühstück oder vielmehr Mittagessen einladen wollte. Sie wusste, dass Mike oder Anna uns an diesem Ort niemals über den Weg laufen würden.

Wir nahmen an einem winzigen Tisch am Fenster Platz.

„Such dir was Schönes aus. Ich lade dich ein“, weihte ich Mutter in meinen Plan ein.

Das kleine Café war nicht sonderlich gut besucht, sodass wir unsere Bestellung sofort aufgeben konnten und in Windeseile bedient wurden. Als die freundliche Kellnerin einen grünen Salat für meine Mutter und eine Tomatensuppe für mich serviert hatte, unterbrach mein Gegenüber sogleich die gefräßige Stille am Tisch.

„Na dann schieß mal los. Was ist der Anlass?“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Sonst lädst du mich nie ein. Gibt es weitere Nachrichten? Bist du zu allem Übel etwa ausgerechnet jetzt schwanger?“ Sie verschluckte sich beinah vor Schreck.

Reg dich nicht auf, dachte ich, du wolltest dir einen netten Tag mit deiner Mutter machen und sie nicht erwürgen. Angespannt entfaltete ich meine Serviette und legte sie mir auf den Schoß. Dabei ließ ich mir Zeit, um meine Antwort möglichst schonend zu formulieren. Dann blickte ich auf und sah in das Gesicht, das meinem so sehr ähnelte.

„Nein, du kannst dich abregen. Natürlich bin ich nicht schwanger.“ Sie hatte mir schließlich oft genug eingetrichtert, dass eine Verhütungsmethode nicht ausreichte. Doppelt hielt bekanntlich besser.

Ich stützte die Hände auf den Tisch.

„Ich möchte mich nur dafür revanchieren, dass ich vorerst bei euch untergekommen bin. Und ...“ Ich machte eine Kunstpause, um mir ihre volle Aufmerksamkeit zu sichern. „... ich habe gestern Abend meinen Verlobungsring verkauft. Für sage und schreibe 3.500 Euro.“

Zur Untermauerung des Gesagten klopfte ich auf die Tischplatte. Mein Gesicht glühte vor Freude und ich wurde bei dem Gedanken an so viel Geld wieder ganz aufgeregt.

Mutter jedoch sah mich an, als hätte ich von ihr verlangt, dass mich dieses Jahr der Weihnachtsmann wieder beschenken sollte.

Den Ring“, fragte sie mit einer extra großen Portion an ungläubigem Unterton, als sie die Sprache wiedergefunden hatte.

Sie liebte den Klunker noch mehr als ich und hatte allen Nachbarn, Verwandten, flüchtigen Bekannten und völlig Fremden lang und breit davon erzählt. Sie gehörte eindeutig zu den Menschen, die Bling-Bling mit Liebe gleichsetzten. Wenn dein Mann dich wirklich liebte, verwöhnte er dich mit materiellen Dingen. In ihren Augen war das ein Garant für seine Hingabe und eine langanhaltende Beziehung. Aber auch meine Mutter konnte sich mit Sicherheit mal irren.

„Katharina, das hast du nicht wirklich getan.“

Das war eine rhetorische Frage. Als ich nicht antwortete, setzte Gewissheit ein. Ihre Augen wurden immer runder, als sie an meinem Gesichtsausdruck keinerlei Anzeichen für einen Scherz entdeckte und realisierte, dass ich es ernst meinte.

„Nun…“, forderte sie mich zu weiteren Ausführungen auf. Dabei zog sie ihre rechte Augenbraue in die Höhe, sodass diese sich beinah in Stirnmitte befand. Ob ich ihr zum nächsten Geburtstag einen Botox-Gutschein schenken sollte? Immerhin hatte sie die Hälfte der Falten wegen mir.

Ich mochte auf keinen Fall in Erklärungsnot kommen, also fuhr ich fort: „Naja, mir fiel gestern Nacht auf, dass ich den verfluchten Verlobungsring noch trug. Also wollte ich ihn kurzerhand entsorgen, aber dann kam mir eine bessere Idee.“

Bei dem Gedanken daran, grinste ich hämisch. „Ich habe ihn bei eBay angeboten und dazu einen schnittigen Text über Mike verfasst, weil ich so wütend war – streng genommen immer noch bin.“ Nicht abschweifen, ermahnte ich mich. „Ich habe doch nicht wirklich geglaubt, dass sich jemand auf die Anzeige meldet. Und schon gar nicht für den hohen Preis“, endete ich und wedelte aufgeregt mit den Händen durch die Luft.

Der entgeisterte Gesichtsausdruck meiner Mutter veränderte sich während der ganzen Geschichte nicht. Wenn überhaupt, versteinerte sich ihre Miene zusehends, passend zu ihrer Körperhaltung. In ihren Augen war ich komplett durchgedreht.

Darum holte ich erneut aus: „Versteh doch mal, ich kann das Ding nicht tragen und immer an Mike erinnert werden. Ich sehe jedes Mal seinen nackten Hintern über Anna hängen.“

Bilder im Kopf hervorzurufen konnte nicht schaden, um meine Tat zu rechtfertigen und meiner Mutter die Motivation begreiflich zu machen.

„Weißt du, ich wollte ihn auch verletzen. So schlimm, wie er mich getroffen hat. Ich ahne doch genau, wie hart er gearbeitet und wie viele Überstunden er gemacht hat, um sich den Brilli überhaupt leisten zu können.“

Ich hoffte, endlich zu ihr durchgedrungen zu sein.

Das Gesicht meiner Mutter entspannte sich merklich und ihr Ausdruck wurde milder. Aber sie wäre nicht sie, wenn sie jetzt aufgeben würde. Sie versuchte es wieder: „Dann hättest du den Ring doch erstmal in irgendeine Schublade tun können. Da siehst du ihn nicht.“

Das konnte doch nicht wahr sein? Konnte sie mich nicht einfach in den Arm nehmen, pusten und mir sagen, dass gleich wieder alles gut sein würde? Warum war sie denn bitte schön auf Mikes Seite? Er war doch der Schuldige in dem filmreifen Szenario?

Langsam wurde es mir echt zu bunt und ich sprang auf.

„Du willst mich nicht verstehen oder“, fauchte ich sie leise über den Tisch hinweg an. Ich schob meinen Suppenteller abrupt von mir weg und der rote Inhalt schwappte über den Tellerrand hinaus, bis er in einem großen Klecks auf der Tischdecke landete. Meine gute Laune ging langsam, aber sicher, den Bach herunter.

„Warum sollte ich den Klunker aufheben? Ich werde ihn nie wieder tragen können. Und warum auch? Mike hat unseren Traum zerstört und auf unsere gemeinsame Zukunft geschissen.“ Dabei erhob sich meine Stimme mit jedem Wort, sodass sich die Leute an den umliegenden Tischen nach uns umdrehten.

Als ich die neugierigen Blicke und meine aus Frust aufsteigenden Tränen (hello again!) bemerkte, setzte ich mich lieber wieder an meinen Platz. Um mich abzulenken, wischte ich wie verrückt mit meiner Serviette an dem Suppenfleck herum. Ich rubbelte die Stelle noch, als die Tischdecke längst die Farbe der Serviette abgenommen hatte.

Währenddessen holte meine Mutter ein paar Mal tief Luft. Sie wollte etwas sagen, aber ich merkte an ihrer Schnappatmung, dass sie sich auf die Zunge biss. Stattdessen winkte sie schließlich die Bedienung heran und bestellte für mich ein Schokoladeneis mit extra viel Schokosoße. Das war ihr erster Schritt in Richtung Versöhnung, indem sie Papas Taktik aufnahm. Kein schlechter Schachzug, denn Zuckerhaltiges beruhigte mich nun mal am besten.

Eine Szene im Restaurant war Mutters schlimmster Albtraum, da fütterte sie lieber das Kind kugelrund.

Die Überbleibsel meiner mittlerweile kalten Suppe blieben unberührt auf dem Tisch stehen. Dafür löffelte ich das himmlische Eis in Rekordschnelle restlos auf und kriegte mich wieder ein. Meine Mutter sprach weiterhin nicht mit mir, aber ihr brannte etwas auf der Zunge.

Erst als wir wieder angeschnallt im Auto saßen und sie keine weitere Szene meinerseits zu befürchten hatte, traute sie sich, mir ihre Überlegungen mitzuteilen. „Ist die Reise auf deinen Namen gebucht? Dann spricht absolut nichts dagegen, dass du fliegst. Ihr habt so eisern gespart und euch gefreut. Lass dir deine Träume und dein Leben nicht von einem Dummkopf kaputt machen“.

Wow, hatte sie das wirklich gesagt oder saß ein Alien neben mir? Es war, als kam plötzlich die über Jahre zurückgehaltene Nettigkeit mit einem Male zum Vorschein.

„Du verdienst es, glücklich zu sein“, setzte sie nach und drückte sanft, aber kurz meine Hand. So einen Gefühlsausbruch hatte ich bei meiner Mutter noch nie erlebt.

Für eine Sekunde dachte ich fieberhaft nach. „Klar, den Urlaub habe ich gebucht. Du glaubst doch nicht, dass Mike mit im Reisebüro war. Sowas überlässt er doch mir. Bezahlt ist auch alles bis auf den letzten Cent.“

Ich dachte laut nach und begann, in meiner riesigen Handtasche zu wühlen. Ja, Frauen und ihre Überlebensbeutel.

„Und in weiser Voraussicht habe ich die Reiseunterlagen schon eingesteckt, als die mit der Post kamen, damit ich auch bloß nichts vergesse. Und meinen Reisepass.“ Triumphierend zog ich die zerknitterten Dokumente hervor, blätterte kurz darin herum, stellte fest, dass alles da war und ließ alles wieder in meiner Tasche verschwinden.

Neurosen waren manchmal unheimlich praktisch.

Es wäre so verdammt einfach, morgen in den Flieger zu steigen und alles hinter mir zu lassen. Sollte ich oder sollte ich nicht? Sollte ich oder sollte ich nicht? Ich sollte es tun. Mike würde schon sehen, was er davon hatte, mich zu betrügen. Doch, ich sollte nicht alles kaputt denken und es einfach tun. Sonnencreme hatte ich ja genug, daran sollte es nicht scheitern.

Derweil musterte meine Mutter mich eingehend, konnte aber keinen Grund zur Besorgnis feststellen. „Also, was sagst du“, wollte sie wissen.

„Du hast Recht. Ich lasse mir die Reise nicht entgehen.“ Das war das erste und einzige Mal, dass ich ihr Recht gab, schwor ich und stopfte meine widerwillige Handtasche zwischen meine Füße. „Lass uns shoppen gehen. Ich brauche Bikinis, Koffer und Strandklamotten“, kreischte ich.

Sofort war mir leichter ums Herz. Ich schob es gerne vor mir her, Entscheidungen zu treffen und machte mir dann permanent Gedanken darüber.

„Du willst alles kaufen? Was ist denn mit deinen Sachen? Wollen wir nicht lieber bei dir zuhause anhalten und abholen, was du brauchst“, schlug Mutter vor.

„Nein, da kriegen mich keine zehn Pferde hin.“ Wenn das ein Neuanfang werden sollte, musste ich konsequent sein. „Neustart heißt auch neue Klamotten“, verkündete ich laut und freute mich zugegebenermaßen fast ein wenig auf mein neues Leben.

Ohne mich oder meine Verfassung weiter zu hinterfragen, startete meine Mutter den Motor und reihte ihren kleinen Flitzer in den Verkehr ein.

Am Einkaufstempel angekommen, stellte meine Mutter das Auto im Parkhaus akkurat in einer engen Lücke ab. Eines musste man der Frau lassen, einparken konnte sie.

Ich war unheimlich froh, sie bei meinem heutigen Vorhaben dabei zu haben, denn sie wurde – ganz im Gegensatz zu Anna und mir – nie müde beim Shoppen und war allzeit bereit für das nächste Schnäppchen. Ihr liebstes Hobby war es, stundenlang durch die Läden zu ziehen, vollbepackt mit Bügeln in der Garderobe zu verschwinden und alles anzuprobieren, was ihr zwischen die Finger kam.

Papa hatte es vor langer Zeit aufgegeben, sie vom Geld ausgeben abhalten zu wollen oder sie zu begleiten, verfügte er doch nicht über dieselbe Ausdauer. So lebte er ruhiger.

Zusammengefasst hatte es also einen Grund, dass die Frau einen Kombi fuhr. Den Platz brauchte sie.

Und auch ich hatte heute vor, viel Geld auf den Kopf zu hauen und mehr zu kaufen als jemals zuvor. Die Voraussetzungen dafür waren jedenfalls erfüllt. Ich war guter Dinge, hatte einen Profi an meiner Seite und ein volles Bankkonto. Was konnte schon schief gehen?

Kaum sah meine Mutter die ersten Geschäfte, war sie nicht mehr zu bremsen. Früher hatte mich ihr Elan total genervt, heute jedoch steckte mich ihr Shoppingwahn regelrecht an. Zum ersten Mal musste ich dabei nicht auf das Geld achten und konnte kaufen, was ich begehrte. Auch der Gedanke, Mike eins auszuwischen, ihn zu bestrafen und ohne ihn zu verreisen, machte mich beinah glücklich und füllte mich mit neuer Energie und Zuversicht.

„Kati, nun schleich doch nicht so“, rief Mutter mir zu und winkte aus fünf Metern Entfernung. Es war faszinierend, dass sie ausgerechnet beim Shopping ihre chronischen Knieschmerzen vergaß und rennen konnte, wie ein junges Reh.

„Wo willst du zuerst rein? Schuhladen?“ Ich hatte die Distanz zwischen uns fast aufgeholt, da sprintete sie, ohne eine Antwort abzuwarten, schon wieder los und murmelte: „Ja, Schuhladen. Da gibt es doch auch Koffer.“ In einem Affenzahn bog sie in den Laden ab. „Und Schuhe natürlich.“

Natürlich, darum hieß es Schuhladen, dachte ich und beeilte mich, hinterherzukommen.

Als ich sie schließlich eingeholt hatte, hielt sie mir schon ein paar Stiefel unter die Nase.

„Mutti, ich fahre an den Strand. Brauche ich dort Stiefel?“ Ich rollte mit den Augen. Das konnte heiter werden.

„Die sind für mich“, antwortete sie, während sie den Karton aus dem Regal zuppelte und nach einem Stuhl zum Anprobieren Ausschau hielt. „Dass du keine Stiefel brauchst, weiß ich.“ Sie setzte sich und streifte ihre Schuhe von den Füßen. „Obwohl ich mich an deiner Stelle für den Flug nach etwas bequemen umschauen würde.“

Ich gab auf, schüttelte den Kopf und lief ziellos durch die Gänge. Schnell stellte ich fest, dass es ungünstig war, im Winter nach Sommerschuhen zu suchen.

Während Mutter also nach Herzenslust für sich einkaufte, machte ich mich auf die Suche nach einer Verkäuferin und wurde in der letzten Ecke des Schuhladens fündig. Dort standen nämlich gleich drei von ihnen zusammen, hatten die Köpfe zusammengesteckt und erzählten leise miteinander.

Ich näherte mich ihnen und räusperte mich laut, um sie auf mich aufmerksam zu machen… und erhielt nicht den Hauch einer Reaktion.

„Entschuldigung“, versuchte ich es weiter. „Wenn es keine Umstände macht, benötige ich kurz Ihre Hilfe.“

Die drei jungen Frauen sahen zu mir. Ihre Blicke verrieten eindeutig, dass es sehr wohl Umstände machte, wenn ich sie beim Lästern unterbrach.

Ohne mich davon beirren zu lassen, nutzte ich die entstandene Stille aus und fuhr fort: „Ich fahre morgen in den Sommerurlaub und brauche unbedingt Sommerschuhe und einen großen Koffer.“ Selbstbewusst und unnachgiebig. Das war mein neues Ich.

Eine der drei Damen wandte sich sofort ab und begann, Schuhkartons in die Regale zu schieben. Die beiden anderen tauschten einen genervten Blick und drehten sich zu mir.

„Es tut mir leid, aber die Sommerkollektion kommt erst in ein paar Monaten rein“, stellte dann die eine fest.

Es tat ihr definitiv nicht leid. Sie warf mir einen jener Blicke zu, der deutlich machte, dass sie an meiner Intelligenz zweifelte.

Ich reckte mein Kinn in die Höhe und sagte freundlich: „Dessen bin ich mir durchaus bewusst, aber mein Verlobter hat mich vor zwei Tagen, quasi genau vor unserer Hochzeitsreise, betrogen. Nun stehe ich ohne alles da, weil ich ihm in der Verfassung nicht gegenübertreten kann, um meine Sachen zu holen.“ Ich holte tief Luft. „Wenn das kein guter Grund für neue Schuhe ist, weiß ich auch nicht.“

Man konnte doch ruhig mal die Mitleidskarte ausspielen, oder?

Ich zog eine Schnute und hoffte, dass mir nicht wieder die Tränen kommen würden.

Plötzlich kam Leben in die beiden Verkäuferinnen. Sie warfen sich verschwörerische Blicke zu. Verstanden die sich ohne Worte, rätselte ich, bis die eine meine Gedanken unterbrach. „Folgen Sie mir bitte nach vorne, dann zeige ich Ihnen die Koffer, die wir hier haben. Meine Kollegin wird im Lager nachsehen, ob vom letzten Jahr noch Reste an Sommerschuhen da sind. Welche Größe benötigen Sie?“ Im Laufen begutachtete sie meine Hobbitfüße. „36, nehme ich an.“

Wow, sie war gut!

Ich nickte nur und beeilte mich heute schon zum zweiten Male, jemandem nachzulaufen. Wie nett Menschen doch sein konnten, wenn sie mitfühlten.

Als wir vorne neben der Kasse ankamen, zeigte mir die junge Verkäuferin mit einem strahlenden Lächeln die Reisetaschen und Koffer.

„Ist für Sie etwas dabei“, fragte sie mich nach einigen Minuten der Stille.

Nach eingehender Betrachtung der Auswahl zeigte ich auf den einzigen auffälligen Koffer. Den würde ich am Flughafen auf dem Kofferband sofort erkennen, denn er hatte ein Giraffenmuster. Die anderen Reisetaschen in Blau und Schwarz würden mir bei meinem Glück fünf Mal vor der Nase entlangfahren, bevor ich sie erkannte.

„Der Giraffenkoffer soll es sein“, verkündete ich und zeigte notfalls noch mit dem Finger darauf.

„Gute Wahl“, gratulierte mir die Verkäuferin zu meiner Wahl und brachte den Koffer sofort für mich zur Kasse.

In diesem Augenblick kam schon die andere Frau mit zwei Kartons unter dem Arm aus dem Lager zurück.

„Schauen Sie mal, ich habe noch was gefunden“, strahlte sie mich an.Sie überreichte mir die beiden Kartons. In dem oberen befanden sich dunkelgrüne Keilsandaletten, die schon mal nicht schlecht waren. Der Inhalt des unteren Kartons gefiel mir nicht so besonders. Es handelte sich um schwarze Ballerinas mit pinkfarbenen Strasssteinen. Trotzdem probierte ich beide Paare an.

„Flipflops oder ähnliches haben Sie nicht zufällig auch noch da“, fragte ich vorsichtshalber nochmal nach.

Das Strahlen der Verkäuferin erlosch und sie schüttelte bedauernd den Kopf.

„Gut, dann nehme ich die beiden und den Koffer“, beschloss ich und übergab ihr die beiden Schuhkartons. Ich bezahlte und gerade als ich meine Mutter suchen wollte, kam auch sie mit ihrer Ausbeute um die Ecke.

Mein Vater würde vor Freude Luftsprünge vollführen. Noch mehr Treter.

Während sie zahlte, verstaute ich meine Schuhe in meinem schicken neuen Koffer.

Die nächste Station führte uns in ein Unterwäschegeschäft.

Hier bekam ich die volle Aufmerksamkeit der elegant gekleideten älteren Verkäuferin – auch ohne meine Geschichte erzählen zu müssen. Das lief doch wie am Schnürchen. Okay, der Laden war zugebenermaßen auch gähnend leer. Aber ich ließ mir meine positive Einstellung bestimmt nicht verderben.

Wir fanden einen hübschen Bikini mit Perlen, den ich gleich in Türkis und bunt gemustert kaufte, weil er optimal saß. Außerdem landeten diverse BHs, Slips und Dessous in meiner Einkaufstasche. Es kostete mich ein Vermögen, aber daran verschwendete ich keinen Gedanken und ließ meiner Einkaufswut freien Lauf.

„So eine Figur hätte ich auch gern nochmal“, zwinkerte mir die nette Verkäuferin zu, als wir das Geschäft verließen. Was hörte man lieber? Das war Balsam für die Seele.

Als wir pünktlich zur Schließzeit aus dem Parkhaus düsten, waren unsere Bäuche voller Eis und unsere Taschen platzten fast vor lauter Klamotten. Ich war eingedeckt mit langen und kurzen Hosen, Kleidern, Röcken, einer Lederjacke, diversen Tops und Shirts in verschiedenen Formen und Farben (bloß kein rot, dass biss sich mit meinen Haaren). Sogar neonfarbene Flipflops hatte ich in einem Billigladen bekommen.

Abgesehen davon, dass ich nach diesem Tag schlagalle war, stand der Reise morgen nun wirklich nichts mehr im Wege! Zum Glück hatte ich heute so viel geshoppt, dass ich für den Rest des Jahres keinen Fuß mehr in ein Einkaufscenter setzen musste.

Bei meinen Eltern angekommen, mussten Mutter und ich jeweils drei Mal vom Auto zum Haus laufen, um unsere Ausbeute auszuräumen.

„Uff“, machte sie, als sie sich mit ihren letzten prall gefüllten Einkaufstüten durch die Tür zwängte. „Bernd, hilfst du mir mal?“

Vater sah von seinem Kreuzworträtsel auf, die Lesebrille auf der Nasenspitze. Er schmunzelte und ergab sich seinem Schicksal. „Habt ihr den anderen Leuten denn wenigstens etwas übriggelassen?“

Er besah sich die Tüten, die sich im Flur stapelten und schob sie nacheinander mit dem Fuß vor sich her in die Küche. Sein Schmunzeln erstarb.

„Angelika, was habt ihr denn bloß alles eingekauft?“ Hilflos blieb er in der Küche neben all dem angeschleppten Krempel stehen.

Ich zog mich lieber zurück und beobachtete die Szene amüsiert aus einiger Entfernung. Ich wusste genau, was nun folgen würde.

Mutter legte ihre Handtasche auf das aufgeschlagene Kreuzworträtselheft und begann, in den Tüten zu wühlen.

„Krieg dich wieder ein, Bernd“, sagte sie, als sie eine dunkelblaue Bluse (wer hätte es geahnt) hervorzog und begutachtete. „Das war alles reduziert. Ich habe wahnsinnig viel gespart, ein Schnäppchen geschlagen sozusagen.“

Papa griff seine Nasenwurzel und drückte. „So kann man es sich auch schönreden.“ Er nahm die Hand aus dem Gesicht, aber es blieben rote Punkte links und rechts der Nase zurück. „Richtig gespart hättest du, wenn du gar nichts gekauft hättest.“

And here we go.

Mutter ließ die Bluse fallen und ihr Kopf schnappte herum. „Es ist mein Geld und damit kann ich ja wohl machen, was ich möchte.“

In diesem Moment hatten Papa und ich die gleiche Idee. Nämlich die Flucht zu ergreifen. Wir schlichen aus der Küche und ließen eine schnaubende Angelika zurück.

„Wir sagen ihr besser nicht, dass die Bluse aussieht, wie die zwanzig anderen, die in ihrem Schrank hängen“, flüsterte er verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand in meine Richtung.

Nach einem gemeinsamen Abendessen in absoluter Stille zog ich mich zurück in mein altes Kinderzimmer und packte vor Britneys Augen meine neuen Schätze aus – nur um sie anschließend im Giraffenkoffer zu verstauen. Normalerweise würde ich alle Klamotten vor dem Tragen waschen, aber dies war eine Ausnahmesituation. Da nahm man zusätzlich zu dem erwarteten Sonnenbrand auch ein wenig Ausschlag in Kauf.

Als die Nähte meines überquellenden Koffers beinahe platzten, war ich vollkommen zufrieden und überprüfte erneut, dass meine Reiseunterlagen, Zugtickets und der Reisepass vorhanden waren.

Meine Nerven meldeten sich langsam zurück, wenn ich an die morgige lange Reise dachte. Und das ganz ohne moralische Unterstützung und Beruhigung durch eine Begleitperson. Ich hoffte, dass alles wie geplant funktionieren würde. Trotzdem überwog letztendlich die Freude darüber, dem Winter zu entfliehen und der Sonne entgegenzufliegen.

Ich würde dieses einzigartige Erlebnis mitnehmen, auch ohne Mike! So konnte ich ihm – und vor allem mir – beweisen, was ich alles allein schaffte.

Um mich abzulenken, ließ ich den restlichen Abend gemütlich mit meinen Eltern im Wohnzimmer bei einer Runde Mensch-ärgere-dich-nicht ausklingen. Wir mussten meinen Vater dazu überreden, weil er generell immer verlor, doch mir zuliebe gab er rasch nach und fügte sich seinem Schicksal. Das Spiel machte Spaß, obwohl Mutter noch sauer auf ihn war und möglichst wenig sagte.

Ich verlor haushoch, das war neu. Nicht nur Pech in der Liebe, sondern jetzt auch im Spiel, dachte ich, als ich mich auf den Weg ins Bett machte. Hatte mich das Glück komplett verlassen?

Im Bett ließ ich den heutigen Tag noch einmal Revue passieren.

Ich hatte es genossen, unvernünftig zu sein und Geld auszugeben für Klamotten, die ich nach dem Urlaub vermutlich nie wieder aus dem Schrank holen würde. Sonst war ich die pflichtbewussteste Person weit und breit, denn a) ich konnte nicht ins Bett gehen, ohne mir vorher die Zähne zu putzen, b) ich holte beim Nachbarn abgegebene Pakete noch am selben Tag ab und überreichte als Dankeschön Pralinen, c) ich überwies meine Miete vorsichtshalber generell einen halben Monat zu früh, d) ich trank keinen Alkohol und e) ich entschuldigte mich bei jedem Käfer, den ich versehentlich mit dem Rad überrollte.

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