Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)

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Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)
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Kleine Edition 39

SAIDIYA HARTMAN

DIESE BITTERE ERDE (IST WOMÖGLICH NICHT, WAS SIE SCHEINT)

Aus dem amerikanischen Englisch von

Yasemin Dinçer


Diese Publikation wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Mitteln des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.


INHALT

Einleitung

Das Ende weißer Vorherrschaft, eine amerikanische Liebesgeschichte (2020)

Das Komplott zu ihrer Zerstörung (2020)

Der Bauch der Welt. Eine Anmerkung zu den Arbeiten schwarzer Frauen (2016)

Venus in zwei Akten (2008)

Text- und Bildnachweis, editorische Notiz


Arthur Jafa, AGHDRA (2021), Videostill

EINLEITUNG

In den letzten eineinhalb Jahren bin ich kaum gereist. Ich habe nahezu jeden Tag in meiner Wohnung verbracht, mit Ausnahme von ein paar Tagen im Sommer 2020, als ich mich mit zahllosen anderen auf der Straße versammelte, in einem weltweiten Kampf gegen Staatsgewalt, antischwarzen Rassismus, Kapitalismus, das monumentale Erbe von Sklaverei und Kolonialismus und den Mord an (cis und trans) Frauen. Die brutale Einsamkeit des letzten Jahres ist noch nicht beendet. Die Pandemie liegt noch nicht hinter uns. Die weltweite Zahl der Todesopfer überschreitet fünf Millionen. Die Erfahrung kollektiven Zusammenlebens, zufällige Treffen mit Fremden, die Fähigkeit, sich über die Grenzen des eigenen Zuhauses hinauszuwagen und zu einer Besucherin oder Ausländerin oder Touristin oder Reisenden an einem unbekannten Ort zu werden, zufrieden, auch ohne jemanden zu kennen, sind die unerreichbaren Vergnügen der vorpandemischen Welt. Tausende versammeln sich täglich an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten und haben keine andere Wahl, als sich der Gefahr einer Ansteckung und des Todes auszusetzen und die Bestrafung durch la migra zu ertragen.1 Millionen Menschen bleiben eingesperrt und isoliert in Gefängniszellen und sterben in noch nie dagewesenen Zahlen. In diesem Kontext ist die Arbeit der Übersetzung und die Fähigkeit von Ideen und Worten zu reisen ein notwendiges und lebenserhaltendes Geschenk. Wenn ich nur bei euch wäre – in einem globalen Lockdown ein unmöglicher Wunsch, eine vergebliche Sehnsucht, jedoch eine, die ihre Erfüllung findet in der spekulativen Arbeit der Übersetzung, die den Flieger oder die Brücke darstellt, die diese Zusammenkunft ermöglichen.

Mit großer Freude stelle ich diese Sammlung von Essays neuen Leser*innen vor. Die meisten Texte sind in den Jahren zwischen 2016 und 2020 entstanden, ein Zeitraum, der durch extreme Polizeigewalt, um sich greifenden Faschismus und die massiven Mobilisierungen und Proteste der Bewegung für schwarzes Leben gekennzeichnet ist. Diese Essays waren Reflexionen über die lange Geschichte der Unfreiheit und Experimente, die zu einer anderen Art und Weise führen sollten, schwarzes Leben zu schreiben und zu kennen. Gemeinsam ringen sie mit den Fragen: Wie ist schwarzes Leben im Kontext von Tod und Enteignung möglich? Wie kann man trauern oder wie trauert man tatsächlich in diesem unaufhörlichen Zustand verfrühten Todes? Welche Vision eines anderweitig könnte uns befähigen, zu leben und zu gedeihen? Wie können wir Freiheit auf dem Papier verfassen, sie auf den Straßen oder bei unserer Zusammenkunft am Fluss einstudieren? Angesichts der willkürlichen Gewalt der weißen Vorherrschaft, der Todesrate der Akkumulation, der Extraktion unserer Fähigkeiten zum Nutzen und Profit anderer, der Einfriedungen, die uns einsperren und festhalten, der Algorithmen und Taxonomien des Werts, die unsere Leben überflüssig machen, der „systemrelevanten“ Arbeit, die erschöpft und auszehrt, während sie die Welt am Laufen hält, angesichts all dessen, wie können wir uns da umeinander kümmern? Wie könnten wir dieser Welt ein Ende setzen und neue Regeln aufstellen? Gleicht diese unermüdliche Bemühung, eine neue Form der Existenz zu imaginieren, der Liebe? Oder ist Liebe schlicht ein Synonym für Abschaffung?2 Wie könnte gegenseitige Unterstützung eine neue Blaupause für das Mögliche liefern?

„Venus in zwei Akten“ ist der älteste dieser Essays. Er markiert den Beginn ausgedehnter Überlegungen zu Narration, Gegengeschichte, spekulativer Methode und kritischer Fabulation. Er war mein erster expliziter Versuch, die Themen von schwarzem Leben und sozialem Tod, Sklaverei und Freiheit gemeinsam mit formalen Fragen zu Plot, Zeitform, Dauer, Genre, Stimme, Narration und Methode zu behandeln. Die formalen und substanziellen Themen waren nicht voneinander zu trennen. Ich suchte nach einer Methode, die es Randfiguren, fühlenden Objekten und austauschbaren Personen erlauben würde, jene Einzäunungen des Denkens infrage zu stellen, die dieses Leben zum Rohmaterial der kapitalistischen Moderne machten, sie durch Beschreibung verdammten oder in erzwungenen Biografien und statistischen Tabellen entstellten, oder sie dazu nötigten, als Untertanen aufzutreten.

Seit der Veröffentlichung von Scenes of Subjection im Jahr 1997 bin ich besessen von Fragen des Archivs, des Schweigens, der Intransparenz, der Abwesenheit und des Nachlebens der Sklaverei sowie von der Arbeit der Erzählung und der Poesie, der Performance und der tagtäglichen Praxis, um diese Situation zu überwinden und ihr zu entkommen, um einen freien Zustand vorwegzunehmen und in ihm zu frohlocken. Kritische Fabulation hat mir einen Weg geboten, die Gewalt des Archivs zur Sprache zu bringen und seine Beschränkungen zu überschreiten. Diese Arbeit der imaginativen Rekonstruktion, der archivarischen Montage und Umstellung, des rekombinanten Narrativs, der spekulativen Geschichte und des personalen Erzählens sind zentral für meine Beschäftigung mit diesen Angelegenheiten und für meine Praxis als Autorin und Wissenschaftlerin.

Im Mittelpunkt der brutalen Geschichte der Welterschaffung stehen bei dem Gedankenexperiment, das sich über diese Essays hinweg entfaltet, die schwarze Frau* und ihre besondere Ungeschütztheit gegenüber den Zerstörungen der kapitalistischen Moderne, gegenüber der Erfahrung, als Fracht verschifft und geerntet, gezüchtet und gehandelt, ungeschlechtlich gemacht und ausgebeutet zu werden. Es widmet sich aber auch ihrer Fähigkeit, sich der auf geraubtem Land und geraubtem Leben errichteten Welt zu verweigern, ihr zu entkommen, sie zu zerstören und neu aufzubauen. Die Sammlung überschreitet die Grenzen der Genres, die Trennlinien zwischen Essay und Erzählung, Manifest und Fabel, Analyse und spekulativer Fiktion. Im Kern dieser wiederholten Beschäftigung steckt die Bemühung, die Position der Unbedachten, der Ur-Sklavin, des Inkubators zukünftigen Wachstums, des Eigentums des Herrn, des Werkzeugs des Arbeiters, der Aushilfe der Hausdame, des Maulesels der Welt, der verehrten und erniedrigten Schlampe zu artikulieren und alles wiederzugeben, was dem entkommt und darüber hinausgeht. Denn diese „sie“ ist die Matrix der Erschaffung und Zerstörung der Welt.

Saidiya Hartman, Herbst 2021

1La migra: Bezeichnung für die Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit der Vereinigten Staaten (ICE) (Anm. d. Übers.).

2Ich verwende hier Abschaffung für das englische abolition, was die vollständige Abschaffung eines Gesetzes oder einer Sitte bezeichnet. Im amerikanischen Kontext ist der Begriff eng verbunden mit der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, dem Abolitionismus, und findet Verwendung in politischer Theorie und im Aktivismus. (Anm. d. Übers.)


DAS ENDE WEISSER VORHERRSCHAFT, EINE AMERIKANISCHE LIEBESGESCHICHTE

Er beobachtet den Menschenstrudel, der sich entschlossen den Broadway entlangbewegt. Er kauert oben auf der Treppe und zögert vor dem Eingang, während die Kunden und Angestellten der Bank ihn im Vorübergehen streifen. Ein Nicken, ein bestätigender Blick, ein knappes Hallo, ein widerwilliges Anerkennen seiner Existenz bleiben aus. Auf der Straße wimmelt es von Menschen. Niemand würde bei einem flüchtigen Blick auf ihn einen Ausdruck wie „hoch aufragende Gestalt“ verwenden oder auch nur einen Augenblick mit der Frage vergeuden, welche Position er wohl bei der Bank innehat. Wörter wie untätig oder herumlungernd oder herrenlos oder unterwürfig streifen die trüben Ränder des Bewusstseins, latent und ohne die volle Aufmerksamkeit oder Absichtlichkeit von Gedanken, da die meisten Männer, die durch die Straßen des Finanzzentrums eilen, ihn kaum wahrnehmen. Nur wenige bemerkten ihn. Nur wenige bemerkten ihn auf eine Weise, die keinen Stich versetzte. Er war außerhalb der Welt – „nichts!“ Wenn ihre Blicke auf ihm landen, spürt er diese wie eine Klinge auf seiner Haut, und sein Körper weicht vor dem Angriff zurück, ahnt voraus, wo ein Schlag ihn treffen könnte, zuckt vor dem Tritt zusammen. Seine Haut ist zu einem Sensor geworden. Seine Muskeln sind angespannt.1 Die Entfernung zwischen dem Treppenabsatz und dem Gehweg ist nicht groß, dennoch bewohnt er eine Welt, und die weißen Männer in ihren Anzügen und Krawatten, die voranschreiten und zügig durch die Straßen laufen, existieren in einer anderen. Nein, es ist eher so, als wären sie in der Welt, und er wäre aus ihr vertrieben worden. (Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Gründe dafür zu erläutern oder eine biografische Skizze eines schwarzen Kuriers in New York zu liefern, oder eine große Theorie darüber, wie Menschen aus Afrika zunächst zu Gefangenen und dann zu Waren wurden, oder ausführlich die Formen der Knechtschaft zu beschreiben, die das schwarze Leben bestimmen, oder ein Bild der Einfriedung zu zeichnen, oder zu erklären, weshalb die Bank die Schwelle ist zu jenem Alles und Nichts, das der Negro, die pieza de India, der Leibeigene, das bewegliche Vermögen darstellen, die Varianten seiner Enteignung. Die Gründe darzulegen oder solche Fragen zu erörtern wäre verfrüht, solange noch nicht der Kontext der Geschichte genau bestimmt, ihr Autor erwähnt, ihre Figuren benannt, der Schauplatz arrangiert und der Plot in Gang gesetzt sind, und man würde damit riskieren, nur das Offensichtliche festzustellen: Er ist auf der Welt nicht zu Hause. Ich könnte das näher ausführen und zusätzliche Elemente liefern, zum Beispiel: Er wirkt so klein vor dem Hintergrund des großen Gebäudes, reduziert durch die Solidität und Masse der Granitstruktur und den Rahmen der riesigen dorischen Säulen, aber diese Einzelheiten werden in der Geschichte nicht genannt, daher könnten die Stufen genauso gut aus Beton und die Bank ohne Säulen sein, in welchem Fall die Mahagonitüren am Eingang genügen müssten, um die Erhabenheit von Kapital und Imperium heraufzubeschwören. Die Schifffahrtsgesetze, die internationalen Handelsabkommen, der Sklavenhandel, die Seeversicherung, das gestohlene Leben und Land: All das, was notwendig ist, um Mahagoni zu schlagen, Bäume zu fällen, sie nach Europa und Nordamerika zu transportieren und Türen anzufertigen, würde zurücktreten vor der Schönheit des dunklen Holzes und der polierten Messingarmaturen.2)

 

Sein Name ist nichtssagend und allgemein genug, um ein Pseudonym oder Deckname zu sein, ein Homonym für jedermann, das männliche besitzanzeigende Pronomen, das sogar dem Besitzlosen gewährt wird, ein Name, der einen zu niemandem macht. Außerdem ist der Name mit Bedeutung aufgeladen aufgrund der Reise eines anderen auf einem Floß den Mississippi entlang, in dem Versuch, in die Freiheit zu gelangen, aber in der falschen Richtung unterwegs. Jede Richtung ist die falsche Richtung, jeder Weg wird vereitelt und beugt sich dem Verrat. Selbst wenn er sich auf der Flucht befindet, selbst wenn er von den Strömungen des Flusses davongetragen wird, selbst wenn er noch so viele Flüsse überqueren muss, kann der Geflüchtete die Verachtung nicht abschütteln, die dauerhaft an dem Namen hängt wie ein grausamer Titel, eine brutale Anrede. Nigger Jim. Jim Crow. Crow Jim. Ein Name, der sich in Lesebüchern der ersten Klasse und in Kinderreimen wiederfindet: Him, Jim, Slim. Wie seine Namensvetter kämpft auch er sich nur mühsam durch, ist an Gewalt gebunden, Beleidigungen und Verletzungen ausgesetzt, und überlebt von einem Tag zum nächsten unter der Drohung des Todes. Nur schwer lassen sich all jene vergessen, die kaum erwarten können, dass er stirbt, die sein Verschwinden herbeisehnen und besessen davon sind, ihm selbst das Recht zu verweigern, in diesem geringeren Zustand zu existieren. (Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Geschichte nachzuerzählen oder die Reihe von Umständen zu beschreiben, die diese Negierung produzierten, oder um Begriffe einzuführen, denen jede Musikalität fehlt: Akkumulation (ursprüngliche oder wiederkehrende), Fungibilität, natale Entfremdung, Verwandtschaftslosigkeit. Nicht der richtige Zeitpunkt, um die Kräfte darzustellen, die ihn auf diese Stufen der Bank im Finanzdistrikt, dem räuberischen Herzen der Stadt, geführt und ihn in die untersten Tiefen verbannt haben, als nichts, als niemand. Nicht der richtige Zeitpunkt, um zu offenbaren, dass er, zum Stillstand gebracht auf den Stufen dieser Kathedrale des Kapitalismus, als wäre es die Kreuzung zwischen einem Dasein als Mensch und einem Dasein als überhaupt nichts, beinahe weinen könnte.)3


Du schaust mich an, aber du siehst mich nicht.

Wenn du es tätest, wäre es dir gleichgültig.4


Ich habe zu viel gesagt und bin zu weit abgekommen von ihm, wie er am späten Vormittag an der Ecke Wall Street und Broadway, nur ein paar Blocks entfernt von einem der ersten Sklavenmärkte von New Amsterdam, angespannt und ängstlich in die Welt hinausblickt. Ich bin abgeschweift von jenem speziellen Drama, das sich im Verlauf des Tages entfalten wird, wenn das Desaster eine Öffnung oder eine Nivellierung erzeugt, die ihm erlauben könnte, in seiner Haut zu atmen und aus der Einfriedung des Nichts und der Verachtung des Schwarzseins befreit zu werden.5 Kurz vor Mittag wird die Zerstörung der Welt ihm die Chance bieten, so menschlich zu sein wie andere Männer. Die unheimliche Strahlung und die Musik in Moll, produziert durch den Zusammenbruch der Ordnung, durch die Katastrophe, werden das Versprechen eines unangefochtenen schwarzen Lebens bieten.


Der Komet. Alle redeten davon. Sogar der Präsident [der Bank], als er ihm beim Hineingehen gönnerhaft zulächelte und ihn fragte:

„Na, Jim, hast du Angst?“

„Nein“, antwortete er kurz angebunden.

„Oh, da fällt mir ein, Jim“, wandte der Präsident sich erneut dem Kurier zu, „ich möchte, dass du heute in die Tresorräume im Keller hinuntergehst.“

Der Kurier folgte dem Präsidenten stumm. Natürlich wollte man ihn in die Tresorräume im Keller schicken. Für wertvollere Männer war es zu gefährlich.

Als er in den Untergrund hinabsteigt, hüllt ihn die gähnende Schwärze der inneren Kammer ein. Er findet die beiden Bände mit Aufzeichnungen und entdeckt eine eiserne Truhe, die mindestens hundert Jahre alt und zugerostet ist. Nachdem er das Schloss aufgestemmt hat, leuchtet ihm der matte Glanz von Gold entgegen. Die verlorenen Aufzeichnungen der Bank und ihre versteckte Beute, das weggeschlossene und vergessene Gold, entdeckt von einem Mann ohne Wert – all dies liefert eine klare Allegorie auf Kapitalismus und Sklaverei. Die Krypta beherbergt die Geheimnisse, das geleugnete Wissen und die fehlenden Bände, auf denen das große Finanzgebäude ruht, dieselbe Geschichte, die Jim in die Eingeweide der Erde verbannt hat.

Das in der stinkenden, schlammigen, nur von Ratten bewohnten Höhle gefundene Gold ist kein Gerüst für eine Geschichte über einen geborgenen Schatz oder eine Erzählung von einem Mann, dessen Schicksal sich durch Reichtum verwandelte. Dieses Tableau des Frachtraums, der verlorenen Aufzeichnungen, des Goldes und der Schwärze ist eine Urszene der Entstehung der Moderne. In diesem versunkenen Bereich ist Sklaverei die thematische Grundlage,6 auch wenn sie nicht explizit genannt wird. Sozusagen gefangen gehalten vom Kapital, wird er mit seiner Herkunft konfrontiert und verspürt den Stich der Erkenntnis, des unheimlichen Gefühls einer Äquivalenz oder Dopplung zwischen dem Gold in der Truhe und dem Schwarzen im Tresorraum, ein Zustand, den ein Philosoph als Pieza-Rahmen beschrieben hat: das Bewusstsein der eigenen Existenz als eine Sache, eine Ware, ein Wertverhältnis (und die Weigerung, dies zu akzeptieren).7

Boom! Die schwere Steintür der inneren Kammer fällt überraschend zu und schließt ihn ein. Nach gefühlten Stunden bekommt er sie endlich aufgestemmt und kann entkommen. Bei seinem Aufstieg aus dem Untergrund auf die Ebene der als wertvoll erachteten Männer und fähigen Arbeiter begegnen ihm die Leichname des Tresorwächters, des Sicherheitsdienstes, der Kassierer, der Buchhalter und dann des Präsidenten, der über seinem Schreibtisch zusammengesackt ist. Ein neuer Gedanke ergriff von ihm Besitz: Wenn man ihn hier allein fände – mit all diesem Geld und all diesen toten Männern –, was wäre sein Leben dann wert? Weniger als nichts. Es spielt keine Rolle, dass er nichts getan hat, seine Existenz allein macht ihn schuldig, und um die Sache noch zu verschlimmern, ist er am Leben, während weiße Männer tot sind. Als er heimlich aus der Seitentür der Bank tritt, voller Angst, für das Blutbad verantwortlich gemacht zu werden, sieht er die Toten überall, auf der Wall Street, auf dem Broadway. Es ist Mittag, doch die Welt ist vollkommen still.

Im Rinnstein liegt der Leichnam eines Zeitungsjungen. In seiner geballten Faust warnt die Mittagsausgabe zu spät vor der Zerstörung. Ein Komet ist durch die Atmosphäre der Erde gerast und hat giftige Gase freigesetzt, die die gesamte Bevölkerung von New York getötet haben. Die Welt ist tot.


Die hier nacherzählte Geschichte ist W.E.B. Du Bois’ „Der Komet“, eine spekulative Erzählung über das Ende der Welt, verfasst nach der Pandemie von 1918, nach dem Red Summer von 1919 und im Kontext von kolonialer Expansion und Grausamkeit. In diesem Klima schrieb Du Bois Darkwater, veröffentlicht 1920, vor genau einem Jahrhundert, und trotzdem wirkt das Buch noch immer vorausschauend. „Der Komet“ ist sein vorletztes Kapitel. Das Werk ist eine Sammlung von Geschichten, Essays, Gedichten, Gebeten, Liedern, Parabeln und Hymnen sowie eine Bestandsaufnahme der Gewalt (die das Weißsein, Lynchmorde, Knechtschaft, imperialen Krieg, die Verdamnis schwarzer Frauen, Kolonialismus, kapitalistisches Räubertum, aber auch Schönheit, Glück, Tod und das Erhabene untersucht). Der Tonfall dieser Zusammenstellung schwankt zwischen Wut und Verzweiflung, manche mögen sie gar als einen Urtext des Afropessimismus beschreiben, aber ihre Stimmung ist noch tragischer: Ihre hellen Momente sind gefärbt durch eine Sehnsucht nach einer messianischen Auflösung des Gegebenen, geschürt durch eine Vision vom Ende der Welt, das Geschenk von Glück und Zufall willkommen heißend und die Schönheit des Todes begrüßend. Was ist auch anderes zu erwarten nach Jahrzehnten des Schreckens und der Enttäuschung? Nachdem schwarze Frauen und Kinder und Männer ermordet, gelyncht, verstümmelt und in den Straßen von East St. Louis bei lebendigem Leib verbrannt worden sind, nachdem vier Jungen, die an einem Julinachmittag auf einem Floß auf dem Lake Michigan in das „Wasser nur für Weiße“ getrieben sind, Zorn und Rachsucht in ganz normalen weißen Bürgern entflammt haben, die sich rasch in einen unbändigen Mob verwandelten, einen der Jungen ermordeten und jeden schwarzen Menschen, der ihren Weg kreuzte, umbringen, verstümmeln und verletzen wollten. Darkwater ist eine rote Bilanz8 des modernen Weißseins im 20. Jahrhundert, eine Chronik der Siedlerrepublik und ihrer routinierten Gewalt, ein Atlas einer „Welt in Flammen“, eine Litanei für die Sklav*innen und Ureinwohner*innen, die durch die Herren aus Europa und der Neuen Welt ausgebeutet und ermordet wurden.

Die Grippepandemie von 1918 taucht in diesem Verzeichnis nicht auf. Vielleicht, weil Mikroben im Vergleich zu dem Blutvergießen des Roten Sommers harmlos wirkten. Oder weil es unter schwarzen Menschen in den Städten in jedem einzelnen Jahr zwischen 1906 und 1920 Todesraten gab, die der weißen Todesrate auf dem Höhepunkt der Pandemie gleichkamen.9

 

Als die Spanische Grippe sie erreichte, starben sie einfach in noch größerer Anzahl, aber sie hatten schon seit über einem Jahrzehnt eine Pandemie durchlebt. Du Bois widerstand dem Impuls, Sterblichkeit im Vergleich zu berechnen oder eine Tabelle der Toten zu erstellen, da es viel zu offensichtlich war. Er wusste, dass die Fakten des Schwarzseins, die Statistiken, die mathematischen Gleichungen und die Wahrscheinlichkeitsrechnungen nichts ändern würden.10 Man hatte sie in großer Anzahl sterben lassen, ohne dass jemals eine Krise ausgerufen worden wäre.

Inmitten der Pandemie dachte er noch immer an das Werk des Mobs, an East St. Louis, Brooks and Lowndes County in Georgia und das, was Walter Whites Artikel in The Crisis (September 1918) als den „Holocaust der Lynchmorde“ beschrieb. Der Mord an den Männern war brutal genug, aber was der Mob Mary Turner antat, war so abscheulich und die Details waren so grauenhaft, dass Du Bois als Herausgeber zögerte, sie zu veröffentlichen. Mary Turner hatte zu sagen gewagt, dass die Ermordung mehrerer Männer, unter ihnen ihr Ehemann, ungerecht sei und dass sie die Personen des Mobs, die ihren Ehemann gelyncht hatten, benennen und einen Haftbefehl gegen sie ausstellen lassen würde. In der Nähe der Brücke über den Little River wurde sie an einen Baum gehängt, mit Öl und Benzin überschüttet und angezündet. „Während sie noch am Leben war, wurde ein Messer, das offensichtlich ansonsten zum Aufspalten von Schweinen verwendet wurde, genommen, um der Frau den Bauch aufzuschlitzen, sodass ihr ungeborenes Baby aus der Gebärmutter auf den Boden fiel. Das Kind, vorzeitig zur Welt gekommen, gab zwei schwache Schreie von sich, worauf ein Mitglied des Mobs mit dem Stiefelabsatz seinen Kopf zerschmetterte. Dann wurden Hunderte Kugeln in den Körper der Frau abgefeuert, die nun glücklicherweise tot war, und die Arbeit war verrichtet.“ Du Bois glaubte daran, dass es wichtig sei, solche Geschichten zu erzählen. Im Rückblick erklärte er diese Entschlossenheit (den Glauben daran, dass intelligente Argumente und eine vernünftige Beurteilung den Rassismus besiegen könnten) damit, sich damals noch nicht mit der Psychoanalyse befasst zu haben. Er „war nicht freudianisch genug, um zu verstehen, wie wenig sich das menschliche Handeln auf Vernunft gründet“11, oder die tiefe psychische Beteiligung am Rassismus zu begreifen, die andere seitdem als die triebhafte Ökonomie einer antischwarzen Welt beschrieben haben.12 Er hatte angenommen, „die Mehrheit der Amerikaner würde sich zur Verteidigung der Demokratie erheben“, wenn ihnen bewusst würde, dass der Rassismus diese bedrohte, nicht nur für Schwarze, sondern auch für Weiße, „nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt“.

Während Pessimismus in diesem Klima kaum einer Begründung bedurfte, bemühte sich Du Bois, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die Welt neu gestaltet werden könnte, wie es möglich sein könnte, eine Hoffnung zu nähren, die nicht hoffnungslos, wenn auch ebenso wenig hoffnungsvoll war.13 „Der Komet“ ist eine spekulative Fiktion und eine Satire auf die gescheiterte Demokratie. Die Geschichte malt sich die Zerstörung der color line und ihrer Zuteilung von Leben und Tod aus, ihrer wahllosen Gewalt und ihres „Hangs, ohne jeden Grund zu morden“.14 Eine Umweltkatastrophe15 erzeugt diese radikale Transformation. Das Paradox besteht darin, dass das Aussterben der Menschheit eine Antwort und ein Korrektiv für das moderne Projekt des Weißseins liefert, das Du Bois definiert als den Besitz der Erde bis in alle Ewigkeit, den habgierigen Anspruch auf das Universum selbst. Der Würgegriff der weißen Herrschaft erscheint so unüberwindbar, so unendlich, dass seine einzige sichere Niederlage im Ende der Welt und im Tod des Menschen besteht. Weder Krieg noch Rechte konnten Sklav*innen erfolgreich in Menschen verwandeln oder den Rassismus auslöschen. Nach der Katastrophe darf der Kurier, der letzte schwarze Mann auf der Erde, zum ersten Mal als Mensch leben. „Ich bin am Leben, ich bin am Leben“, könnte er in die Straßen Manhattans hinausrufen, ohne sich vor Bestrafung oder Vergeltung zu fürchten. Er ist am Leben, weil die Welt tot ist.

In der zerstörten Welt erfährt er einen Zustand von Freiheit, den er nie zuvor genossen hat. In den Ruinen der Metropole kann er ein edles Restaurant betreten, das ihm oder jedem anderen Schwarzen einen Tisch verweigert hätte. Noch einen Tag zuvor wäre er dort nicht bedient worden, aber der Bruch zwischen der alten Welt und dem Jetzt bietet neue Möglichkeiten. Zum ersten Mal läuft er durch die Stadt, ohne jederzeit mit Gewalt oder Beleidigung zu rechnen. Es gibt keine weißen Bürger oder Polizisten, die seine Bewegung regulieren oder aufhalten könnten. Es gibt keinen anderen, der Anerkennung verweigern oder erteilen könnte, auch wenn sich das Gefühl, beobachtet zu werden, nur schwer abschütteln lässt. Bei einer anstrengenden Suche in Lower Manhattan kann er keine anderen Überlebenden ausmachen. Es ist ein Massensterben: überall standen, lehnten, saßen und lagen die Toten, in grimmigem und schrecklichem Schweigen.

Es fällt schwer zu glauben, dass alle tot sind. War niemand …? Er wagte es nicht, den Gedanken zu denken. Plötzlich blieb er stehen. Er hatte vergessen. Mein Gott. Wie konnte er nur vergessen?

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