Buch lesen: «Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse», Seite 3

Schriftart:

Krabbelgruppe
Juli 1998

Ich muss zugeben, ich hatte etwas Bauchschmerzen vor der ersten Mutter-Kind-Stunde, die ich in unserem Ort anbiete. Immerhin kamen mir vor einem halben Jahr noch regelmäßig die Tränen, wenn vor unserem Fenster ein Kind in Jacobs Alter vorbeihüpfte, während mein Ältester gerade übte, sich zum Stehen hochzuziehen.

Aber ich kann und will mich nicht mehr den ganzen Tag nur um die Behinderung meiner Kinder drehen. Ich brauche wieder eine Aufgabe, die mich herausfordert, ohne mich zu überfordern. Deshalb habe ich es gewagt, mit Cornelius eine Krabbelgruppe ins Leben zu rufen. Er ist jetzt etwas über ein Jahr alt, und der Kontakt mit anderen Kindern wird ihm gut tun. Mal sehen, was da sonst noch so auf mich zukommt.

Als erstes kommen fünf Mütter mit sechs Kindern auf mich zu. Clara ist acht Monate alt, Tobias fast drei. Tom, Lisa und Cornelius trennen gerade mal sechs Tage Altersunterschied. Eine Gruppe, mit der sich einiges anfangen lässt.

Nach der Vorstellungsrunde nehme ich den Spiegel und singe jedem Kind mein Begrüßungslied auf die Melodie von »Bruder Jakob«: »Guten Morgen, Lisa, Gott schuf dich, er hat dich sehr schön gemacht. Gott liebt dich.«

Hilfe! Auf Lisa trifft dieser Text natürlich vollkommen zu – aber auf Cornelius? Kann ich ihm wirklich zusingen, dass Gott ihn perfekt gemacht hat? Inklusive Wasserkopf und Knick-Senk-Füßen? Warum habe ich da nicht früher dran gedacht? Jetzt ist alles zu spät, ich werde es singen müssen.

Erst mal ist Clara dran. Auf ihrer Wange prangt ein dicker Leberfleck, und sie schielt deutlich. Ihre Mutter schaut mich schon vorher skeptisch an. Hat Gott Clara schön gemacht? Ich knie mich vor Clara hin, halte ihr den Spiegel vors Gesicht. Soll ich jetzt einfach singen? Nein, ich streiche ihr kurz über den Kopf und sage ein paar bewundernde Worte über ihre dichten schwarzen Locken. Die Mutter schenkt mir ein dankbares Lächeln. Ja, Claras Haare sind schön.

Tobias scheint mir überhaupt nicht zuzuhören. Während ich singe, rutscht er auf seinem Stuhl hin und her und bemalt gleichzeitig den Spiegel mit Spucke. Garantiert wird seine Mutter ihn demnächst wegen ADHS zur Ergotherapie kutschieren.

Jetzt zu Cornelius. Zwei braune Strahleaugen, hellblonde Haare, ein Babylachen, das jeden dahinschmelzen lässt. Würde man adoptionswilligen Eltern nur Fotos von Clara und Cornelius zeigen, sie würden sich sofort für meinen Jungen entscheiden. »Schön« ist er durchaus. Perfekt ist er nicht. Aber dass Gott ihn geschaffen hat und ihn liebt, trifft für Cornelius trotzdem genau so zu wie für Clara, für Tobias und jeden anderen Menschen. Gott sei Dank! Nach Clara und Tobias kann ich mein Liedchen auch für Cornelius aus voller Überzeugung singen.

Nach dem kurzen Programmteil setzen sich die Muttis zu Kaffee und Keksen an den Tisch. Für die Kinder schütte ich meinen Duplo-Sack aus. Freudiges Quietschen aus sechs Kehlen. Tom und Lisa rennen zu den Bausteinen, Cornelius lässt sich auf seinen windelgepolsterten Popo fallen und rutscht sitzend in die Spielecke. Tom und Lisa kriegen den Mund nicht mehr zu. Wie bewegt der sich denn vorwärts? Dann, wie auf Kommando, lassen auch sie sich auf den Boden fallen und probieren Cornelius’ Fortbewegungsmethode aus: Ein Bein anwinkeln, um stabil zu sitzen, das andere vorstrecken und daran den Popo nachziehen. Klappt. Zehn Minuten lang hat Clara die Bausteine für sich, die anderen Kinder spielen fröhliches »Poporutschen« um die Wette. Cornelius ist der Geschickteste – klar, er hat ja auch die meiste Übung. Dass er noch lange nicht wird laufen können, fällt den Kindern gar nicht auf.

Die Muttis von Tom und Lisa bleiben nach der Krabbelgruppe noch da. Irgendetwas liegt ihnen auf dem Herzen. Schließlich spricht Margret, Toms Mutter, mich leicht verlegen an: »Wir haben ja gewusst, was mit deinem Sohn ist. Und wir haben lange überlegt, ob wir unseren Kindern zumuten können, jetzt schon einem Behinderten zu begegnen. Wir wussten so gar nicht, wie sie auf ein Kind reagieren würden, das gleich alt ist wie sie, aber noch nicht laufen und sprechen kann. Aber so, wie sie heute miteinander umgegangen sind – das war einfach schön.«

Margrets Worte gehen mir noch lange nach. Warum hatten sie Bedenken? Sie sind wohl selbst noch nie enger mit Behinderten in Kontakt gekommen. Dann war es also höchste Zeit, dass ich mit Cornelius die Initiative ergriffen habe!

Und was die Kinder betrifft – sie erleben doch tagtäglich, dass Menschen unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung sind. Niemand erwartet von Tom, dass er schon lesen kann wie seine große Schwester, und Lisa kann selbstverständlich viel mehr Dinge als das Baby ihrer Nachbarin. Kinder kennen noch keine Tabellen, auf denen steht, welche Fähigkeit zu welchem Alter gehört, und die damit auch beurteilen, ob ein Kind sich »gut« oder »schlecht« entwickelt. Der eine läuft, der andere rutscht. Na und? Beides ist spannend. Hauptsache, alle haben zusammen ihren Spaß.

Vielleicht sollte ich die Entwicklungstabellen beiseite legen und von Toms und Lisas Unbefangenheit lernen. Und nächste Woche mein Begrüßungslied ganz ohne Bedenken singen. Auch für Clara, Tobias und Cornelius.

Offener Brief an Gott 3
Juli 1998

Ich glaube, du hast es geschafft. Du hast mir zumindest ein Buch zum Thema Leid in die Hände fallen lassen, das ich bis zur letzten Seite gelesen habe, ohne es ein einziges Mal in die Zimmerecke zu pfeffern. Und du hast mich über einen Bibelvers stolpern lassen, über den ich wirklich ins Nachdenken gekommen bin.

Ich habe ja schon in gefühlten siebzehneinhalb Büchern oder Artikeln zum Thema »Leid« eine vernünftige Antwort gesucht. Meistens habe ich mich dabei allerdings gefühlt wie ein Sehender, dem ein Farbenblinder den Unterschied zwischen grün und rot erklären will. Am schlimmsten waren die Autoren, die in ausgefeilten Theorien darlegen, wie »man« Leid zu betrachten habe.

Wie schon gesagt, ich bin nicht »man«.

Außerdem könnten solche Schreiber alles Mögliche von mir verlangen – solange ich dazu nicht fähig bin, kann ich es einfach nicht tun. Da könnte man genauso gut einen Eiswürfel in die Sahara legen und von ihm verlangen, nicht zu schmelzen.

Aber dieses eine Buch, das du mir jetzt in die Hände gespielt hast, spricht vom Leben. Vom realen, manchmal brutalen Leben in einer absolut nicht perfekten Welt. Der Autor hat selbst einiges davon abbekommen und weiß daher sehr wohl, wovon er spricht. Deshalb hat er auch keine einfachen, oberflächlichen Antworten. Alle seine Erfahrungen tiefster Verzweiflung, seine Gefühle der Bitterkeit und seine Überlegungen um das Warum münden in der Erkenntnis: »Gott sucht Menschen, die ihm vertrauen, auch wenn sie ihn nicht verstehen.«

Ich nehme an, du hast mir schon häufiger Sätze wie diesen über den Weg geschickt und versucht, damit endlich mein Herz wieder zu erreichen. Bisher war alles vergeblich, mein Schmerz und meine Wut haben alles an mir abperlen lassen wie Wasser an einer Regenjacke.

Aber mit diesem Satz hast du die kleine Stelle an der Naht gefunden, an der das Wasser doch durchdringen kann.

Er drückt ziemlich genau das aus, was ich empfinde: Verstehen werde ich wohl nie, weshalb du uns Krankheiten auflädst, die man locker auf drei Familien verteilen könnte. Das übersteigt die Denkmöglichkeiten jedes Menschen.

Aber das erwartest du auch gar nicht von mir.

Du willst etwas ganz anderes von mir: Dass ich dir nach wie vor mein Leben anvertraue, trotz aller erlebten Enttäuschung. Dass ich gegen den ersten Augenschein glaube, dass du es letztendlich gut mit mir meinst, auch wenn du nicht alles Leid von mir fern hältst.

Bei meiner Konfirmation mussten alle Konfirmanden im Gottesdienst zwei Bibelverse auswendig aufsagen. Den ersten habe ich längst vergessen; der zweite wird mir wohl immer im Gedächtnis bleiben. Weil ich mich als einzige in der ganzen Gruppe verhaspelt habe.

Es waren nur ein paar Zeilen aus Psalm 73, die ich aufzusagen hatte: »In aller Not der Welt dürfen wir sprechen: ›Dennoch bleibe ich stets bei dir, denn du hältst mich bei deiner rechten Hand. Du leitest mich nach deinem Rat, und nimmst mich am Ende mit Ehren an.‹«

Nicht unbedingt ein Spruch aus der Lebenswelt einer Vierzehnjährigen, die sich gerade daran macht, die Welt zu erobern. Ich habe ihn damals einfach gelernt und aufgesagt. Nur bei der Stelle: »Du leitest mich nach deinem Rat« ist mir statt des »deinem« ein »meinem« herausgerutscht. Hätte ich es nicht sofort bemerkt und mich verbessert, wäre wohl niemandem außer dem Pfarrer etwas aufgefallen. So aber habe ich mich in meinen Augen vor der versammelten Gemeinde blamiert – und diesen Text nie wieder vergessen.

Vielleicht sollte das so sein. Damals einfach ein Versprecher, jetzt der Punkt, an dem ich meinen Glauben neu justieren muss: Es geht letztendlich um deinen Willen für mein Leben. Natürlich darf ich auch meinen Willen hineinbringen, dir meine Wünsche und Vorstellungen sagen und darauf vertrauen, dass du sie nach Möglichkeit in deinen Plan für mein Leben einbauen wirst. Aber irgendwann kommt jeder Christ zwangsläufig an den Punkt, wo der eigene Wille und die Lebenswirklichkeit absolut nicht deckungsgleich sind. Und erst da zeigt sich, wie stark der eigene Glaube wirklich ist: Wendet er sich enttäuscht ab, oder hält er mit einem trotzigen »Dennoch ...« an dir fest? Willigt er ein in das: »Du leitest mich nach deinem Rat« und glaubt weiterhin, dass du einen gangbaren Weg für den Rest des Lebens hast?

Ich stehe vor keiner geringeren Frage als der, ob ich dir weiter vertrauen will, obwohl ich dich gerade absolut nicht verstehe.

Eigentlich ist meine Antwort klar. Ohne dich kann ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen, dazu habe ich schon viel zu viel Gutes mit dir erlebt. Auch wenn sich damit nicht alle meine Fragen und Klagen schlagartig in Luft auflösen werden, auch wenn ich mich wohl mein ganzes Leben lang immer wieder zu diesem Entschluss neu werde durchringen müssen – dennoch kann ich deine Frage eigentlich nur beantworten mit einem: »Ja, ich will. So wahr mir Gott helfe.«

Das Märchen von der traurigen Königin im Zauberhaus
August 1998

Es war einmal ...

... eine Königin, die wünschte sich so gerne Kinder. Als ihre Zeit gekommen war, gebar sie erst einen, dann einen zweiten wunderschönen blonden Prinzen.

Aber anstatt sich über dieses Geschenk des Himmels zu freuen, saß die Königin stundenlang in ihren Gemächern und weinte. Denn, ach!, ihre Söhne waren nicht so geraten, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie krabbelten statt zu laufen, brabbelten statt zu sprechen, rollten durch das Schloss, statt auf ihren Steckenpferden zu reiten. Das stimmte die Königin so traurig, dass sie den ganzen Tag lang nur noch weinte.

Der König versuchte alles, um seine Gemahlin zu trösten, aber nichts konnte sie wieder dazu bringen, zu lachen und fröhlich zu sein.

In seiner Not fragte der König überall im Lande, wer seine Gemahlin wieder zum Lachen bringen könne. Aber niemand wusste Rat.

Eines Tages klopfte ein fremder Wanderer an das Königsschloss und bat um Gehör. »Königin«, sprach er zu der traurigen Mutter, »ich weiß einen Ort, hinter zwei dichten Wäldern und drei grünen Hügeln, wo Ihr das Lachen wieder lernen könnt. Dieses Zauberhaus dürft Ihr aber nicht alleine aufsuchen; Ihr müsst Eure Kinder mitnehmen.« Er beschrieb der Königin den Weg zu diesem Ort und ging.

Die Königin wagte kaum, den Worten des Fremden zu glauben. Aber da es auch nicht schaden konnte, setzte sie die beiden Prinzen in ihre Kutsche und machte sich auf zu dem Ort, den der Wanderer ihr gewiesen hatte.

Erstaunt stellte die Königin fest, dass das Zauberhaus einen ganz gewöhnlichen Eindruck machte. Hinter einer hölzernen Gartentür führte ein schmaler Fußweg zu einem niedrigen weißen Haus mit einem breiten weißen Tor.

Sollte sie es wagen, einzutreten?

Zaghaft nahm die Königin ihre Kinder auf den Arm und öffnete die Gartentür. Nichts rührte sich. So schritt sie den Weg entlang bis an das Häuschen. Das Tor war verschlossen. Etwas ratlos sah sie sich um und erspähte schließlich im linken oberen Eck des Tores einen unscheinbaren Knopf. Vorsichtig drückte sie auf den Knopf – und das weiße Tor öffnete sich. Als die drei eingetreten waren, schloss sich wie von Geisterhand das Tor hinter ihnen.

Die Königin erblickte eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber sie spürte, dass sie soeben eine andere Welt betreten hatte. Sie stand in einem breiten Gang, der zu mehreren Zimmern führte, aus denen fröhliches Lachen und Musik drangen. Bunte Bilder schmückten den Gang, daneben hingen hölzerne Rahmen mit so alltäglichen Dingen wie Schuhbürsten, Teppichstücken oder Holzkugeln. Ihr Erstgeborener, Prinz Jacob, fühlte sich an diesem neuen Ort sofort wohl. Er griff in den hölzernen Rahmen, strich mit seiner kleinen Hand über die Bürste und lachte. Prinz Cornelius hatte derweil in einem anderen hölzernen Rahmen Drähte entdeckt, die Töne von sich gaben, wenn man sie berührte. Auch er lachte.

Da trat aus einer der Türen eine junge Frau, gefolgt von einer Schar kleiner Kinder. Einige liefen, aber ein Kind rutschte auf dem Hinterteil vorwärts – genau wie der jüngere Königssohn. Zwei andere Kinder wurden in kleinen Wägelchen geschoben, obwohl sie groß genug waren, um laufen zu können. Die Königin staunte: Man hatte ihr zwar erzählt, dass es außer ihren Söhnen noch mehr Kinder gab, die anders waren als die meisten, aber in so großer Zahl hatte sie solche Kinder noch nie gesehen. Und sie alle schienen glücklich zu sein in diesem Zauberhaus.

Die junge Frau trat auf die Königin zu und hieß sie willkommen. Dann wies sie ihr eine Tür, hinter der die Herrin des weißen Hauses residierte. Auch diese begrüßte die Königin samt ihren Kindern freundlich und führte sie durch ihr Reich.

Je mehr sie erblickte, umso mehr geriet die Königin in Staunen. In diesem Haus gab es ein Wasserbecken, in dem Kinder fröhlich planschten, auch wenn sie dabei von Erwachsenen gehalten werden mussten. Daneben befand sich ein Kämmerchen, in dem leise Musik ertönte und ein weiches Bett zum Ruhen einlud. In einem anderen Saal tobten Kinder. Einige von ihnen trugen Helme auf dem Kopf; ein anderes bemühte sich, mit Hilfe eines schwarz gelockten Jünglings ein paar Schritte an einem Wägelchen zu machen.

»Seht her, Prinzessin Katharina hat es geschafft!«, jubelte dieser, als er die Hausherrin erblickte. Diese lief zu dem Mädchen, hob es glücklich in die Höhe und rief aus: »Katharina hat ihre ersten Schritte gemacht! Das müssen wir feiern!« Der Jüngling lief los und verkündete die frohe Nachricht in allen Räumen. Von überall kamen nun Menschen gelaufen, die sich um Katharina drängten, sie umarmten und lobten. Das kleine Mädchen strahlte. Wieder und wieder griff sie zu ihrem Wägelchen, um damit noch einmal einen Schritt zu gehen. Es bereitete ihr Mühe, aber die Begeisterung der anderen spornte sie an.

»Die Ärzte haben gesagt, Katharina würde nie laufen lernen«, erklärte die Hausherrin der Königin. »Aber Prinzessin Katharina hat diese Weissagung widerlegt.«

»Wird sie jemals richtig gut laufen können, rennen und springen wie andere Kinder?«, fragte die Königin ungläubig.

»Sicher nicht«, entgegnete der Jüngling, der mit Katharina das Laufen geübt hatte. »Aber für ihre Verhältnisse hat sie heute Großartiges geleistet.«

Bei diesen Worten horchte die Königin auf. »Für ihre Verhältnisse ... Großartiges«, hatte der Jüngling gesagt? Für eine Fünfjährige, die soeben etwas vollbracht hatte, was alle normalen Kinder vier Jahre früher schafften?

Diese Worte klangen so anders als alles, was die Königin bisher gehört hatte. Wenn die Ärzte über ihre Kinder gesprochen hatten, hatten sie Worte gewählt wie »nicht altersgerecht« oder »stark verzögert«. Worte, die verletzten und traurig stimmten.

Diese neuen Worte des Jünglings fielen tief ins Herz der Königin und begannen dort, langsam und noch unbemerkt, ihre Trauer aufzulösen. Wenn sie all diese Kinder beobachtete, die in irgendeiner Hinsicht »nicht altersgerecht« waren, aber dennoch fröhlich lachten und »für ihre Verhältnisse Großartiges« vollbrachten, wurde ihr warm ums Herz.

Gerne hätte sie noch länger an diesem wunderbaren Ort verweilt, doch, ach, ihre Pflichten riefen sie zurück in ihr Schloss. Doch bevor sie ihre Prinzen wieder in die Kutsche setzte, bat sie die Herrin des weißen Hauses, ihr noch eine letzte Frage zu beantworten: Dürfte sie mit ihren Söhnen wiederkommen?

Die Hausherrin nickte und sprach dann einen Satz, der das so schwere Herz der Königin gleich wieder etwas leichter machte: »Wenn die Ernte eingefahren ist, werden uns mehrere Kinder verlassen. Dann kann Prinz Jacob gerne jeden Tag hierher kommen. Und sobald Prinz Cornelius das zweite Lebensjahr vollendet hat, ist auch er hier willkommen.«

Das Herz der Königin hüpfte vor Erleichterung und Glück. Ja, der Wanderer hatte Recht gehabt; hier konnte ihr trauriges Herz Heilung finden. Als sie ihre Kinder auf den Arm nahm, kamen ihr diese nicht mehr so schwer vor, und sie konnte sich seit langem wieder einmal an ihrem fröhlichen Lachen erfreuen.

»Sagt an, gute Frau«, bat sie die Hausherrin, »trägt Euer Zauberhaus auch einen Namen, den ich meinem Gemahl nennen kann?«

»Unser Zauberhaus ist nur eines von vielen, und sein kompletter Name ist lang. Aber ich nenne ihn gerne. Er lautet: Heilpädagogischer Förderkindergarten der Lebenshilfe e. V. Höhn.«

Daraufhin durchschritt die Königin das weiße Tor und spannte ihre Kutsche an. Als sie einen letzten Blick zurück auf das weiße Haus warf, erblickte sie in einem Fenster ein buntes Plakat. Kinderzeichnungen umrahmten in großen Lettern geschriebene Zeilen:

»Es ist normal, verschieden zu sein.«

Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Königin. Wie gut dieser Spruch klang! Sie las ihn sich selbst noch einmal laut vor, und beschloss, ihn nie wieder zu vergessen.

Und weil sie nicht gestorben ist, liebt sie diesen Satz noch heute.

Und weil der Förderkindergarten nicht geschlossen wurde, lachen dort noch heute Kinder, die anders sind als die meisten und trotzdem Großartiges vollbringen.

Löcherkäse
Dezember 1998

Fast alle Kinder lieben Emmentaler Käse. Das ist der mit den großen Löchern. Deshalb gab es, soweit ich mich in meine Kindheit zurück erinnern kann, auch bei uns regelmäßig Löcherkäse als Brotbelag.

Unter uns drei Kindern entbrannte ebenso regelmäßig ein Streit darüber, ob man die Löcher im Käse mit einer weiteren Scheibe »stopfen« dürfe oder nicht. Unsere Meinungen dazu waren durchaus flexibel. Es ging uns nicht um das Prinzip, sondern darum, ob ich gerade eine Scheibe mit kleinen Löchern erwischt hatte, der Bruder aber eine mit großen. Wie Kinder nun einmal sind, fühlte sich der Bruder in diesem Fall zutiefst ungerecht behandelt. Vom Käse, vom Zufall, vom Leben allgemein.

Sobald er aber daranging, mit Stücken einer zweiten Scheibe Käse die größten Löcher zuzudecken oder gar gleich eine weitere ganze Scheibe auf sein Brot zu legen, war ich die grob Benachteiligte. Denn auch meine Scheibe hatte ja Löcher, und der Bruder hatte jetzt an manchen Stellen doppelten Käse auf seinem Butterbrot. Kann man sich etwas Ungerechteres vorstellen?

Unsere Eltern ertrugen den immer wieder einmal aufflammenden Geschwisterstreit mit bewundernswerter Geduld. Sie wiesen uns im Laufe der Jahre mindestens 2 681 Mal darauf hin, dass der eine heute genau so ungerecht davon kam wie der andere am Vortag.

Mein Vater, immerhin Physiklehrer, erklärte uns, wie die Löcher im Käse entstanden waren, und dass es nach allen Regeln der Naturwissenschaften ohne die Löcher auch keinen Käse geben könne. Dass jede noch so löchrige Scheibe irgendwo Käse enthalten muss, dass keine Käsescheibe denkbar ist, die nur aus Löchern besteht.

Meine Mutter sah die Sache eher pragmatisch: Wenn ich unbedingt Emmentaler Käse auf mein Brot haben wollte, musste ich eben die Löcher akzeptieren. Und ich sollte dann halt nicht auf die Löcher starren, sondern auf den Käse achten. Sonst würde ich den guten Emmentaler-Geschmack doch gar nicht mehr merken.

So etwas Ähnliches könnten meine Eltern auch heute noch zu mir sagen.

Ja, in meinem Leben gibt es gewaltige Löcher: All die eigentlich ganz normalen Erwartungen an meine Kinder, die sich nie erfüllen werden. Je länger ich diese Löcher anstarre, desto stärker erfüllt mich das Gefühl, »wieder einmal« völlig ungerecht behandelt worden zu sein. Vom Zufall, vom Leben, von Gott.

Und trotzdem muss es zwischen den Löchern Käse geben. Wie schon Papa immer wieder nachgewiesen hatte, ist ein Käse, der nur aus Löchern besteht, rein empirisch unmöglich. Und wie Mama mir immer wieder geraten hatte, sollte ich mich lieber über diesen Käse rund um die Löcher freuen.

Nur war ich nach der Geburt von Cornelius kaum noch in der Lage gewesen, überhaupt etwas Käse zwischen all den als so riesengroß empfundenen Löchern in meinem Leben zu entdecken.

So lange, bis Jacob in den Förderkindergarten kam.

Schon in den ersten Wochen lerne ich dort drei Mütter kennen, mit denen ich um nichts in der Welt tauschen würde.

Eine von ihnen wird vielleicht nie herausfinden, ob ihre Tochter über ein rudimentäres Sehvermögen verfügt oder tatsächlich völlig blind ist. Im Normalfall wäre so etwas ja leicht erkennbar. Aber Laura ist kein Normalfall. Sie kann nicht sprechen und sich kaum selbstständig bewegen. Was sie möchte, muss man an ihrer schwachen Mimik ablesen. Verzieht sie nun bei einem starken Lichtreiz das Gesicht, oder nicht?

Und Lauras Mutter nimmt das Mädchen in die Arme, drückt ihr einen Kuss auf die Wange und flüstert ihr zu: »Ich weiß, dass du spürst, wie lieb ich dich habe. Du bist einfach meine Laura, da ist alles andere doch gar nicht so wichtig.«

Als ich mich zu Jacob hinunter beuge, spüre ich einen dicken Kloß im Hals. Jacob entwickelt sich zwar viel langsamer als alle Nachbarskinder, aber er entwickelt sich, er lernt ständig Neues dazu.

Und zum ersten Mal staune ich darüber, dass ich mit meinem Sohn kommunizieren kann. Nein, Jacob redet noch nicht flüssig, aber er kann deutlich zeigen, was er will. Er erzählt mir, was ihm Freude oder Kummer bereitet. Er kann lachen und protestieren, er kann seinen kleinen Bruder hauen und umarmen. Er kann sich ausdrücken – was für ein köstliches Stück Käse zwischen all den Löchern!

Es beschämt mich zutiefst, dass ich erst Laura und ihre Mutter kennenlernen musste, um das überhaupt zu bemerken.

Im Laufe der ersten Monate zeigen mir Jacobs Erzieherinnen noch viele weitere leckere Käsestücke an meinem Sohn. Sie ignorieren die Löcher nicht; aber hier ist es völlig normal, Defizite zu haben. Was zählt, sind die positiven Seiten.

Jacob kann nicht frei laufen? Also darf er, stolz wie Oskar, nach dem Frühstück den Geschirrwagen in die Küche schieben. Das wird seine feste Aufgabe, er ist plötzlich ganz wichtig für den ordentlichen Tagesablauf. Dass er eines Tages mit einem anderen Kind Wettrennen spielt, der Wagen umkippt und die Hälfte des Geschirrs zu Bruch geht, ist auch keine Katastrophe.

Jacob kann keinen Stift halten? Hier liegen schon Stifte mit für Spastiker geeigneten Griffen. An Jacobs fahrig gezeichneten Bildern erklären mir die Erzieherinnen, wie sorgfältig er die Farben ausgesucht und miteinander kombiniert hat.

Immer wieder erzählen sie mir begeistert, wie sicher und geschickt mein Sohn klettern kann, wie offen er auf fremde Menschen zugeht, wie selbstsicher er auftritt, wie ausdauernd er sich darum bemüht, neue Herausforderungen zu meistern. Als Jacob mit knapp vier Jahren das erste Mal ein großes Geschäft auf der Toilette macht, feiern sie spontan ein kleines Freudenfest.

So bringen sie mir allmählich bei, die Löcher in den Fähigkeiten meiner Kinder einfach als gegeben hinzunehmen und mehr auf den Käse zwischen den Löchern zu achten. Ich schmecke, kaue langsam, genieße – und beginne, mich darüber zu freuen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.