Adele und der beste Sommer der Welt (Band 2)

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Aus der Reihe: Adele #2
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Adele und der beste Sommer der Welt (Band 2)
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Inhalt


Die fabulösesten Sommerferien der Welt

Ein Marmeladenglas voll Sommer

Wir fahren in den Urlaub

Eine Poolparty

Donnerwetter

Die Kinderfalle

Stichtag

Kurze Langeweile

Eine Ferienfreundin

Eisgekühlte T-Shirts

Sieben Tage Regen

Der nicht enden wollende Tag der Bücher

Tuk, tuk

Die weltbesten Ferien, die das Leben je gesehen hat




Wenn sich zwei besondere Menschen in einer ganz besonderen mondhellen Nacht unter einem ganz besonderen Baum, der genau in diesem Moment 100 Jahre alt wird, küssen, kann man sicher sein, dass diese Verbindung eine ganz besondere sein wird und dass die Kinder, die daraus hervorgehen, ganz besondere Fähigkeiten haben werden.« So erzählt es Papa immer wieder, wenn wir abends vor dem Kamin sitzen, in Decken eingehüllt und warme Milch mit Honig in den Händen. Und diese besonderen Kinder, das sind wir: Henry, die Zwillinge Malin und Marlene, Oskar, Blümchen, Lu und ich, Adele.





Das Schöne am Sommer ist, dass man nicht so viel anziehen muss. Ein T-Shirt, ein Rock, und schon ist man fertig. Die Unterhose darf man natürlich nicht vergessen. Wäre ja peinlich. Und dann rein in die Flip-Flops. Flipflop, flipflop macht der Sommer. Er riecht nach Sonnencreme und Grillkohle. Und er schmeckt nach Eis und Kirschen. Ich liebe den Sommer. Und kann es jedes Jahr kaum erwarten, bis die Sommerferien beginnen.


Ich heiße Adele Anders. Und wohne mit meinen sechs Geschwistern, meinen Eltern und meiner verstorbenen Oma Radieschen in der Hummelgasse 7. Wir wohnen in der schönsten Wohngegend weit und breit. Und obwohl diese Straße mitten in einer großen Stadt ist, hat man das Gefühl, die Zeit sei bei uns irgendwie stehen geblieben. Alle Leute kennen sich und man braucht manchmal eine halbe Stunde, wenn man nur mal schnell ein paar Brötchen vom Bäcker holen will, und das, obwohl der Bäcker nur drei Häuser weit weg ist. Das kommt daher, dass man immer jemanden trifft, mit dem man sich unterhalten muss. Und bei Poppy, dem Besitzer unseres kleinen Lebensmittelladens, bekommt man nicht nur Wurst und Käse und so was, sondern auch gleich noch die neuesten Neuigkeiten. Zum Beispiel, dass Frau Fabian endlich schwanger ist, dass der Moritz aus Nummer 15 die Windpocken hat oder dass Tüten-Paul aufgebrochen ist, um mit den Vögeln in den Süden zu ziehen. Ob man es wissen will oder nicht, Poppy drückt einem jedes Mal die größten Geheimnisse aufs Auge. Neulich hat er meiner Mama eine scheußliche Geschichte von dem bösen Zeh von Frau Knebelding erzählt. Ganz genau hat er beschrieben, wie der aussieht und auch was der Arzt gemacht hat. Oskar stand neben mir, und während seine Augen immer größer und größer wurden, wurde sein Gesicht immer grüner und grüner. Und ich glaub, ich wurde auch langsam grün, weil die Kombination aus Poppys Erzählung und dem giftgrünen Gesicht meines Bruders nicht gerade schön war. Mama hat es zum Glück auch gesehen und Oskar schnell aus dem Laden geschoben, ohne den Schluss der Geschichte abzuwarten. Und als wir dann auf dem Nachhauseweg auch noch Frau Knebelding über den Weg gelaufen sind, mussten wir einfach alle auf ihren Fuß starren. Zum Glück hatte sie Schuhe an und der Zeh guckte nicht raus.

Unser Haus in der Hummelgasse ist klein, aber zum Glücklichsein ist genug Platz darin. Es ist eingequetscht zwischen dem Haus von meiner besten Freundin Martha Seefried und ihrer Familie und dem Haus von der alten Frau Burghardt und ihren zwei Katzen. Jedes Haus hat einen winzigen Garten davor und einen ein bisschen weniger winzigen dahinter. Die Hummelgasse und die drei Straßen, die zur Hummelgasse dazugehören, erreicht man durch zwei Torbögen. Es ist ein bisschen, als würde man durch ein Tor in eine andere Welt fahren. In unsere Welt.


Heute war der letzte Schultag. Wie immer fassten Martha und ich uns an der Hand und machten einen riesigen Schritt aus dem Schulhaus heraus. »Ferien!«, riefen wir und wie bestellt machte sich dieses unglaubliche Sommerferiengefühl in mir breit. Ich kann das gar nicht so richtig beschreiben. Denn obwohl ich gern in die Schule gehe, ist es einfach nur unglaublich schön, sechs freie Wochen vor sich zu haben. Ohne Hausaufgaben. Lange aufbleiben, ausschlafen können und alles, was eben so dazugehört. Und irgendwie kann man diesen Tag fühlen. Die Luft vibriert und alles riecht nach Ferien und Freiheit. Wir verglichen unsere Zeugnisse und warteten auf Oskar, Malin, Marlene und Henry. Wir sollten direkt zum Kindergarten gehen, weil Blümchen heute eine Theateraufführung hatte. Mama wollte auch kommen, sobald der kleine Lu von seinem Vormittagsschlaf aufgewacht war. Auch Martha, meine beste Freundin, begleitete uns.


»Ich freu mich schon so auf unsere große Reise. Ich war noch nie in Amerika!«, erzählte sie. Seit Wochen war sie schon aufgeregt. Die ganzen Sommerferien wollten ihre Eltern mit ihr und ihrem Bruder Ben durch die USA reisen. »Ich bring dir auf jeden Fall was mit, Adele!«, sagte sie und sah mich mitleidig an.

»Du musst nicht immer so gucken, Martha, denn die Familie Anders …«, begann ich.


»… hat immer die tollsten Ideen, wie Ferien zu Hause total unlangweilig werden!«, vollendete Martha mit mir den Satz. Dann lachten wir.


In diesem Moment stürmten Henry, Oskar, Malin und Marlene aus dem Schulgebäude. Auch sie wedelten mit ihren Zeugnissen. Weil wir sieben Kinder sind und meine Eltern nicht so viel Geld verdienen, können wir in den großen Ferien nicht verreisen. Man muss sich das mal vorstellen: Sieben Kinder, zwei Eltern und eine gestorbene Oma, und jeder möchte ein Eis. Eine einzige Kugel für jeden. Eine Kugel kostet aber in Italien zum Beispiel schon 2,50 Euro. Das hat mir Emma, die zwei Häuser weiter wohnt, gesagt. Sie fährt mit ihrer Familie jedes Jahr nach Italien. Immer an denselben Ort. Für uns wären das ja neun sichtbare und eine unsichtbare Kugel (die aber wahrscheinlich nichts kosten würde) und das wären schon 22,50 Euro, nur für eine Kugel Eis pro Tag für jeden. Weil man ja im Urlaub gern jeden Tag ein Eis isst, wären das dann bei einer Woche schon 157,50 Euro. Da hätten wir dann bisher nur das Eis. Und da kämen dann auch noch sieben Hotelbetten dazu für sieben Nächte. Ein Hotel, das ein großes Zimmer für eine Familie mit sieben Kindern und einer unsichtbaren Oma hat, gibt es sicher nicht. Deshalb machen wir es uns immer zu Hause schön.


Wir haben ein dickes Sparschwein. Das heißt Fred und steht in der Küche. Und wenn ein bisschen Geld übrig ist oder wir was auf der Straße finden oder Flaschenpfand bekommen, dann werfen wir das darein. Und irgendwann ist Fred dann so voll mit Geld, dass wir alle zusammen in den Urlaub fahren können.

 

»Ich schreib dir jedenfalls eine Postkarte, Adele!«, sagte Martha, und Malin und Marlene fragten im Chor: »Uns auch?« Martha lachte.

»Ja, euch auch!«

»Und mir schreibst du bitte aus Cape Canaveral!«, sagte Oskar.

»Was ist das denn?«, fragte Martha.

»Das ist ein Raketenstartgelände der U.S. Air Force. In Florida!«, erklärte Oskar. Er liebt das Weltall und möchte später mal Astronaut werden. »Und Oma Radieschen sagt, sie möchte eine Postkarte aus Disneyland!«, fügte Oskar hinzu, schlug sich aber sofort mit der Hand auf den Mund, da wir ja einen Familienschwur haben. Wir haben geschworen, dass wir unsere Fähigkeiten niemals außerhalb unseres Hauses und vor allem nicht im Beisein von Personen anwenden, die nicht zur Familie gehören. Ausnahmen sind gestattet und Martha ist so eine Ausnahme. Zumindest für mich. Meine beste Freundin gehört ja praktisch zur Familie. Deshalb habe ich ihr das mit den besonderen Dingen, die wir so können, vor einiger Zeit erzählt. Aber Oskar weiß nicht, dass Martha das weiß. Deshalb wechselte ich erst einen Blick mit Oskar, dann einen mit Martha. Es war ein sehr kompliziertes Blickegewechsle, denn Oskar wollte ich streng ansehen, um ihm zu sagen, dass er nicht weitersprechen sollte, und Martha wollte ich mit meinem Blick klarmachen, dass sie so tun sollte, als hätte sie einfach nichts gehört. Und weil ich damit ein völliges Blickechaos anrichtete, wussten am Ende weder Oskar noch Martha, was sie tun sollten. Die Zwillinge brachen in Gelächter aus und unterhielten sich von Kopf zu Kopf und Henry merkte von alldem gar nichts, weil er beim Laufen ein dickes Buch vor sich hatte, in dem er las.

»Oh, die Theateraufführung beginnt gleich, wir müssen uns beeilen!«, sagte ich schnell und zog Martha mit mir mit. Wir rannten um die nächste Ecke zum Kindergarten. Blümchen kam auch gleich auf mich zugelaufen.

»Na, Blümchen, bist du schon aufgeregt?«, fragte Martha und streichelte meiner kleinen Schwester über den Kopf. Doch Blümchen sah eher unglücklich als aufgeregt aus. Während die anderen Kindergartenkinder bereits in ihren Kostümen laut schnatternd herumliefen, zog Blümchen ihre Unterlippe über die Oberlippe und schmollte.


»Was ist denn mit dir, Blümchen?«, fragte ich und kniete mich zu ihr hinunter.

»Is will kein Seegras sein!« Blümchen stampfte wütend mit dem Fuß auf.

»Du bist Seegras?«, fragte Henry und klappte sein Buch zu. Blümchen schniefte.

»Wir ham geübt und geübt und geübt, und is darf immer nur Seegras sein. Wenn is wenigstens ein Fis sein könnte. Aber is bin nur Seegras. Eins!«, jammerte sie. Wir mussten uns wirklich das Lachen verkneifen.

»Du bist also ein Seegras, ein einzelnes Seegras?«, fragte ich und Blümchen nickte.

»Aber Seegräser sind unglaublich wichtig!«, sagte Malin und hockte sich ebenfalls zu unserer kleinen Schwester.

»Vor allem im See!«, fügte Marlene hinzu. Nun hockten wir alle um Blümchen auf dem Boden herum und versuchten sie zu trösten. »Ohne Seegras kann kein Fisch überleben!«, sagte Martha.

»Bist du denn ein hellgrünes oder ein dunkelgrünes Seegras?«, fragte Henry und tat, als wäre das unglaublich wichtig.

»Hellgrün!«, schniefte Blümchen.

»Hab ich mir es doch gedacht!«, sagte Henry oberlehrerhaft und sah sehr zufrieden aus.

»Was ist denn mit den hellgrünen?«, fragte Blümchen und ich putzte ihr erst einmal die Nase.

»Die hellgrünen Seegräser sind die besten und wichtigsten. Sie gehören zur Gattung der Zostera Marina!«, erklärte Henry, den wir auch hin und wieder den Professor nennen, denn er weiß einfach fast alles. Jetzt war ich mir allerdings nicht ganz sicher, ob das, was er über das helle Seegras sagte, wirklich so war, oder ob er das gerade erfand, um Blümchen zu trösten.

»Is das dann mein Name?«, fragte unsere Kleine. Henry nickte.

»Zostera Marina!«, bestätigte er noch einmal.

»Sei froh, dass du nicht Zittergras bist, dann müsstest du auf der Bühne immer rumzittern. Das wäre echt anstrengend«, sagte Oskar und ahmte ein zitterndes Seegras nach. Blümchen kicherte. Malin hatte auch noch eine Idee: »Die Fische können sich hinter dir verstecken«, sagte sie, »und ein bisschen an dir knabbern, so …« Jetzt spitzte Malin ihren Mund wie ein Fischmaul und kam Blümchen schnappend näher. Die quietschte vergnügt und als Mama mit Lu den Kindergarten betrat, hüpfte Blümchen aufgeregt zu ihr.

»Mama, Mama, is bin ein hellgrünes Seegras! Is heiß Zoster, äh, Dings!«, rief sie und Mama und wir lachten.

»Ein toller Name!«, sagte sie und gab Blümchen einen dicken Schmatz. Lu sagte nichts. Aber er war ja auch noch sehr klein. Er konnte schon Butter, Mama, Papa, Mütze und Auto sagen. Diessen sagte er zu Oma Radieschen und Oppler zu seinem Hasen Herrn Hoppler. Lu legte seine winzige Hand auf Blümchens Wange und lächelte sie an. Wenn er lächelt, dann ist es, als würde die Sonne aufgehen. Und es wird einem ganz warm ums Herz. Auch bei Blümchen war nun der letzte Kummer vertrieben und sie hüpfte fröhlich davon, um ihr Seegraskostüm anzuziehen.

»Na, meine Kinder?«, fragte Mama und sah uns fröhlich einen nach dem anderen an. »Alle Zeugnisse lustig und lesbar?« Wir nickten. »Wenn wir zu Hause sind, schau ich sie mir an, bin schon ganz gespannt!«, sagte Mama und machte ein lustiges Vorfreudegesicht. Und dann suchten wir uns Plätze im Garten vor der kleinen Bühne. Ich war ganz aufgeregt. Ich bin irgendwie immer aufgeregt, wenn eines meiner Geschwister auf einer Bühne steht. Und dann war es so weit. Die Seegraskinder saßen in ihren hell- und dunkelgrünen Kostümen auf der Bühne und wiegten sich hin und her. Dann kam ein Junge, der als Fisch verkleidet war, und alle begannen zu singen:

Ein kleiner Fisch schwamm fröhlich rum,

ein kleiner Fisch schwamm fröhlich rum,

da kam ein großer Hai – oje, oh Schreck –

da war der kleine Fisch nicht mehr fröhlich,

sondern … weg.


Ich sah Henry an und er sah mich an. Wir schluckten, denn da kam ein Kind als Hai verkleidet und fraß den kleinen Fisch einfach auf. Ich fand das ganz schön schrecklich und gerade als ich mir Sorgen machte, dass Blümchen vielleicht auf offener Bühne anfangen würde zu weinen, ging das Lied zum Glück noch weiter:

Ein großer Hai, verschluckt ’nen Fisch.

Ein großer Hai, verschluckt ’nen Fisch.

Da kam ein kleines Seegras und kitzelte den Hai,

der machte hicks,

da war der kleine Fisch plötzlich wieder frei.

Ein Seegraskind kitzelte das Haikind. Das tat, als würde es lachen, und in diesem Moment erschien der kleine Fisch wieder, der ja eben vom Hai verschluckt worden war. Blümchen wiegte sich wichtig weiter hin und her und spielte ihre Rolle als hellgrünes Seegras einfach hervorragend. Ich war völlig gerührt und unglaublich stolz auf meine kleine Seegras-Schauspielerin.

Alle lachten erleichtert auf, als der Fisch wieder da war, und es gab großen Applaus. Dann führten noch ein paar andere Kinder etwas auf und schließlich gingen wir alle zusammen nach Hause.

»Du warst das beste helle Seegras, das ich je auf einer Bühne gesehen habe!«, sagte ich zu Blümchen und sie hüpfte neben mir auf und ab.

»Wirklis, wirklis?«, fragte sie und freute sich.

»So was von wirklis!«, sagte ich und knuddelte sie. In der Hummelgasse stand ich dann erst noch eine Weile bei Martha und wir verabschiedeten uns voneinander. Jetzt wurde ich doch ein bisschen traurig. Nicht, weil ich nicht wegfuhr, sondern weil ich Martha ganze sechs Wochen nicht sehen würde. Die Hummelgasse war nämlich in den Sommerferien meist wie ausgestorben. Ich umarmte sie fest und sie drückte mich.

»Ich muss jetzt rein und packen. Morgen früh geht der Flieger!«, sagte sie, umarmte mich gleich noch einmal und verschwand dann in ihrem Haus. Ich ging mit hängenden Schultern in die Nummer 7, in der alle schon auf dem Wohnzimmerboden saßen und auf mich warteten. Henry, Malin, Marlene und Oskar hatten schon die Kunstmappen und ihre Sichthüllen mit den Zeugnissen vor sich liegen. Ich setzte mich dazu und legte meine Sachen ebenfalls bereit. Mama hockte sich zwischen uns und dann begannen wir der Reihe nach, unsere Kunstmappen zu öffnen. Alle Bilder wurden bestaunt und bewundert. Wir lachten über die Zeichnungen von Oskar. Das durften wir, weil Oskar über seine Bilder am allerlautesten lachte. Malen war einfach nicht so sein Ding. Trotzdem liebte er unsere Maltischnachmittage. Er erklärte es immer so: »Ich denke an ein Auto, das ich malen möchte, und heraus kommt ein Elefant. Meine Stifte zeichnen immer das, was sie wollen, und nie das, was ich will, und schon gleich gar nicht das, was die Lehrerin von mir gezeichnet haben will!«

Der letzte Schultag hatte bei uns immer viele Rituale. Das eine war eben das Öffnen unserer Mappen mit den gemalten Bildern vom ganzen Jahr. Dann las Mama nacheinander unsere Zeugnisse vor. Es war uns dabei egal, wer welche Noten hatte. Auch Mama war es nicht wichtig, ob da eine Drei oder eine Vier stand. Sie sagte: Alles unter Fünf sei gut und wenn es mal schlimmer werden würde, würde sie dafür auch eine Lösung finden. Als sie unsere Beurteilungen las, versuchte sie, bei jedem Zeugnis eine andere Lehrerstimme zu imitieren. Wir lagen am Boden vor Lachen. Bei Malin und Marlene hatte sich die Lehrerin beschwert, dass es so aussah, als tuschelten sie miteinander, ohne den Mund zu bewegen. Mama lachte.


»Tuscheln, ohne den Mund zu bewegen?«, fragte sie und wir alle antworteten: »Das geht doch gar nicht!« Und natürlich wussten wir, dass es sehr wohl ging. Vor allem, wenn man Malin und Marlene Anders hieß und einfach die Gabe hatte, sich mit seinen Gedanken zu verständigen. Henry hatte natürlich das beste Zeugnis. Klar. Als Professor. Er ging bereits in die fünfte Klasse und hatte zwei Klassen übersprungen. Aber das war kein Wunder, denn er konnte sich ja alles, was er einmal gelesen hatte, für immer und ewig merken. Ich würde ja schon mal gern in seinen Kopf schauen und gucken, wie es da aussieht. Ob er da lauter Schränke hat, mit unzähligen Schubladen? Oder ist das eher wie in einem Computer? Tausende von Speicherkarten, die in Ritzen stecken. Henry hat mir das mal erklärt. Wie das mit dem Gehirn funktioniert und wo all die Dinge gespeichert sind. Aber ich habe überhaupt nichts verstanden. Hab aber trotzdem genickt, weil ich nicht wollte, dass er mir das Komplizierte noch mal anders kompliziert erklärte.


Blümchen motzte, weil sie kein Zeugnis hatte. Aber eine Mappe mit Bildern hatte sie aus dem Kindergarten auch mitgebracht. Lu schnappte sich einen Buntstift und kritzelte mit wichtigem Gesicht ein paar Linien auf ein Papier. Dann hielt er es Mama hin. Wir bewunderten es, so gut wir konnten, und jeder überlegte, was Lu wohl gemalt hatte.

»Ein Auto? Einen Weihnachtsmann? Einen Hund? Einen Baum? Einen Kühlschrank?«, aber immer schüttelte Lu den Kopf.

»Ich weiß es«, sagte ich und sah noch mal genau auf das Bild. »Eine Mama!« Lu überlegte selbst ein Weilchen, dann grinste er von einem Ohr bis zum anderen und nickte. Ich nahm Lu fest in den Arm.

»Das hast du ganz toll gemalt. Du wirst sicher mal ein großer Künstler, kleiner Lu!«, sagte ich und Mama sah sich noch einmal ihr Porträt an.

»Wie kann man denn da einen Kühlschrank drin sehen, wenn ich es bin?«, fragte sie und machte ein lustiges Gesicht.

»Naja«, überlegte Malin. »Mamas sind eben wie Kühlschränke, ohne die geht gar nichts!« Die besten Gemälde wurden gleich mit Wäscheklammern an eine Leine geklammert, die wir quer durch das Wohnzimmer spannten. Wäscheklammern sind bei uns in der Familie Anders sehr wichtig. Mit deren Hilfe bauen wir uns immer im Garten oder im Spielkeller die tollsten Verstecke, Höhlen und Zelte.

Über die Bilder freute Papa sich sehr, als er am Abend von der Arbeit kam. Mama holte das selbst gemachte Eis aus dem Gefrierschrank und wir setzten uns auf die kleine Mauer vor unserem Haus, schleckten Eis und ließen die Beine baumeln. Mamas Beine baumelten am besten. Sie liebt das Beinebaumeln. Doch plötzlich kam Martha aus dem Haus nebenan. Ihre Augen sahen total verweint aus. Mama sprang gleich von der Mauer und lief auf sie zu.

 

»Was ist denn passiert?«, fragte Mama. Martha schluchzte.

»Mama ist heute von einer Leiter im Garten gefallen. Sie hat sich das Bein gebrochen. Sie muss ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.« Ich rutschte von der Mauer und ging ebenfalls auf meine Freundin zu. »Oh! Aber was ist denn dann mit eurer Reise nach Amerika?«, fragte ich.

»Das ist es ja. Die können wir nicht machen. Und dabei hab ich mich schon so darauf gefreut! Und Ben auch. Er liegt in seinem Zimmer und weint.«


»O nein, das tut mir leid. Und die arme Annette!«, sagte Mama mitfühlend. Marthas Mutter Annette war nämlich zufällig auch Mamas beste Freundin. »Also gut ist schon mal, dass deiner Mama nichts Schlimmeres passiert ist. So ein Bein heilt ja wieder. Trotzdem ist das natürlich alles eine traurige Geschichte!«, versuchte Mama, Martha zu trösten. Dann lief sie in Marthas Haus, um deren Papa zu fragen, ob sie irgendwie helfen könne. Ich nahm Martha fest in den Arm. Inzwischen standen auch meine Geschwister um meine Freundin herum. Martha schluchzte erneut. »Das werden jetzt sicher die langweiligsten Ferien überhaupt!«

»Wieso denn langweilig?«, fragte Blümchen.

»Wir sind doch auch noch da!«, sagte Marlene.

»Ferien mit der Familie Anders sind niemals langweilig!«, beteuerte Oskar.

»Glaub uns, das werden die famosesten Ferien überhaupt!«, tröstete ich sie.

»Die fabulösesten auch!«, sagte Malin.

»Und grandiös, exzellegant und sagenhaftig auch!«, fügte Marlene hinzu.

Martha sah mich an. Eine dicke Träne rann über ihre Wange.

»Pass auf, am Ende wirst du sagen: ›Gut, dass ich nicht nach Amerika geflogen bin!‹«, sagte ich und streichelte ihren Arm. Noch einmal schniefte sie.

»Das glaub ich zwar nicht, aber wahrscheinlich wird mir nichts anderes übrig bleiben, als mit den durchgeknallten Anderskindern diese Sommerferien zu verbringen!«, sagte sie und lächelte schief. Lu nahm ihre Hand und schon merkte ich, wie sich Martha ein bisschen besser fühlte.

»Durchgeknallt, aber nett, wie ich immer zu sagen pflege!«, sagte Henry und hob dabei den Zeigefinger.

»Machen wir das Beste draus!«, rief ich.

»Machen wir das Beste draus!«, nickte Martha und schlug mit mir ein.

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