Geisterzorn

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Geisterzorn
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S. G. Felix

GEISTERZORN

Der Fluch von Lost Haven

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Arthur Farrel schaut in den Spiegel

Michelle fasst einen Entschluss

Mrs. Trelawney achtet auf ihre Rosen

Jack bekommt Besuch

Jack wirft ein paar Körbe

Beverlys Theorie

Susan Danvers verschlägt es die Sprache

Jack träumt vom Fliegen

Peter und das Buch

Jack sucht die Lichtung

Mr. Beaver liest ein Märchen

Jack öffnet die Schublade

Peter telefoniert

Jack trifft eine Entscheidung

Mrs. Abagnale verliert die Kontrolle

Jack folgt einer letzten Spur

Jack schließt den Kreis

Irgendwo dazwischen

William schreibt einen Brief

Epilog

Prolog

Und wieder gelange ich zu der Erkenntnis, dass das Verstörende in diesem Moment nicht die Tatsache ist, dass ich aufgrund einer Vorhersehung hierher gelangt bin. Nein, mich beschleicht wiederholt das sichere Gefühl, dass ich in einem Strudel gefangen und den Kräften hilflos ausgeliefert bin. Es spielt keine Rolle, ob ich dagegen ankämpfe oder nicht.

Jetzt stehe ich hier an diesem Abgrund und warte, dass es passiert. Es gibt jetzt jedenfalls nichts mehr für mich, das noch zu erledigen wäre. Trotz der entsetzlichen Geschehnisse der letzten Tage bin ich jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ich außer Erschöpfung nichts mehr fühle. Und ich habe keine Angst mehr.

Ich kenne diesen Ort. Ich war schon oft hier. Aber heute ist es anders. Eine Veränderung geht vor sich. Die Zeit verändert sich. Ich denke, ich habe aber noch genug Zeit, um Ihnen zu erzählen, was ich vor vier Wochen das erste Mal gesehen habe. Ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem unheilvollen Knarren einer Tür begonnen hat, und ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem Tod geendet hat. Aber vorher möchte ich, dass Sie sich eine Frage stellen und ehrlich beantworten.

Vielleicht haben Sie sich ja irgendwann einmal in ihrem Leben gewünscht, etwas Außergewöhnliches zu erleben. Vielleicht etwas, das man gemeinhin als übersinnlich bezeichnen würde. Denn genau das ist es, worum es bei mir geht. Sie werden jetzt sicher wissen wollen, wie es angefangen hat, wo ich hier bin und warum und worauf zum Teufel ich hier eigentlich warte. Aber um Ihnen meine Geschichte zu erzählen, müssen wir zurück zu meiner Frage.

Haben Sie nicht auch schon einmal etwas Übernatürliches erleben wollen? Ein UFO beobachten? Oder vielleicht mit einem verstorbenen Verwandten aus dem Jenseits Kontakt aufnehmen? Besonders wenn wir jung sind, faszinieren uns Geschichten über Übersinnliches. Aber die meisten von uns würden es vermutlich nicht bewusst selbst erleben wollen und gezielt darauf hinarbeiten, geschweige denn offen zugeben, es zu wollen. Nein, nach außen hin sind wir – Sie und ich - ja alle vollkommen rational handelnde und denkende Menschen, die über das Geplapper von Übernatürlichem nur verständnislos den Kopf schütteln. Deshalb haben Sie ja auch noch nie Ihr eigenes Horoskop gelesen, sind auch in Ihren schlimmsten Lebenssituationen nicht abergläubisch gewesen, haben nie einen Glücksbringer besessen, geschweige denn, haben jemals an Glück oder Pech geglaubt, sondern stets nur an den Zufall. Oder?

Verstehen Sie bitte, was ich damit sagen möchte: Nicht mir, sondern sich selbst gegenüber müssen Sie bei der Beantwortung der Frage ehrlich sein. Und wenn Sie das getan haben, gehe ich noch einen Schritt weiter. Haben Sie manchmal Angst vor dem Wahnsinn? Nein, ich weiß schon. Natürlich haben Sie keine Angst davor, weil Sie sich erst gar nicht trauen, darüber überhaupt nachzudenken. Egal, in welcher Form uns der Wahnsinn auch im Leben begegnen mag. Er ist Teil unserer Existenz. Trotzdem versuchen wir ihn zu verdrängen. Schließlich reicht es ja schon aus, wenn uns unsere Alpträume hin und wieder eine kleine Ahnung von Wahnsinn geben. Bei dem einen oder anderen bizarren Alptraum kann es schon einmal vorkommen, dass ein kühler Hauch von Wahnsinn durch den Türspalt quillt und wir erschauern. Dann wachen wir, wenn wir Glück haben, rechtzeitig aus dem Alptraum auf und müssen uns vergewissern, dass die Tür auch wirklich geschlossen ist. (Auch wenn wir insgeheim wissen, dass die Tür niemals richtig geschlossen werden kann.)

Aber was ist, wenn der Wahnsinn schon durch den offenen Türspalt lugt und nur ein kleiner Luftzug ausreichen würde, um die Tür ganz aufzustoßen und den Wahnsinn zu Ihnen hinein zulassen, damit er von Ihnen vollkommen Besitz ergreift? Oder noch schlimmer: sie zu zwingen, durch die offene Tür zu blicken? Zu sehen, was sich absolut Unbegreifliches und Zerstörerisches dahinter verbirgt? Auf der anderen Seite. Ich habe diese Seite gesehen, und sie hatte ihren Ursprung in meinen eigenen vier Wänden. Vermutlich drücke ich mich zu abstrakt aus. Deshalb werde ich, bevor ich alles von Anfang an erzähle, Ihnen etwas ganz Konkretes sagen:

Sie würden nicht wollen, dass Sie nichtsahnend für den Tod von geliebten Menschen verantwortlich sind. Und es nichts gibt, was Sie dagegen tun könnten.

Glauben Sie mir. Das würden Sie nicht wollen.

Arthur Farrel schaut in den Spiegel

1

Bevor ich berichte, was sich bei mir in den letzten Tagen ereignet hat, sollte ich zunächst etwas über Lost Haven erzählen. Nur dann kann man verstehen, was diesen Ort so besonders macht.

Im Jahre 1651 wurde Lost Haven das erste Mal in einem Brief eines Puritaners erwähnt. Es gibt allerdings auch andere Quellen, die das Gründungsjahr viel später auf das Jahr 1708 datieren. Fast zweihundert Jahre lang war Lost Haven nichts weiter als ein winziges, unbedeutendes Fischer-Dörfchen an der Ostküste Neuenglands. Es war aber ganz sicher nicht das schönste Fleckchen Erde. Wäre es das geblieben, was es immer war, dann dürfte es heute gar nicht mehr existieren. Niemanden hätte es hierher gezogen. Es wäre heute eine Geisterstadt, für die sich allenfalls noch Historiker interessieren würden.

Doch eines Tages geschah etwas in Lost Haven, das alles verändern sollte: Die Ereignisse jenes Tages und der folgenden zehn Jahre sind von Arthur Farrel, einem Einwohner von Lost Haven, in akribischer Genauigkeit in seinem Tagebuch niedergeschrieben worden. Diese bis heute noch erstaunlich gut erhaltenen und äußerst umfangreichen Aufzeichnungen liegen heute in einer Vitrine im ‚Museum of Lost Haven’. Das Tagebuch ist eines von zwei Attraktionen des Museums.

Die wie folgt beschriebenen Ereignisse beginnen nämlich wie eine typische 0815-Gruselstory, die nur eine unter vielen sein könnte. Doch je weiter man sich durch die Aufzeichnungen von Farrel vorarbeitet, desto klarer wird, dass dies alles andere als eine gewöhnliche Gruselgeschichte ist. Und man begreift, dass Lost Haven mehr ist, als es heute zu sein vorgibt. Denn einige der Geschehnisse gelten bis heute selbst unter Experten und Historikern als gesichert. Aber zurück zu Farells Tagebuch:

Es war der 14. September 1884. Ernest Hawl, ein alter von Arthritis gebeutelter Mann, saß wie jeden Tag auf der Veranda seines Hauses und blickte auf Meer. Sein Haus war das einzige, das am Fuße des Felsenhügels ‚The Old One’ direkt an der Klippe auf einer großen natürlichen Felsterrasse lag. Laut Tagebuch waren er und Arthur Farrel sehr gute Freunde, so dass Farrel Ernest Hawl als absolut glaubwürdigen Zeugen beschrieb. Demnach beobachtete Hawl gern den seltenen aber regelmäßigen Schiffsverkehr vor der Küste. Lost Haven selbst war nur selten das Ziel der Klipper und der etwas fülligeren für Neuengland typischen Down Easter.

Doch an diesem September-Morgen war etwas anders. Die See war ungewöhnlich ruhig. Hawl gab an, dass er spüren konnte, dass an dem Meer etwas falsch war, nur konnte er es nicht näher beschreiben. Wenige Stunden nach Sonnenaufgang hatte er eine Art dunkle Barriere am Horizont wahrgenommen. Hawl glaubte, dass die Welt dort hinter der Barriere aufgehört hatte zu existieren. Totenstill sei es gewesen, während Hawl das merkwürdige Phänomen beobachtete. Und so plötzlich die Barriere aufgetaucht war, so plötzlich verschwand sie auch wieder und gab den Blick auf ein Segelschiff frei. Es sei jedoch nicht eines gewesen, das Hawl jemals hier vor der Küste gesehen hätte. Es war ein eher kleiner Dreimaster mit einem hohen Achterkastell. Bis auf ein zerfetztes Segel am Hauptmast waren alle anderen Segel eingeholt oder nicht vorhanden. Das unbekannte Schiff trieb mit der Strömung.

 

Hawl verfolgte es über mehre Stunden mit seinem Fernrohr. Er war sich sicher, dass niemand mehr an Bord war. Das Schiff trieb führerlos wie in Zeitlupe parallel zur Küste. Schließlich drohte der Dreimaster, in eine Region mit vielen Untiefen und aus dem Wasser ragenden Felsen vorzudringen. Hawl verständigte sich mit den Dorfältesten, zu denen er selbstverständlich auch zählte, und man beschloss, rasch ein Boot zum geheimnisvollen Schiff zu entsenden, um herauszufinden, was an Bord geschehen war. Zwei Männer erreichten schließlich den Dreimaster und umrundeten ihn mit ihrem Ruderboot. Die beiden Männer berichteten später, dass ihnen ein schimmelartiger Geruch in die Nase stieg, als sie sich dem Schiff näherten. Niemand war an Bord. Der Schiffsrumpf war recht stark verwittert, aber keinesfalls morsch. Auch den Schiffsnamen konnten sie identifizieren. Es war die Speedwell.

Wie man erst fast 90 Jahre später herausfand, war die Speedwell ein Kolonial-Schiff, das England im Oktober des Jahres 1634 verlassen hatte. An Bord waren schätzungsweise 52 Kolonisten, die in der Neuen Welt ihr Glück zu finden hofften. Doch die Speedwell erreichte nie ihr Ziel und galt seither als verschollen.

Über zweihundert Jahre später tauchte die Speedwell schließlich vor der Küste Neuenglands auf. Wie ich schon sagte: So oder so ähnlich beginnen viele seichte Gruselgeschichten, von denen ich selbst genug gelesen habe, um diesem Teil der Geschichte keinen Glauben zu schenken. Doch richtig interessant wird es erst ab hier.

Es gelang schließlich, die Speedwell sicher in den kleinen Hafen, der in einer natürlichen, schmalen Bucht lag, zu manövrieren und vor Anker zu legen. Auch wenn man 1884 nichts über die genaue Herkunft und das Schicksal der Speedwell wusste, so war den Einwohnern von Lost Haven klar, dass es sich um ein Schiff aus dem 17. Jahrhundert handeln musste. Es dauerte nicht lange, bis der Begriff »Geisterschiff« durch die Straßen von Lost Haven getragen wurde. Und so wurde man sich auch schnell einig, dass die Speedwell schleunigst wieder den Hafen verlassen sollte, denn so ein herrenloses Schiff konnte nichts anderes als Unheil mit sich bringen.

Auch Hawl selbst bestätigte gegenüber Farrel, dass ihm nicht wohl dabei gewesen wäre, die Speedwell in den Hafen zu manövrieren, aber seine Neugier war stärker als seine eigenen Bedenken. So enterte er selbst das unheimliche Schiff, um Informationen zu sammeln. Er wurde allerdings enttäuscht: An Bord gab es nichts, das Rückschlüsse auf die Ursache des Verschwindens von Besatzung oder Passagieren und auf das plötzliche Wiederauftauchen der Speedwell hingewiesen hätte. Das Schiff war leer. Es gab keine Fässer, in denen der Proviant gelagert wurde, keine Werkzeuge oder Ersatzteile und auch keine Habseligkeiten.

Als Hawl im Begriff war, die Speedwell wieder zu verlassen, entdeckte er eingeklemmt zwischen zwei Planken eine Goldmünze. Es gelang ihm nicht, sie herauszuziehen. Passendes Werkzeug hatte er nicht zur Hand, und so entschied er sich, das Schiff am nächsten Tag erneut zu betreten, denn es war schon später Abend. Würde Hawl, der eine stattliche Münzsammlung sein Eigen nennen konnte, die Münze identifizieren können, so hätte er einen eindeutigen Beweis, dass die Speedwell ein Schiff aus der Vergangenheit wäre. Doch dazu sollte er keine Gelegenheit mehr bekommen. Am nächsten Morgen war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen, da klopfte es wild an der Tür seines Hauses. Hawl sagte aus, er hätte schon geahnt, welche Nachricht der Ungeduldige an seiner Tür zu überbringen gedachte. Die Speedwell war fort. Über Nacht spurlos verschwunden.

Die wildesten Theorien machten daraufhin die Runde. So sei die Speedwell durch Geisterhand aus der schützenden Bucht von Lost Haven zurück ins offene Meer gefahren. Dämonen hätten die Speedwell entführt. Das Schiff sei auf eine unheilvolle Art lebendig geworden und hätte von alleine den Hafen verlassen. Eine andere Theorie besagte schlicht, das Schiff sei gesunken, weil es schon halb verrottet gewesen wäre. Keine Theorie, keine Geschichte über die Speedwell war in den folgenden Wochen absurd genug, um nicht ernsthaft in Lost Haven zur Sprache gebracht zu werden.

Dessen ungeachtet berichtet Farrel, dass allgemeine Erleichterung darüber herrschte, dass das Geisterschiff fort war. Doch mit dem Verschwinden der Speedwell begann etwas, dass heutige Parapsychologen und Geistergläubige weltweit übereinstimmend als die häufigsten, bestdokumentierten und vor allen Dingen folgenschwersten Poltergeisterscheinungen in der Geschichte der Neuzeit bezeichnen.

2

Die meisten paranormalen Vorfälle wurden zwar von Arthur Farrel schriftlich festgehalten. Doch gab es auch andere, teilweise sogar übereinstimmende Berichte und Erwähnungen aus Briefen, Notizen, Tagebüchern und sogar aus Testamenten der Einwohner von Lost Haven. Vorab sei noch gesagt, dass sich Parapsychologen und sonstige 'Experten' bis heute nicht vollständig darüber einig sind, ob die Geschehnisse jener zehn Jahre nach dem Verschwinden der Speedwell, einem Spuk oder Poltergeist-Heimsuchungen zuzuordnen sind.

Ein Spuk wird in der Regel als eine personenbezogene, geisterhafte Erscheinung beschrieben, die auch über viele Jahre auftreten kann. Ein Poltergeist hingegen sei ortsgebunden und würde sich vornehmlich durch unerklärliche Geräusche wie Klopfen oder durch Bewegen von Gegenständen bemerkbar machen. In den letzten Jahren hat sich für die Geschehnisse in Lost Haven die Bezeichnung Poltergeist durchgesetzt, weil die meisten der mysteriösen Erscheinungen als lokal gebunden beschrieben wurden. Oder anders ausgedrückt: Fast alle Erscheinungen traten, oftmals mehrfach, in den Wohnungen der Einwohner von Lost Haven auf, unabhängig davon, wer das jeweilige Heim zur fraglichen Zeit bewohnte.

Hätte Arthur Farrel die folgenden Ereignisse nicht in so akribischer Genauigkeit niedergeschrieben, hätte sich niemals ein Historiker oder Parapsychologe ernsthaft mit dem Fall 'Lost Haven' beschäftigt. Für die Skeptiker jedoch – und davon gab und gibt es nicht wenige – ist Farrel der Quell allen Übels. Weil der überwiegende Teil der detaillierten Berichte über Poltergeister von ihm stammt, ist es ein Leichtes zu argumentieren, dass alles nur Farrels Fantasie entsprungen war, die krankhafte Ausmaße angenommen hatte. Allein durch das Anzweifeln der Echtheit von Farrels Geschichten lassen sich auch alle Berichte der übrigen Dorfbewohner als Unfug abtun, da diese – so die Skeptiker - nur auf den Geisterzug aufspringen wollten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass Farrel sich alles nur ausgedacht haben sollte, war somit ein ideales Totschlagargument.

Nachdem die Speedwell spurlos verschwunden war, vergingen Tage und Wochen, ohne dass etwas Erwähnenswertes geschehen wäre. Eine trügerische Ruhe legte sich über den kleinen Küsten-Ort. Schließlich berichtet Farrel, dass Ende November 1884 einige Einwohner von Lost Haven über Schlafstörungen klagten. Zudem breitete sich eine zunehmend depressive Stimmung unter den Menschen aus. »Es scheint mir, als seien alle unfähig geworden, sich über die bescheidenen aber guten Dinge unseres gewohnten Lebens zu freuen«, schreibt Farrel.

Zunächst schien niemand diese Merkwürdigkeiten in Verbindung mit der Speedwell zu bringen.

Kurz nach der Wintersonnenwende gab es dann den ersten Bericht über eine geisterhafte Erscheinung. Es war die Witwe Marodith. Sie habe einen Geist gesehen, wie er nachts am Fußende ihre Bettes gestanden und sie angestarrt habe. Sie habe einen solchen Schreck bekommen, dass sie aus ihrem Bett gefallen sei, berichtet Farrel. Niemand glaubte ihr. Doch der Geist erschien wieder. Marodith fürchtete, es handle sich um den Geist ihres verstorbenen Mannes. Er sei aus dem Jenseits zurückgekehrt, um sich nun an ihr zu rächen, weil sie verschwiegen hatte, dass sie, als sie noch eine junge Frau war, ihrem Ehemann untreu gewesen war. Man wollte die arme Frau schon für verrückt erklären, als drei weitere Poltergeistphänomene die Runde machten.

Ein Hafenarbeiter, der direkt an seinem Arbeitsplatz wohnte, wollte um Mitternacht seltsame Gestalten über das Wasser der Bucht schweben gesehen haben. Sie hätten sich an den Fischerbooten zu schaffen gemacht, indem sie diese wild hin und her stießen.

Ein Mr. Harper, der Barbier des Dorfes, berichtete, dass er eines Nachts merkwürdige Geräusche in seinem Geschäft gehört hätte. Seine Wohnung befand sich im gleichen Haus eine Etage darüber. Als er die Treppe hinunterging, um nach dem Rechten zu sehen, hätte er seine Rasiermesser durch die Luft fliegen sehen. Nur durch reines Glück, wie er Arthur Farrel erzählte, sei er mit dem Leben davon gekommen.

Emily Miller war eine junge Frau, die eine kleine Pension in Lost Haven betrieb. Sie wurde in einer Nacht aus ihrem Bett gerissen, als sämtliche Türen in ihrem Haus mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf und zu schlugen. Schreiend sei sie ins Freie gerannt und beschwor, von draußen eine unheimliche feinstoffliche Erscheinung an einem der Fenster gesehen zu haben. Ein Anblick, der ihr für den Rest ihres Lebens schwere Schlafstörungen bereiten sollte.

Waren der Hafenarbeiter, Mr. Harper und Emily Miller noch mit dem Schrecken davongekommen, nahm das Schicksal mit der Witwe Marodith eine traurige Wendung: Immer öfter erschien ihr der Geist in ihrem Schlafzimmer. Sie fühlte sich bedroht, fürchtete gar um ihr Leben, weil sie überzeugt war, dass der Geist ihres Mannes ihr nach dem Leben trachtete. Sie hielt es eines Tages nicht mehr aus und stürzte sich aus dem Fenster des ersten Stockwerks ihres Hauses.

Es vergingen ein paar Monate, und die Einwohner von Lost Haven hofften stillschweigend, dass die merkwürdigen Geistererscheinungen ein Ende gefunden hatten. Doch sie sollten sich irren.

Allein bis einschließlich 1889 verzeichnete Arthur Farrel über neunzig weitere Poltergeistphänomene. Dabei unterschieden sich die Darstellungen erheblich voneinander. Die Berichte reichten von merkwürdigen Geräuschen wie Flüstern, sich bewegenden Gegenständen bis hin zu Geistern, die vornehmlich in den Wohnhäusern in Erscheinung traten und dabei die Bewohner in Angst und Schrecken versetzten.

Dabei sollte die Witwe Marodith nicht das einzige Todesopfer gewesen sein, das in Zusammenhang mit den Erscheinungen gebracht wurde. Sechs weitere Personen sollen den Poltergeistern zum Opfer gefallen sein. Drei Fälle davon sind allerdings eher vage beschrieben und stammen nicht aus Farrels Aufzeichnungen. Daher sind jene Todesfälle bei einer halbwegs objektivierten Betrachtung aus der Beweiskette herauszunehmen.

Die Umstände der anderen drei Todesfälle jedoch sind an Kuriosität wahrlich kaum zu überbieten.

3

Den wohl seltsamsten Fall, der allen voran bis heute besonders kontrovers diskutiert und interpretiert wird, schildert der unermüdliche Farrel im Spätsommer 1890. Es war die wohl eindrucksvollste Schilderung einer Poltergeistheimsuchung, die es jemals gegeben hat. Keinem anderen Fall wurde jemals mehr Glauben aber gleichzeitig auch mehr Ablehnung entgegengebracht.

Er ereignete sich in der 1722 gebauten Kirche von Lost Haven und wurde erzählt von Reverend Sasusa. Ebenezer Sasusa war in jenem Jahr ein 61 Jahre alter Mann, von dem nur bekannt war, dass er 1872 aus Massachusetts nach Lost Haven kam. Er galt als ruhiger und ausgeglichener Mensch, der nicht gerade als Frohnatur bekannt war. Die Einwohner achteten ihren Reverend für seine viel gelobten Sonntagsmessen, die praktisch nie jemand versäumte.

Auch in diesen schwierigen Jahren war Reverend Sasusa ein wichtiger Pfeiler für seine Gemeinde. Viele fragten sich, ob sie Gott verlassen hätte. Ob Gott gar ganz Lost Haven mit einer Strafe belegt hätte. Doch Sasusa bemühte sich unentwegt, beruhigend auf die Menschen einzuwirken. Er verstand die unerklärlichen Geschehnisse als eine Art Prüfung von Gott, der man sich stellen müsse. Nichts, was Gott tat, war ohne Zweck. Davon war er zutiefst überzeugt. Er betete jeden Tag für Erleuchtung, suchte in der Bibel nach Trost und in Alten Schriften nach Lösungsmöglichkeiten, doch auch er vermochte nicht, den Bann zu brechen. Er klammerte sich an seine Gebete und seinen Glauben.

So auch eines Abends im September 1890. Es war ein Freitag. Reverend Sasusa saß in seiner kleinen Sakristei der Kirche. Wie schon hunderte Male zuvor bereitete er sich gewissenhaft auf seine Sonntagsmesse vor, auch wenn es ihm in diesen Tagen kaum Freude bereitete. Wusste er doch, dass er wieder auf die Phänomene der letzten Jahre eingehen musste. Dennoch, so berichtete er es Farrel, der alles detailverliebt und lückenlos protokollierte, keimte im Reverend ein kleiner Funken Hoffnung auf. Denn die Geistererscheinungen schienen sich in den letzten Monaten beruhigt zu haben. Vielleicht wäre bald alles überstanden, so dachte er.

 

Es war kurz vor Mitternacht, als Sasusa aus dem Kirchenschiff plötzlich einen donnernden Lärm hörte. Es sei so gewesen, als wäre eine der Sitzbänke hochgeworfen worden, um dann berstend auf den Steinboden zu krachen. Starr vor Angst und mit der zermürbenden Sorge, dass die Geister nun auch in das Haus Gottes eingedrungen waren, betete der Reverend das Vaterunser. Doch brachte er es nicht zu Ende. Weitere tumultartige Geräusche drangen auf der anderen Seite der Tür an seine Ohren. Geräusche von Sitzbänken, die auf dem alten und unebenen Steinboden verschoben wurden.

Welche Macht auch immer in jenem Moment in seiner Kirche am Werke war, sie war wütend.

Es war eine Prüfung. Dies hatte er seiner Gemeinde jahrelang eingebläut. Und einer Prüfung, insbesondere, wenn sie von Gott gestellt wurde, musste man sich stellen. Der Reverend nahm allen Mut zusammen, erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich mit klopfenden Herzen der Tür, währenddessen das Poltern auf der anderen Seite fortdauerte. In dem Moment, in dem er die Türklinke berührte, verstummten mit einem Mal die Geräusche. Ein kurzes Zögern, dann öffnete Sasusa die Tür. Was er dahinter erblickte, ließ ihn zunächst glauben, in einem Alptraum zu leben.

Der Reverend erblickte etwa drei Dutzend schwebende Sphären, die von einer schwarzen Korona umgeben waren, aber eine menschliche Form besaßen. Erst heute weiß man, dass diese Zahl ziemlich genau derjenigen Zahl an Siedlern entspricht, die auf der Speedwell der Neuen Welt entgegen segelten. Obwohl Sasusa keine Gesichter zu erkennen vermochte, spürte er, dass die Gestalten ihn forschend anstarrten. Einige schienen auf den Sitzbänken Platz genommen zu haben. Andere schwebten mehrere Meter über dem Boden, andere standen direkt neben der Tür und verströmten, so beschwor er es, eine eisige Kälte. Während sich keiner der Geister bewegte, schritt Sasusa wie in Zeitlupe ein Stück in die Halle hinein. Die Geister ließen ihn gewähren, was ihm Hoffnung gab, einen Kontakt zu den Geistern herstellen zu können.

»Was kann ich tun, um euch zu helfen?«, fragte der Reverend.

Kein Schrecken hätte ihn nach seiner Frage schlimmer treffen können als jene Tat, welche die Geister ihm in den folgenden Sekunden zumuteten. Lautlos und sehr langsam, so erzählte es Sasusa, hätten sich die schwebenden Sphären auf ihn zubewegt, bis sie ihn regelrecht eingekreist hatten. Sie wollten ihm etwas mitteilen, doch besaßen sie keine Stimme. Man vermutet heute, dass die Geister nur durch die Konzentration ihrer Energien in der Lage waren, dem Reverend eine Botschaft zu übermitteln. Diese Botschaft sei mangels Worten über Gefühle und Emotionen, die die toten Seelen dieser Geister in sich trugen, zu übermitteln versucht worden. Eine Art telepathische Übertragung von Empfindungen, jedoch nicht von Gedanken. Dieser Versuch schlug jedoch, wenn man dieser Theorie Glauben schenken möchte, katastrophal fehl.

Zuerst spürte Sasusa nur ein Frösteln. Doch dann fühlte der Reverend eine panische Angst rasch in sich aufsteigen, die ihn völlig ungehindert bis ins tiefste Mark zu durchdringen schien. Es waren Leid, Qualen, Trauer, Schmerz und Wut zugleich, die geballt wie eine Keule auf ihn einschlugen und ihn in grenzenlose Panik versetzten. In seinem Entsetzen schrie Reverend Sasusa in der sicheren Annahme, sein letztes Stündlein schlagen gehört zu haben. Er fiel auf die Knie und bettelte weinend, die Folter zu beenden, denn von allen Emotionen in dieser Welt bombardierten ihn die Geister mit den leidvollsten von ihnen. Irgendwann schwanden Sasusa die Sinne. Als er wieder zu sich kam, waren die Geister fort und der Morgen dämmerte bereits. Noch am selben Tag vertraute er sich schließlich Arthur Farrel an. Völlig aufgelöst erzählte er ihm alles. Und er erzählte ihm auch, dass er nie wieder in die Kirche zurückkehren könne, denn er fürchtete fortan um sein Leben.

Wohl wissend um die unkalkulierbaren Auswirkungen auf die Dorfbewohner bei einer Verbreitung der Geschichte des Reverends, bemühte sich Farrel stundenlang, den Reverend zu beruhigen und ihn davon zu überzeugen, dass sie seine Erlebnisse zunächst für sich behielten. Farrel schlug vor, dass sie beide gemeinsam in die Kirche zurückkehren sollten, um sich von der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit dieses heiligen Ortes zu überzeugen.

Farrel machte in seinen Aufzeichnungen keinen Hehl daraus, dass er begierig darauf war, selbst einmal eine übernatürliche Erscheinung zu erleben, war er selbst doch bisher von derartigen Heimsuchungen verschont geblieben. Als beide Männer in die Kirche zurückkehrten und feststellten, dass es sicher war, räumten beide die Bänke wieder ordentlich in Reih und Glied. Sichtlich erleichtert bedankte sich Sasusa bei Farrel für seine weisen Worte und bat, ihn allein zu lassen. Sasusa gab an, er wolle sich noch einmal im Klaren darüber werden, was letzte Nacht geschehen war, und er wollte seine Erlebnisse dokumentieren. Farrel kam der plötzliche Sinneswandel des Reverends verdächtig vor. Er verließ ihn – vorerst. Am Abend wollte er jedoch noch einmal zurückkehren und nach dem Reverend sehen.

Nach Sonnenuntergang kam Farrel wie geplant wieder. Als er die Außentür zur Kirche aufstieß, schrie er vor Bestürzung auf ob der Gräuel, die seine Augen sehen mussten. Die Sitzbänke lagen wild verstreut herum. Einige waren zerborsten. »Es war mir, als sei ein Riese hier am Werke gewesen und hätte alles in blinder Wut zerstört«, schreibt Farrel. Am anderen Ende des Saals baumelte der leblose Körper von Reverend Sasusa, erhängt an einem Strick. Jede Hilfe kam zu spät. Dieser Vorfall ließ sich freilich nicht geheim halten. Die Dorfbewohner von Lost Haven waren entsetzt. Sie gerieten in Panik, weil die Geister nun anscheinend sogar das Haus Gottes in ihre Gewalt gebracht hatten. Folglich wurde nicht lange überlegt. Man einigte sich hastig darauf, die Kirche zu verbrennen, in der Hoffnung, die Geister, die sich nach wie vor darin befänden, zu vernichten. Niemand wollte mehr jene Kirche betreten und so fiel der Leichnam von Reverend Sasusa ebenfalls den Flammen zum Opfer, so dass ihm ein würdiges Begräbnis verwehrt blieb.

Doch bevor die Flammen die Kirche bis auf ihre Grundmauern vernichtete, gelang es Farrel noch, eine Notiz aus der Schreibkammer des Reverends vor den Flammen zu retten. Auch diese Notiz liegt heute – wenn auch nahezu unleserlich vergilbt - in einer Vitrine des Museums direkt neben Farrels Tagebuch.

Laut Farrel waren folgende Worte darin enthalten: »Vor der letzten Nacht habe ich mich stets gefragt, was dieser verzweifelten Wut der Geister entgegen zu setzen ist. Doch nun weiß ich es besser. Dem unendlichen Leid, das jene Wesen zu tragen haben, ist keine glückliche Wendung beschieden. In ihrer Verzweiflung wollten sie es mit mir teilen, doch überschätzten sie meine Leidensfähigkeit. Sie werden wieder kommen. Dessen bin ich mir gewiss. Doch ich bin nicht gewillt, diesen wüsten Schmerz noch einmal zu erdulden. Ich muss ihnen zuvorkommen.

Vielleicht ist das der Weg, sie zu besänftigen.«

Man kann von dieser Geschichte halten, was man will. Fakt ist aber, dass der Reverend sich erhängt hat, und dass die Kirche wenig später in Brand gesteckt wurde. Als Beweis gab es sogar eine Fotografie der brennenden Kirche, die von Historikern für authentisch befunden wurde. Aufgenommen wurde dieses Bild im Auftrag einer Zeitung, die in einem großen Artikel über die seltsamen Ereignisse in Lost Haven berichtete. Es ist übrigens das einzige Foto aus dem 19. Jahrhundert aus Lost Haven. Das Foto verschwand jedoch aus ungeklärten Gründen in den neunzehnhundertsiebziger Jahren. Dies geschah ausgerechnet in einer Zeit, in der eine wahre Geister-Hysterie ausgebrochen war und Lost Haven zum Quell des Glaubens und des Wissens für alle Geister-Gläubige und selbsternannten Medien aller Art hochstilisiert wurde.

Bis heute gibt es immer wieder Augenzeugen, die angeblich aus dem angrenzenden Wald kommende schwebende Lichter über den Ruinen der Kirche gesehen haben wollen.

Auch wenn ich meine eigenen Erlebnisse der letzten Wochen in keinen erklärbaren Zusammenhang mit dem Schicksal von Reverend Sasusa bringen kann, so gibt es doch eine entscheidende Gemeinsamkeit: Ebenso wie die Leidensfähigkeit des Reverends nach jener Nacht der Heimsuchung, ist jetzt auch die meine vollends aufgebraucht.