Homunkulus Rex

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Homunkulus Rex
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S. G. Felix

HOMUNKULUS REX

Der Tag steht schon fest

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Die zwei Gesellschaften

Kapitel 2: Der endgültige Abschied

Kapitel 3: Warten auf den Klon

Kapitel 4: Robert2 = ?

Kapitel 5: Das alte und das neue Leben

Kapitel 6: Der Schatten des Zweifels

Kapitel 7: Das eigene Ich

Kapitel 8: Außer Kontrolle

Kapitel 9: Eskalation

Kapitel 10: Der Jäger

Kapitel 11: Die Beute

Kapitel 12: Ungebetener Besuch

Kapitel 13: HK-17 - Dein Freund und Helfer

Kapitel 14: Mit dem Rücken zur Wand

Kapitel 15: Kompetenzgerangel

Kapitel 16: Die Flucht

Kapitel 17: Um Haaresbreite

Kapitel 18: Trans Continental Supra

Kapitel 19: Schuld

Kapitel 20: Die Fährte

Kapitel 21: Stopp in der Wüste

Kapitel 22: Druck

Kapitel 23: Kälte

Kapitel 24: Flucht durch die Wüste

Kapitel 25: Ein neuer Auftrag

Kapitel 26: Misstrauen

Kapitel 27: Verschwörung

Kapitel 28: Das Recht auf Dasein

Kapitel 29: Die Fährte

Kapitel 30: Vertrauen

Kapitel 31: Flucht 2.0

Kapitel 32: Unerbittlichkeit

Kapitel 33: Höhenangst

Kapitel 34: Wunden lecken

Kapitel 35: Vertuschung

Kapitel 36: Riskantes Spiel

Kapitel 37: Cloud 4

Kapitel 38: Falsches Spiel

Kapitel 39: Riskante Entscheidung

Kapitel 40: Die Falle

Kapitel 41: Fleisch und Blut

Kapitel 42: Endstation

Kapitel 43: Entkommen

Kapitel 44: Der Absturz

Kapitel 45: Schlussakt?

Kapitel 46: Tiefe

Kapitel 47: Das Undenkbare

Kapitel 48: Folie à deux

Epilog

Prolog

»Ich will, dass Sie sich im Klaren darüber sind, worauf Sie sich einlassen, Herr Mester. Ihre Entscheidung wird nämlich unumkehrbar sein.

Ich werde Ihnen am Ende unseres Gesprächs zwei Fragen stellen. Die erste Frage wird lauten, ob Sie alles verstanden haben, was ich Ihnen erklärt habe. Als Zweites werde ich Sie danach fragen, ob wir mit Ihrem Auftrag beginnen sollen. Bejahen Sie beide Fragen, werden wir mit der Produktion Ihres Klons beginnen und alle Vorbereitungen treffen, um Sie aus dem Land herauszubekommen. Ihr altes Leben wird ab diesem Zeitpunkt enden. Es gibt dann kein Zurück mehr.«

Robert Mester schluckte trocken. Sein Herz raste. Ihm war übel. Mit zittriger Hand kratzte er sich am Nacken. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Für einen kurzen Moment fasste er den Entschluss, vom Stuhl aufzuspringen, sich für die Zeit seines Gegenübers zu bedanken und fluchtartig den dunklen Raum zu verlassen. Aber dann wischte er diesen feigen Wunsch beiseite und nickte stumm.

»Ich weiß, dass Sie aufgeregt sind. Da sind Sie wahrlich nicht der erste Kunde, dem bei diesem Vorhaben die Knie weich werden«, sagte der junge Mann, der ihm am Tisch gegenüber saß. Robert schätzte ihn auf Ende zwanzig. Der Mann sah nicht wie ein Vertreter aus, der einem auf Teufel komm raus etwas verkaufen wollte. Er war blass und hatte eine alte Jeans und ein graues Hemd an, dem ein Knopf fehlte. Er faltete die Hände und machte einen erstaunlich aufgeräumten und fachkundigen Eindruck. »Es ist aber unnötig, sich aufzuregen. Wir sind Profis. Wir wissen, was wir tun.«

»Das hört man gern. Ich zweifle nicht daran, dass Sie Ihren Job verstehen. Nicht nach allem, was Sie mir schon erklärt haben. Ich will nur nichts falsch machen.«

»Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch. Es gibt nur Entscheidungen, Herr Mester. Sie stehen hier nicht vor Gericht. Und hier kann Sie niemand heimlich abhören. Sie können offen aussprechen, was Sie denken. Und Sie müssen sich dabei nicht schuldig fühlen. Das, was Sie wollen, ist nichts Unrechtes. Das ist es nur für diejenigen, die uns glauben machen wollen, dass es Unrecht sei.

Sie wollen einen Klon von sich anfertigen lassen. Das ist laut geltendem Recht strengstens verboten und wird mit mindestens zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft.«

»Das weiß ich.« Die Konsequenzen laut auszusprechen half Robert überhaupt nicht. Es ängstigte ihn.

»Gut. Aber wir beide wissen auch, dass die Eliten dieses Landes sehr wohl Klone von sich machen lassen können, und niemand von denen musste bisher deswegen ins Gefängnis. Und wissen Sie warum? Weil sie zu den Eliten gehören. Sie sind Stars, Politiker, Wirtschaftsbosse, Banker oder gehören zum einflussreichsten Bevölkerungsanteil der leistungslosen Erben, die es sich leisten können. Bei diesen Menschen sehen die Behörden gerne weg. Manchmal gegen eine großzügige Zuwendung, die es offiziell natürlich nicht gibt. Und manchmal auch ohne Bestechung.

Wir aber, Herr Mester, wir gehören nicht zur Elite. Wir sind diejenigen, die Tag und Nacht vom Staat überwacht werden, weil wir unseren Lebensunterhalt nur durch Arbeit bestreiten können.

Würden wir beide uns jetzt auf offener Straße und nicht in diesem Raum unterhalten, würde das durch die öffentlichen Überwachungskameras aufgezeichnet, und eine KI würde unser Verhalten als verdächtig einstufen, nur weil zwei Fremde ein längeres Gespräch miteinander führen. So weit ist es mittlerweile gekommen. In der real existierenden Zwei-Klassen-Gesellschaft sind wir die Entrechteten.«

Robert hatte eigentlich nicht viel übrig für gesellschaftskritische Debatten. Er wollte nur seinen Traum verwirklichen. Aber er ließ sein Gegenüber ausreden, um die Motivation der Leute, in deren Hände er sich begeben wollte, zu verstehen.

»Was Sie tun wollen, Herr Mester, ist nichts anderes als für sich das in Anspruch zu nehmen, was jedem Menschen zustehen sollte: Freiheit. Deshalb will ich, dass Sie Gedanken an Gefängnis und Strafen oder Verbote vergessen; Sie machen sich sonst nur verrückt.«

Robert kratzte sich wieder am Nacken. Eine Übersprunghandlung, die kaum gegen seine Nervosität half. »Ich verstehe. Dennoch mache ich mir über die Risiken Sorgen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, als einen Klon von mir zu erschaffen, um das Land zu verlassen, dann würde ich sie nutzen.«

»Es gibt mit Sicherheit andere Möglichkeiten. Sie könnten versuchen, Ihren Tod vorzutäuschen. Das war bis vor einigen Jahren noch die beliebteste Methode. Heute ist dies aber de facto unmöglich. Der Staat kennt die Tricks seiner Abweichler. Die Erschaffung eines Klons, der Ihr Leben übernehmen wird, ist jetzt der sicherste Weg. Denn er ist teuer. Wir haben das nun schon einige hundert Male gemacht. Und bisher hat es immer funktioniert.«

 

»Das klingt gut.« Robert entspannte sich ein wenig aufgrund dieser Information.

»Ich erkläre Ihnen jetzt noch einmal zusammengefasst den Ablauf.« Der junge Mann nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas und stellte es sorgsam wieder auf dem Tisch ab. »Nach Ihrem OK beginnen wir mit der Produktion des Klons. Das wird einige Wochen dauern. Es können aber auch bis zu drei Monate sein. Gibt es hierbei Probleme, werde ich Sie informieren.«

»Wie werden Sie mit mir in Kontakt treten?«

»So wie wir an Sie das erste Mal herangetreten sind, als wir Sie auf Ihrem Weg nach Hause von Ihrer Arbeit abgefangen haben. Unsere Treffen werden aber vielleicht nicht an diesem Ort hier stattfinden. Dieser Keller ist nur einer von vielen Orten, die wir nutzen. Wir haben mehrere Stützpunkte, die von der Überwachung des Staates verschont sind.«

»Kann ich umgekehrt auch Sie und Ihre Organisation kontaktieren?«

»Nein, das wäre zu gefährlich. Wir kommen auf Sie zu. Umgekehrt ist es nicht möglich. Da müssen Sie uns schon vertrauen.«

Robert gefiel der Gedanke nicht. »Wenn es denn nicht anders geht«, sagte er enttäuscht.

»Sicher würde es gehen, aber wir wollen kein Risiko eingehen - und Sie doch auch nicht.«

Robert war sich im Klaren, dass er immenses Vertrauen aufbringen musste, um die Sache durchzuziehen. Es gab hier keinen Vertrag mit Unterschrift, keine Kontaktadressen, kein Widerrufsrecht oder dergleichen. Er bewegte sich außerhalb des Gesetzes. Das wurde ihm allmählich bewusst. Es wurde ihm erschreckend klar. »Schon gut, ich habe verstanden. Fahren Sie bitte fort.«

»Wenn der Klon fertig ist und einwandfrei funktioniert, erfolgt der technisch gesehen schwierigste Teil. Dieser beinhaltet erstens die Übertragung Ihres implantierten Überwachungschips auf den Klon. Und zweitens die Übertragung sämtlicher gespeicherter Informationen der Synapsen aus Ihrem Gehirn auf das Gehirn des Klons.«

»Das bedeutet, dass er alles wissen wird, was ich weiß? Auch meine intimsten Geheimnisse?«

»Ausnahmslos alles«, sagte der junge Mann und sah Robert fest in die Augen. »Er wird von da an nicht nur Ihr Wissen erhalten. Er wird dieselben Erfahrungen, Gefühle, Vorlieben und Abneigungen haben. Dieselben Sorgen und Ängste. Er wird nicht nur eine perfekte Kopie sein. Er wird Sie sein, Herr Mester.«

Robert atmete tief durch, hatte aber trotzdem das Gefühl kaum Luft zu bekommen. »Ich verstehe. Und was ist mit dem Chip in meinem Nacken? Werde ich fortan ohne leben?«

Jeder Bürger vom Säugling bis zum Greis war verpflichtet, einen Überwachungschip in seinem Nacken implantiert zu haben. Heutzutage erfolgte die Implantierung sofort nach der Geburt eines Menschen. So wie es bei Robert auch der Fall war. Der Chip diente zum einen der Überwachung der vitalen Funktionen, um nach offiziellen Angaben die Gesundheit der Bürger sicherzustellen. Zum anderen war es möglich, den Träger des Chips zu orten. Dies war allerdings gesetzlich reglementiert und beschränkt. Eine dauerhafte Nachverfolgung des Aufenthaltsortes einer Person war untersagt. Sie sollte lediglich der Sicherheit dienen und daher nur in Ausnahmefällen von einer autorisierten Behörde ermöglicht werden. Die Liste der Ausnahmen war jedoch im Laufe der Zeit seit Einführung des Chips länger und länger geworden. Es reichte schon aus, wenn jemand ein Taschentuch auf einem von Kameras überwachten öffentlichen Platz fallen ließ, was eine Ordnungswidrigkeit darstellte, deren rechtssichere Verfolgung die Identifizierung des Signals des Chips zur Verifizierung des 'Tathergangs' möglich machte. In der Praxis war es also eher umgekehrt: Die Nicht-Ortung einer Person wurde mehr und mehr zur Ausnahme, obwohl dies dem Sinn des Gesetzes widersprach.

Robert würde also nach der Transplantation des Chips aus seinem Nacken in den seines Klons ein Risiko eingehen, da er ohne Chip in der Öffentlichkeit nicht auffallen durfte. Ebenso konnte er dann nicht mehr zur Arbeit gehen, denn der Chip diente unter anderem auch zur Registrierung seines täglichen Arbeitsbeginns und dessen Endes.

»Sie werden für ein paar Tage ohne Chip leben. Dazu ist es erforderlich, dass Sie in der Zeit in Ihrer Wohnung bleiben, während Ihr Klon an Ihre Stelle tritt und mit Ihrem Chip zur Arbeit gehen wird. Bevor wir Sie aus dem Land bringen, bekommen Sie einen neuen Chip. Er wird Ihnen eine andere Identität geben, mit der wir die zahlreichen Grenzkontrollen passieren können.«

»Eine andere Identität? Aber wenn jemand mein Gesicht aufnimmt und mit der Datenbank abgleicht, wird man feststellen, dass ich Robert Mester bin und nicht jemand anderes. Dann bin ich doch aufgeflogen. Da nützt mir doch die Identität auf meinem neuen Chip nichts.«

»Das stimmt nur zum Teil. Nicht jedes System erkennt, dass es zwei Identitäten zu Ihrem Gesicht gäbe. Aber für den Fall, dass doch, werden wir auf unserem Weg zu Ihrem Ziel Orte meiden, an denen Kameras Gesichtserkennung durchführen können. Dort, wo es sich nicht vermeiden lässt, arbeiten wir mit ein paar Tricks, um die Technik zu täuschen. Für solche Fälle haben wir nämlich unsere Spezialisten.«

»Ach ja? Wie soll das gehen?«

»Das überlassen Sie mal uns. Das ist manchmal sehr aufwendig, und manchmal ist es auch ganz einfach. Das hängt auch davon ab, welchen Weg und welche Transportmittel wir nehmen werden.«

»Sie sprechen immer von wir. Werden Sie mich begleiten?«

»Sehr wahrscheinlich. Doch das kann ich nicht garantieren. Sie werden aber auf keinen Fall alleine reisen. Nur wir kennen die Fallen, in die Sie auf Ihrem Weg tappen könnten. Ohne uns wäre dieser Trip, den Sie vorhaben, zum Scheitern verurteilt.«

»Gut.« Das war für Robert eine der wichtigsten Maßnahmen zur Vertrauensbildung. Er würde die ganze Zeit jemanden an der Hand haben, der ihn führte. Der All-Inclusive-Service, sozusagen. Es ging nämlich nicht darum, dass Robert mit falscher Identität reisen musste. Das eigentliche Problem war, dass er in einer Zeit lebte, in der Urlaubsreisen in ferne Länder zwar unter strengen Auflagen möglich waren, es aber bis auf absolute Ausnahmen illegal war, in ein fremdes Land zu migrieren, um dort dauerhaft zu leben. Das galt zumindest für Menschen, die Roberts Klasse angehörten. Wie es dazu kommen konnte, dazu später mehr. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass Roberts Wunsch, auf einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen, ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis bringen konnte, wenn er aufflog. Er riskierte alles, was er sich mühsam erarbeitet hatte. Aber er war sein Leben leid, und nun bot sich ihm dank eines Erbes die eine Chance, die man kein zweites Mal im Leben erhält.

Der Plan war daher im Grunde genommen simpel. Roberts Klon würde sein Leben übernehmen. Er würde jeden Morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen. Er würde Freunde treffen, mit ihnen essen oder ins Kino gehen. Er würde all das tun, was Robert zuvor auch getan hatte. Sein Klon würde alt werden, ohne jemals Kinder gezeugt, geschweige denn eine Familie gegründet zu haben. Er würde alleine sterben, ohne jemals irgendjemandem aufgefallen zu sein oder etwas Bedeutendes getan zu haben.

Robert hingegen würde - sofern seine Flucht erfolgreich verlaufen sollte - am anderen Ende der Welt ein Leben in Freiheit führen. Ohne Überwachung, ohne Bevormundung und ohne Zwang. Niemand würde nach ihm fahnden und ihn öffentlich an den Pranger stellen, so wie es mit Verbrechern in dieser Zeit üblich war. Denn sein Klon würde seinen Platz in seinem alten Leben eingenommen haben. Es war der perfekte Plan. Nur seine Umsetzung war schwierig und gefährlich. Aber Robert war bereit, dieses Risiko einzugehen, denn nichts verabscheute er mehr als sein jetziges Dasein.

»Sie brauchen sich also keine Sorgen machen, Herr Mester. Wir werden Sie bis zu Ihrem Ziel nach Kamtschatka begleiten. Erst wenn Sie sicher angekommen sind, und wir uns vergewissert haben, dass unser kleiner 'Trip' unbemerkt geblieben ist, werden wir Sie in Ihre wohlverdiente Freiheit entlassen und damit auch abschließend die Abbuchung für unser Arrangement veranlassen. Sie zahlen also erst, wenn alles vorbei ist.

Mehr ist nicht zu sagen. Brauchen Sie noch ein wenig Bedenkzeit?«

»Nein.«

»Also frage ich Sie: Haben Sie jetzt alles verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Ja«, antwortete Robert schnell.

»Sollen wir mit der Produktion des Klons beginnen?«

Robert hatte ursprünglich geglaubt, dass er im letzten Moment die Nerven verlieren und alles abblasen würde. Nächtelang hatte er wachgelegen und immer wieder mit dem Gedanken gespielt, es sein zu lassen und seinem erbärmlichen Leben eine zweite Chance zu geben. Jetzt aber, in dem Augenblick seiner Entscheidung, war er ganz ruhig und besonnen. Er schloss kurz die Augen. Und das, was er dann vor sich sah, war nicht die Gefahr, in die er sich begab, sondern es war sein neues Leben, das auf ihn wartete. In den schroffen Weiten Kamtschatkas, dem wahrscheinlich letzten Ort der Welt, an dem der Begriff Freiheit nicht zur Makulatur geworden war, sah er seine ganz persönliche Erlösung vor sich. So klar wie nie zuvor. Darum fiel ihm die Antwort auf die letzte entscheidende Frage auch nicht schwer.

»Ja, beginnen Sie mit der Produktion des Klons«, sprach er. Seine Augen leuchteten.

Und mit diesem Satz setzte Robert Ereignisse in Gang, die so folgenschwer waren, dass sie als der Fall 'Homunkulus Rex' in die Geschichte eingehen sollten.

Kapitel 1: Die zwei Gesellschaften

»Ich wusste, dass Sie sich dafür entscheiden würden«, sagte der junge Mann erfreut, stand von seinem Stuhl auf und reichte Robert die Hand.

Per Handschlag besiegelt, dachte Robert und lächelte. Das würde der beste Deal sein, den er je gemacht hatte.

»Um sicherzustellen, dass Ihr Aufenthalt hier in diesem Gebäude keine Fragen aufwirft - falls jemand sich dafür später einmal interessieren sollte - müssen Sie jetzt nach oben gehen und sich in das Restaurant setzen. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie durch die Hintertür hineinlässt. Bestellen Sie etwas. Essen Sie und lassen Sie sich Zeit. Danach gehen Sie ganz normal wieder nach Hause.«

»Ich verstehe«, sagte Robert. »Hier im Untergeschoss ist das Signal meines Ortungschips nicht lokalisierbar, richtig?«

»Ihr Signal ist permanent rückverfolgbar. Aber es wird sich nicht unterscheiden lassen, ob Sie hier im Keller waren oder oben im Restaurant. Sollte Sie also jemand fragen, was Sie in diesem Gebäude so lange getan haben, sagen Sie, dass Sie im Restaurant waren.«

»Na hoffentlich wird mich niemand fragen.«

»Ganz bestimmt nicht. Seien Sie unbesorgt.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Wir melden uns dann bei Ihnen.«

»Alles klar.«

Robert war schon auf dem Weg zur Tür, als sein Auftragnehmer zu seiner Überraschung sagte: »Übrigens, mein Name ist Hendrik.«

Robert drehte sich noch einmal um. »Ist das Ihr echter Name?«

Hendrik lächelte schief. »Das ist der Name, den Sie sich merken sollten.«

Robert nickte und verließ den Raum. Jemand hielt ihm oben im Erdgeschoss eine Tür auf und schon befand er sich im Inneren des italienischen Restaurants. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ein Kellner erschien und ihm die elektronische Speisekarte überreichte. Robert bestellte sich nur eine kleinere Portion Spagetti und ein Mineralwasser. Er bezweifelte, ob er überhaupt etwas herunterbekommen würde, so aufgeregt war er.

In dem dunklen Raum mit Hendrik hatte er sich im entscheidenden Moment der Auftragsbestätigung selbstsicher und stark gefühlt. Aber jetzt zurück an der Oberfläche, dem wirklichen Leben, sackte ihm das Herz in die Hose.

Er versuchte sich beruhigen und sah aus dem Fenster. Auf der Straße fuhren beinahe geräuschlos die autonom gesteuerten Fahrzeuge vorbei. Einige Lieferwagen und die unzähligen shared cars, also die Leihfahrzeuge, die fast ausschließlich von der arbeitenden Bevölkerungsklasse genutzt wurden. Autonom fahrende Autos als Eigentum, das war für diesen Teil der Gesellschaft nicht mehr erschwinglich. Der letzte Hersteller, der noch bezahlbare Fahrzeuge gebaut hatte, musste Insolvenz anmelden, kurz bevor Robert vor knapp 42 Jahren geboren wurde. Die Rendite war auch in jener Zeit, in der Robert lebte, immer noch das alles bestimmende Dogma.

 

Während es also in dieser Zukunft, in der wir uns befinden, normal war, dass vier oder auch acht Menschen der arbeitenden Klasse in einem shared car saßen, um sich von A nach B autonom transportieren zu lassen, konnte sich dagegen die Klasse der leistungslosen Geldelite ein eigenes Gefährt (meistens nicht nur eines) leisten, das sie mit niemandem teilen musste. Gegen einen Aufpreis konnte man sogar die Genehmigung erwerben, das Fahrzeug selbst zu steuern, des emotionalen Fahrerlebnisses wegen, wie es die Marketingabteilungen der Hersteller formulierten.

Positive Emotionen waren für Menschen wie Robert kein Mittel der Marketingabteilungen der Unternehmen. Für Roberts Klasse nutzte man vor allem die Angst als Verkaufsargument. Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor dem Alter, Angst, sich falsch zu ernähren, Angst, nicht vorgesorgt zu haben, Angst, seine Wohnung zu verlieren - mit der Angst ließ sich noch bei der arbeitenden Bevölkerung viel Geld verdienen.

Um nicht einen falschen Eindruck entstehen zu lassen, sei vorweggenommen: Menschen wie Robert waren keine unmündigen Arbeitssklaven, die davon träumten, das Leben der Reichen zu führen. Robert hatte anders als andere Geringqualifizierte durch einen vergleichsweise gut bezahlten Job eine eigene Wohnung, die zum Teil vom Arbeitgeber mitfinanziert wurde. Er konnte zweimal im Jahr Urlaub machen, hatte sonntags frei, ging wählen und besaß eine hervorragende Krankenversicherung. Er zahlte in einen Rentenfonds ein, von dem er hoffte, seine Wohnung im Alter halten zu können. Nicht wenige Menschen waren der Meinung, das wäre ausreichend für ein auskömmliches Leben. Aber das war es eben nicht. Viele Privilegien für Menschen, die der Geldklasse angehörten, auch umgangssprachlich A-Klasse genannt, standen der B-Klasse, zu der Robert gehörte, nicht zu. Dazu gehörte zum Beispiel das Gründen einer Familie. Kinder zu bekommen, war für arbeitende Menschen schlicht unfinanzierbar geworden, geschweige denn bezahlbaren Wohnraum für eine Familie zu finden.

Politiker fast aller Parteien sprachen immer davon, die Gesellschaft sei gespalten. Aber die Wahrheit war, dass es die Gesellschaft nicht mehr gab. Es gab zwei Gesellschaften. Diejenige, die Geld hatte und das Geld für sich arbeiten lassen konnte, und die andere, die sich Geld erarbeiten musste. So wie Robert. Beide Gesellschaften trennten Welten in jedweder Hinsicht. Die größere der beiden, die A-Gesellschaft, lebte in ihren eigenen hermetisch abgeriegelten Ballungsräumen. Sie besaß eine eigene Infrastruktur, eigene Polizei und eigene Konsumwelten. Berührungspunkte mit der B-Gesellschaft gab es praktisch überhaupt nicht mehr. Der eigene Kosmos, in dem man jeweils lebte - der von Gesellschaft A und der von Gesellschaft B - war dem jeweils anderen derart fremd geworden, dass man sich nichts mehr zu sagen hatte. Und Roberts Gruppe von Menschen geriet mehr und mehr zur Minderheit, was bedeutete, dass Parteien und Organisationen, die seine Gesellschaftsklasse vertraten, immer weniger Einfluss hatten. Eine gefährliche Entwicklung, die schon zu manchen gewaltsamen Aufständen in den großen Metropolen der Welt geführt hatte. An den letzten großen Aufstand in London erinnerte sich Robert noch gut. Er war dort zu einem Kurztrip unterwegs und geriet mitten in den Mob, der allerdings schnell von Polizei und Militär unter Kontrolle gebracht wurde.

Dennoch: Die Wut wuchs - weltweit.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Ein wesentlicher Grund mit der größten Wirkung war die rasant fortschreitende Entwicklung in der Robotik und der künstlichen Intelligenz. Von vielen Politikern jahrelang dramatisch unterschätzt, revolutionierte die Robotik zuerst die Industrie und drang schließlich in jeden nur vorstellbaren Lebensraum des Menschen vor. Robert hatte von seinem Großvater erzählt bekommen, dass es unter anderem mit Robotern begann, die Autokarosserien zusammenschweißten. Heute gab es nichts, was ein von einer künstlichen und lernfähigen Intelligenz gesteuerter Roboter nicht erledigen konnte. Vom normalen Straßenarbeiter, dem Müllmann, der Krankenschwester oder dem Vertriebsmanager über den Chirurgen, der komplizierte Operationen mit absoluter Präzision durchführte, bis hin zum Wissenschaftler, der das Universum erforschte. Alles konnte durch künstliche Maschinen und Intelligenzen erledigt werden. Und alles wurde schneller, präziser und rentabler als jemals zuvor erledigt.

Jobs für Menschen wurden dramatisch weniger. Man war sich des Problems seitens des Gesetzgebers bewusst, so dass mehrere Versuche unternommen wurden, Quoten für einen bestimmten Anteil von Menschen in den meisten Berufsgruppen durchzusetzen - ohne großen Erfolg. In einem internationalen Wettbewerb machte ein Quotensystem keinen Sinn, wenn sich nicht alle Länder der Erde daran hielten. Roberts Großvater hatte ihm gesagt, es läge in der Natur des Kapitalismus, nach immer Höherem zu streben. Es würde immer einen geben, der den anderen übervorteilen wolle. Und so konnte man auch in Europa, das lange Zeit eines der strengsten Quotensysteme zur Erhaltung der Beschäftigung von Menschen besaß, nicht verhindern, dass die Auflagen zugunsten des internationalen Wettbewerbs systematisch ausgehöhlt wurden. Die Maschinen verdrängten den Menschen wie eine Naturgewalt. Viele Berufsgruppen waren für Menschen mittlerweile ausgestorben.

Lange bevor Robert geboren wurde, entwickelte man daher ein Konzept, das die Bevölkerung an der Wertschöpfung der Maschinen teilhaben lassen sollte. Dieses Konzept funktionierte ähnlich einer Aktienbeteiligung, nur mit dem Unterschied, dass man nicht an Unternehmen beteiligt war, sondern an deren wertschöpfenden künstlichen Arbeitskräften. Dieses Beteiligungssystem sollte so praktisch jedem Bürger eine Rendite erbringen, von der er einen Großteil oder im Idealfall seinen ganzen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Das System war aber bei seiner Einführung extrem kompliziert und hatte viele Gegner. Es wurde argumentiert, es sei nicht vermittelbar, dass jedem Bürger dadurch praktisch leistungslos Einkommen zur Verfügung stehen würde. Er müsse es sich doch verdienen. In der Folge wurde daher viel und oft an den Bestimmungen zur sogenannten Roboter-Teilhabe herumgedoktert, was letztlich dazu führte, dass hohe Mindestinvestitionssummen erbracht werden mussten - analog zu heutigen Hedgefonds. Aber im Laufe der Zeit wurden diese Mindestinvestitionssummen so hoch, dass kein Normalverdiener diese erbringen konnte. Die Roboter-Teilhabe wurde dadurch und durch Missmanagement sowie fehlgeleitete Interessenpolitik zu einem Investitionsinstrument ausschließlich für Vermögende. Und deren Anteil an der Bevölkerung wuchs und wuchs, denn anders als Roberts Klasse, die mittlerweile praktisch ausgeschlossen von der Roboter-Teilhabe war, konnte diese Gruppe ihre Rendite sorgenfrei in die eigene Familienplanung investieren.

Es hatte viele Aufstände deswegen gegeben, aber die politischen Parteien waren zunehmend zerstritten und wurden durch ihre Spender, die ausschließlich aus der Wirtschaft kamen, in ihrem Handeln im Sinne einer gesamtwohlstandsfördernden Politik gehemmt oder behindert.

Fadenscheinige Gründe wurden in öffentlichen Diskussionen stets schnell vorgebracht, wenn es darum ging, warum Menschen wie Robert nicht in die Roboter-Teilhabe investieren durften. Menschen wie er müssten es sich verdienen, trug die Lobby der Vermögenden vor, obwohl das allein durch Arbeit inzwischen unmöglich geworden war, um die Mindestinvestitionssummen aufzubringen. Schließlich hätten die Reichen es sich auch eines Tages selbst verdient, wobei gerne verschwiegen wurde, dass der Löwenanteil des heute im Umlauf befindlichen Vermögens durch Vererbung und Verzinsung entstand und eben nicht mehr durch Leistung. Und das Geld, das Milliardäre horteten und nicht reinvestierten, befand sich damit faktisch in einer Sackgasse.

Die Lebenswirklichkeit für Robert war also die, dass er mit den Maschinen, an deren Wertschöpfung er eigentlich beteiligt hätte werden sollen und können, um die Arbeit konkurrieren musste. Aber es war ein ungleicher Kampf, den die Maschinen mehr und mehr für sich entschieden. Arbeit für Menschen wie ihn wurde weniger. Die Arbeitslosigkeit stieg, ebenso wie Frust und Demotivation. Aber Robert konnte sich eigentlich noch glücklich schätzen, denn er hatte einen Job in einer Einrichtung für einen großen Computerserver-Verteilerknoten. Wie lange er diese bezahlte Arbeit noch machen konnte, stand aber in den Sternen.

Durch das Erbe seiner Tante - die einzige Verwandte, die er noch gehabt hatte - wurde ihm eine einzigartige Möglichkeit eröffnet. Sicher, mit der üppigen Erbschaft könnte Robert in eine bessere Wohnung ziehen und sich einen guten Anteil an einem Roboter-Fonds kaufen. Er könnte beruflich kürzertreten und hätte mehr Zeit für sich. Aber das war es nicht, was er wollte. Er wäre immer noch ein Gefangener in einem Käfig. Er wäre immer noch in seinem Tun fremdbestimmt. Er wäre nie wirklich frei. Das könnte er nur sein, wenn er seine Heimat hinter sich lassen und an einen Ort fliehen würde, von dem viele glaubten, er existiere nicht. Doch Robert wusste es nun nach seinem Kontakt zu der Organisation, die seinen Klon erstellte, besser. Der Ort, der auch als Infintiy Horizon bezeichnet wurde, existierte.

Das Einzige, das Robert bedauerte, war, dass es niemanden in seinem Leben gab, an dessen Seite er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Lange Zeit hatte er gehofft, dass Nicole es sein würde. Aber seine schier endlosen und offensichtlich mangelhaften Werbungsversuche waren vergeblich geblieben...