Geisterzorn

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Warum eigentlich nicht?«, sagte ich und griff wie in Trance nach den Autoschlüsseln auf der Kommode, als plötzlich das Quietschen einer Tür im ersten Stock meine Gedanken unterbrach und mich zusammenzucken ließ.

Das Quietschen kannte ich nur zu gut. Es war die Tür zu meinem Schlafzimmer. Sie quietschte immer ein wenig, wenn man sie auf den letzten Zentimetern ganz langsam zu- oder aufzog.

Aber von alleine hatte sie noch nie gequietscht, auch dann nicht, wenn es im Haus Zug gab, weil ein paar Fenster offen standen. Verunsichert horchte ich in die anschließende Stille und schaute die Treppe hoch, an deren Ende es dunkel war. Ich bin kein ängstlicher Mensch. Aber ich spürte, wie mein Herz pochte, weil ich wusste, dass ich immer die Tür zum Schlafzimmer geschlossen hielt, wenn ich mich nicht dort drin befand.

»Hallo?«, fragte ich in die Dunkelheit. Kaum hatte ich das getan, kam ich mir reichlich dämlich vor.

Ich betätigte den Lichtschalter an der Treppe für das Obergeschoss. Dann ging ich entschlossenen Schrittes nach oben. Im Obergeschoss gab es drei Schlafzimmer, ein Bad und ein kleines Arbeitszimmer, in dem ich früher vorhatte, meine Romane zu schreiben. Heute diente es nur noch als Rumpelkammer. Mein Schlafzimmer war auf der dem Garten beziehungsweise der zum Meer zugewandten Seite. Die Treppe verlief auf dieses Zimmer gerade zu. Oben angelangt stellte ich fest, dass die Schlafzimmertür tatsächlich ein Stück weit offen stand. Ich zögerte einen Moment. Dann machte ich die Tür ruckartig ganz auf und schnellte mit der Hand zum Lichtschalter. Ich atmete erleichtert auf, als ich mein Schlafzimmer so vorfand, wie ich es erwartet hatte. Leer. Ich griff mir mit spitzen Fingern an meine Brille und schob sie zurecht. »Trottel.« Ich hatte wohl einfach vergessen, die Tür zu schließen, auch wenn das nicht erklärte, warum sie sich überhaupt bewegt hatte. Alle anderen Türen und Fenster im Obergeschoss waren verschlossen. Aber das war mir in dem Moment egal. Ich war unglaublich müde. Vergessen waren die Selbstmordgedanken. Mal wieder.

Ich ging ins Bad und wollte noch mal duschen, bevor ich schlafen ging. Als ich mich ausgezogen hatte und den Hahn aufdrehte, hörte ich plötzlich ein lautes Poltern von unten. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich in der Dusche fast ausgerutscht wäre. Hektisch schloss ich den Wasserhahn, krallte mir ein Handtuch und stürmte die Treppe runter. Während ich die Stufen hinunter hastete, fiel mir ein, dass ich den Fernseher nicht ausgemacht hatte. Vielleicht war der Ton plötzlich angesprungen? Ich machte überall Licht. Zuerst im Flur, dann im Wohnzimmer und dann in der Küche. Der Fernseher war zu meiner Überraschung aus.

Hatte ich ihn ausgemacht? Nein.

Vielleicht hatte Peter ihn ausgeschaltet, als ich nicht hingesehen hatte. Aber das war eigentlich völlig egal, denn woher kam das verdammte Poltern? Nacheinander kontrollierte ich alle Fenster und die Verandatür. Alles dicht. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich ratlos in meinem Wohnzimmer um. Wie es in meiner Natur lag, suchte ich nach einer rationalen Erklärung.

Der Fernseher! Vermutlich hatte er sich aufgrund einer Störung von selbst ausgeschaltet, als ich oben im Bad war und hatte dabei ein Störgeräusch über die Lautsprecher ausgegeben. Sogleich griff ich nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ein. Bild und Ton waren ganz normal. Ich wartete noch einen Moment, dann stellte ich den Fernseher endgültig ab und zog sicherheitshalber den Stromstecker aus der Steckdose. Da ich die Möglichkeit eines potentiellen Einbrechers nicht ausschloss, überprüfte ich nochmals sämtliche Räume im Haus und drehte mit einer Taschenlampe eine Runde durch den Garten. Anschließend entschloss ich mich, überall Licht brennen zu lassen und ließ überall die Jalousien runter. Ich duschte danach noch ganz leise, immer ein Ohr nach draußen gerichtet. Aber es blieb still. Müde sackte ich in die Mitte des Ehebettes und legte meine Brille auf den Nachttisch am Fenster. Die Schlafzimmertür ließ ich ein großes Stück weit offen. Ich löschte das Licht und blickte zum Türspalt. Es drang genug Licht zu mir herein, so dass ich mich sicher fühlte, aber nicht soviel, dass es zu hell wurde. Normalerweise schlief ich immer bei völliger Dunkelheit, weil ich so einen besseren Schlaf bekam.

Ich lag noch eine gute Stunde so da, den Blick auf den Türspalt gerichtet.

Es dauerte bis halb vier Uhr morgens, bis ich endlich eindöste. Doch bevor ich in richtigen Schlaf versank, verspürte ich auf einmal einen stechenden Kopfschmerz, der von der linken Schläfe ausstrahlte und sich dann schnell im ganzen Kopf ausbreitete.

»Mann! Was ist das denn jetzt wieder?«, sagte ich entnervt und rieb mir die Schläfe. Ich litt nur sehr selten unter Kopfschmerzen. Nach so einem Tag wie heute war für mich ein Brummschädel jedoch keine große Überraschung. Als ich noch getrunken hatte, bekam ich nie Kopfschmerzen. Der Gedanke, jetzt aufzustehen zu müssen, ins Bad zu gehen, um mir Kopfschmerztabletten zu nehmen, missfiel mir, da ich gerade noch kurz vorm Einschlafen gewesen war.

Widerwillig zog ich die Bettdecke weg und just in diesem Augenblick überfiel mich eine eisige Kälte, die mir schlagartig eine Gänsehaut bescherte. Zunächst dachte ich mir nichts Schlimmes dabei, sondern hoffte nur, dass ich nicht Schüttelfrost und Fieber infolge einer Infektion bekam.

Doch dann, kurz bevor ich mich im Bett aufrichtete, quietschte die Schlafzimmertür. Ich schrie auf und riss den Kopf herum. Irgendein schwarzer Umriss bedeckte einen Teil des Türspalts und verhinderte das Eindringen des Lichts von draußen. Ohne meine Brille konnte ich nichts Genaueres erkennen. Panisch streckte ich meinen Arm nach der Nachttischlampe auf der anderen Seite des Bettes aus. Statt den Schalter zu ergreifen, schlug ich ungelenk die Lampe zu Boden. Ich krabbelte an den Rand des Bettes und tastete mit den Händen nach der Lampe. Statt der Lampe ergriff ich sofort den Schalter am Stromkabel und drückte drauf. Zu meinem Glück funktionierte die Lampe noch. Ich warf mich im Bett herum und starrte auf den Türspalt. Es war nichts zu sehen, soweit ich das ohne Brille beurteilen konnte. Mit dem Blick auf die Tür gerichtet, tastete ich nach meiner Brille auf dem Nachttisch. Sie war aber nicht mehr dort, weil ich sie zusammen mit der Lampe auf den Boden befördert hatte.

»Verdammt!« Ich sah noch einmal zur Tür, dann stand ich auf und suchte auf dem Boden nach meiner Brille. Es schien endlos lange zu dauern, bis ich sie endlich fand und mir auf die Nase schob.

Auf Knien hinter dem Bett hervorlugend schaute ich zur Tür. Und wartete ab. Mehrere Minuten. Nichts geschah. Immer noch auf Knien sackte ich mit dem Kopf aufs Bett und seufzte erleichtert. Langsam kehrte mein logisches Denken wieder zurück, und ich fahndete fieberhaft nach einer nachvollziehbaren Erklärung.

»Das hast du dir eingebildet, du Arsch!« Anders war das Erlebte nicht zu erklären. Ich war kurz vorm Einschlafen gewesen. Da vermischen sich schon mal Traum und Realität.

Prüfend betrachte ich erneut die Tür.

Hatte ich sie nicht viel weiter aufstehen lassen, als sie es jetzt war? Jetzt war sie bis auf ein paar Zentimeter zugezogen.

»Nein«, sagte ich zu mir. Oder doch?

Wenn sie doch vorher weiter aufgestanden hatte, dann musste das Ding, das ich gesehen hatte, sie von draußen zugezogen haben. Das heißt, das Ding war im Hinausgehen begriffen, was wiederum heißen würde, dass das Ding vorher schon hier in diesem Raum war!

Die Kälte!, dachte ich erschrocken. Da war nichts!

»Ah, komm wieder zu Verstand«, sagte ich und schlug mir mit flachen Händen gegen die Stirn.

Da fielen mir die Kopfschmerzen ein. Sie waren verflogen, als sei nichts gewesen. Wie konnte das sein?

Das Adrenalin, Dummkopf!

Ich atmete ein paar Mal tief durch. Dann erhob ich mich und machte wieder eine Runde durch das Haus, kontrollierte Fenster und Türen. Ich kam mir vor wie ein dummer Junge, der Angst vorm Dunkeln hatte, als mein Rundgang ergebnislos endete. Ich ging wieder nach oben, legte mich aufs Bett und ließ alle Lichter im Haus brennen. Die Schlafzimmertür machte ich dieses Mal fest zu. Einen Schlüssel dafür gab es nicht. Ich war hundemüde, zwang mich aber, wach zu bleiben. Erst als es dämmerte, traute ich mich, das Licht im Schlafzimmer zu löschen und schlief einen traumlosen und kurzen Schlaf.

Jack wirft ein paar Körbe

1

Um halb zehn Uhr morgens erwachte ich. Meine Augen waren so trocken, so dass ich sie kaum auf bekam. Außerdem musste ich furchtbar dringend pinkeln. Ich fühlte mich wie gerädert. Als ich meine Morgentoilette verrichtet hatte, ging ich nach unten, schaltete überall das Licht aus und zog die Jalousien hoch.

Ich schaute aus dem Fenster. Es war bewölkt. Passend zu meiner Stimmung. Lustlos schlang ich zwei Toastscheiben mit Käse in der Küche runter. Irgendwie hatte ich gehofft, die gestrige Nacht würde mir am nächsten Morgen wie ein dämlicher Traum vorkommen. Es war aber alles noch lückenlos präsent. Wenn ich so wie früher gesoffen hätte, wäre das anders. Den Kopf auf die Handballen gestützt, schaute ich mich in der Küche um. Alles war, wie es sein sollte. Alles stand an seinem Platz. Und doch hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich konnte es absolut nicht näher beschreiben. Irgendetwas an der Küche, an dem Haus. Irgendetwas stimmte nicht, auch wenn sich nichts verändert hatte. Etwas lag in der Luft. Ich spürte, dass das Ding von letzter Nacht – ob es nun real oder eingebildet war – erst der Anfang sein würde. Ich war mir dessen so sicher, dass ich ein leises Gefühl der Unruhe bekam. Ich erkannte mich selbst nicht wieder.

 

Das Telefon klingelte im Wohnzimmer, und ich zuckte zusammen. Hastig ging ich an den Apparat, weil ich gerade das große Bedürfnis verspürte, mit jemandem zu sprechen.

Es war Peter. »Hi, Jack. Gut geschlafen?«

Ich rieb mir mit der linken Hand die Augen und fiel auf die Couch.

»Morgen, Peter. Ehrlich gesagt, hatte ich eine ziemliche beschissene Nacht.«

»Zu viel gegessen?«

»Ich hoffe, dass das Essen dran schuld war. Heute Nacht sind ein paar merkwürdige Dinge passiert«, sagte ich und war gespannt auf Peters Reaktion.

»So? Was denn?«, fragte er skeptisch.

»Ach, ich weiß nicht.«

»Na los, sag schon! Oder willst du mich verarschen? Sag bloß, du hättest ein Gespenst oder so was gesehen.«

»Quatsch«, reagierte ich schnell. »Nein, ich dachte, jemand wäre gestern Nacht in meinem Haus gewesen.«

»Du weißt schon, dass du mich gestern Nacht eingeladen hast, oder? Oder hast du vergessen, wie ich aussehe?«

Peter meinte es nur gut und wollte mich aufheitern, aber mir war nicht nach Witzchen.

»Ja, ja. Ha! Ha! Das war lange, nachdem du schon weg warst.«

»Und was war, als ich schon lange weg war? Muss ich dir das jetzt alles einzeln aus der Nase ziehen?«

»Zuerst hat meine Schlafzimmertür gequietscht«, begann ich, als Peter sogleich prustend loslachte.

»Also doch ein Geist!«, rief er amüsiert.

Ich war sauer: »Ach, vergiss es einfach!«

»Hey, nun sei mal nicht gleich beleidigt. Da kann man schon mal einen Schreck bekommen. Ist doch ganz normal.«

»Ja, ich weiß.«

»Am besten, du haust dich gleich wieder aufs Ohr und holst noch ein wenig Schlaf nach.«

»Später vielleicht.«

»Ach übrigens. Ich hab dein Geschenk aufgemacht.«

»Und?«, fragte ich gespannt.

»Das kenne ich schon.«

Ich runzelte die Stirn.

»War nur Spaß! Nein, ich kenne es natürlich noch nicht. Ich wollte es zwar immer schon mal lesen, konnte mich aber nie dazu aufraffen. Aber ich werde es mir jetzt endlich mal vornehmen. Danke noch mal.«

»Keine Ursache«, sagte ich und war erleichtert, dass Peter anscheinend keinen blassen Schimmer hatte, warum ich ihm ausgerechnet 'Moby Dick' geschenkt hatte.

»Also dann, mach's gut. Ich werde noch mal bei Beverly anrufen und mich bei ihr bedanken.«

»Mach das. Das wird sie freuen. Bis dann.«

Ich legte auf, machte den Fernseher an und versank noch ein wenig tiefer in der Couch, bevor ich rasch einnickte und bis zum späten Nachtmittag schlief.

Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich schon viel besser. Die merkwürdigen Ereignisse der letzten Nacht waren jetzt weit weg. Die Zeit war reif für einen ausgedehnten Spaziergang. Am Hafen würde ich mir ein leckeres Fischbrötchen zu Gemüte ziehen. Ich wollte schon aus dem Haus gehen, als mir plötzlich ein unheimlicher Gedanke durch den Kopf schoss: Und wenn es doch ein Einbrecher war? Wenn er in meinem Haus keinen Erfolg hatte, vielleicht hat er es dann frustriert beim nächsten Haus probiert. Bei Mrs. Trelawney?

Ich musste zu meiner Nachbarin gehen, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Das andere Nachbargrundstück war unbebaut und von daher für Diebe uninteressant. Es war so groß, dass es sich bis zur Kreuzung Lexington Drive erstreckte. Vor ein paar Jahren wurde es von einer gemeinnützigen Stiftung gekauft, die irgendeinem superreichen alten Sack gehörte, der hier angeblich eine Art Kindererholungszentrum bauen wollte. Es war ein offenes Geheimnis, dass in Wirklichkeit ein kleiner Luxuspalast entstehen sollte, in dem später sogenannte Incentive Partys für fleißige und gestresste Unternehmer ausgerichtet werden sollten. Mit viel Musik, reichlich Alkohol und haufenweise Nutten. Aus den Plänen wurde jedoch – zur Freude der Anwohner, die um ihre Ruhe und ihren Ruf fürchteten – nichts. Der Herr ist verstorben, und nun wurde schon seit Jahren um sein Erbe gestritten, zu dem auch dieses Grundstück zählte.

Von daher waren mein Haus und das von Mrs. Trelawney am Ende der Kennington Street ein wenig abseits gelegen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es zwar noch ein halbes Dutzend Villen. Diese jedoch wurden nur sehr selten bewohnt. Jetzt Mitte September standen alle leer. Ein Einbruch dort würde sich wohl eher lohnen als bei mir oder meiner Nachbarin. Aufgrund der vielen, teuren Alarmanlagen dort, würde dieses Vorhaben allerdings sehr schwierig werden. Ich ging also zurück durchs Wohnzimmer in den Garten und steuerte die Veranda meiner Nachbarin an.

Am Haupteingang an der Straße bei ihr zu klingeln, hatte ich aufgeben. Mrs. Trelawney hörte nicht mehr so gut. Die Klingel an der Haustür war für sie nicht mehr existent. Mit ihrem Einverständnis nahm ich deshalb immer den Weg über den rückseitigen Garten. Ich fand die Veranda verlassen vor. Im Garten war sie auch nicht zu finden. Ich versuchte, durch die Fenster zu spähen. Überall waren die Stores zugezogen. Außerdem war es drinnen viel zu dunkel, als dass ich etwas hätte erkennen können. Schnell begann ich mir Sorgen zu machen.

»Mrs. Trelawney!«, rief ich. »Elizabeth! Sind sie da?«

Ich umrundete das Haus zweimal und rief ihren Namen. Als ich dann noch ein letztes Mal in das Fenster neben der Verandatür schauen wollte, starrte sie auf einmal von innen durchs Fenster. Ich erschrak und taumelte ein Stück zurück, weil ich zunächst nicht ihr Gesicht erkannt hatte.

»Grundgütiger«, murmelte es aus dem Haus.

Mrs. Trelawney beeilte sich, die Tür zu öffnen und trat nach draußen.

»Aber Jack! Ist alles in Ordnung? Habe ich sie etwa erschreckt?«

Ich atmete erleichtert auf, als ich sah, dass meine Nachbarin gesund und gepflegt wie immer ausschaute.

»Ein wenig«, sagte ich und lächelte verlegen.

»Was ist denn los? Sie sehen erschöpft aus, mein Junge.«

»Ach, es ist nichts. Ich wollte nur sehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist.«

Mrs. Trelawney schaute mich argwöhnisch an. »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Ich dachte«, begann ich zögerlich, »ich hätte gestern Nacht merkwürdige Geräusche gehört und schloss die Möglichkeit eines Einbrechers nicht aus. Deshalb wollte ich mich vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«

»Oh! Das ist aber lieb von Ihnen. Aber sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. So lange ich hier lebe, ist hier noch nie eingebrochen worden. Was sollte man einer alten Frau wie mir schon stehlen wollen?«

Ich kratzte mich am Kopf. »Ich habe mich wohl geirrt. Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen.«

»Das haben Sie nicht. Ich bin in einem Alter, in dem man sich nicht mehr vor vielen Dingen fürchtet.«

»Dann ist es ja gut«, sagte ich und lächelte.

»Was genau haben Sie denn gehört?«

Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen. Es war mir ein wenig peinlich.

»Ach, nur ein Poltern, das ich mir nicht erklären konnte. Nichts Besonderes.«

Elizabeth sah mich eindringlich an. »Das liegt an diesem Ort hier. Es gibt kaum jemanden, der hier in Lost Haven lebt und nicht schon mal glaubt, des Nachts etwas Unheimliches gehört zu haben, das er sich nicht erklären konnte.«

Ich hatte nicht gesagt, dass es unheimlich war.

»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich bin wohl vor der suggestiven Kraft dieses Ortes auch nicht gefeilt.«

»Niemand ist das. Vergessen Sie es einfach.«

»Schon gut. Ich werde Sie dann nicht mehr länger stören.«

Elizabeth machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie stören mich doch nicht. Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn Ihnen danach ist. Sie wissen doch, wie sehr ich mich über Ihre Gesellschaft freue.«

»Danke, Elizabeth«, sagte ich und machte mich auf zum Hafen.

2

Am Lost Haven Harbour war eine Menge Betrieb. Die Wolken vom Vormittag hatten der Sonne Platz gemacht. Segelboote tummelten sich auf dem Wasser. Die Restaurants waren voll belegt. Überall machte irgendwer ein Foto. Die letzte Phase eines ertragreichen Sommers für den kleinen Ort neigte sich dem Ende zu.

Ich saß am Wasser auf einem Ankerpoller, schaute aufs Wasser und genoss mein Fischbrötchen. Meine Gedanken hatten sich endlich von der letzten Nacht gelöst. Die kurze Unterhaltung mit Elizabeth hatte mir sehr gut getan. In so einem Moment und an so einem Ort war es schwer vorstellbar, dass jemand überhaupt Sorgen oder Probleme haben könnte. Ich musste schmunzeln bei diesem Gedanken. Ich brauchte etwas Ablenkung. Ich hätte ins Kino gehen können. Dort war ich schon seit über einem Jahr nicht mehr gewesen. Da es jedoch mit dem Auto eineinhalb Stunden bis zum nächsten Lichtspielhaus dauern würde, überlegte ich mir stattdessen, ein gutes Buch zu kaufen. Vielleicht war ja der neue King schon da. Wäre sicher eine gute Idee zu sehen, was die überlegende Konkurrenz so schrieb. Schnellen Schrittes hechtete ich zu Beaver’s Books, um noch rechtzeitig vor Ladenschluss da zu sein. Zum Glück schaffte ich es noch. Melissa war gerade dabei, die fahrbaren Buchtische von der Straße ins Geschäft zu zerren. Ein Arbeit, die ihr sichtlich kein Vergnügen bereitete.

»Mr. Rafton! So spät habe ich Sie hier noch nie gesehen.«

»Ja, ich weiß. Ich musste aber kommen, weil mich plötzlich der Heißhunger auf einen spannenden Roman gepackt hat«, sagte ich gut gelaunt und rieb mir die Hände.

Mr. Beaver’s Tochter zog die letzten drei Wagen ins Ladeninnere, und ich half ihr dabei. Nach getaner Arbeit schnaufte sie und drückte den Rücken durch. »Danke für Ihre Hilfe. Die Dinger sind ganz schön schwer.«

»Kein Problem.« Ich schaute zu Mr. Beaver, der wie immer hinter seinem Lesegerät saß. »Guten Abend«, sagte ich.

»Sind Sie auf der Suche nach einem Last Minute Buch, Mr. Rafton?«, fragte er wieder einmal, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen.

»Sie haben es erfasst.«

Ich wandte mich wieder an Melissa, weil ich sie nach dem Roman fragen wollte. Doch als ich sie ansah, schaute sie zurück, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte.

»Alles klar?«, fragte ich rasch.

Melissa wirkte abwesend. Ihr Blick war leer. Sie fühlte sich durch irgendetwas gestört. Irgendwas hatte sie erschreckt.

»Ja«, antworte sie knapp.

»Bist du sicher?«, hakte ich nach.

»Ja, ja«, sagte sie, wobei sie sich umschaute, als ob sie etwas suchen würde.

Mir schien es so, dass nicht ich der Auslöser für ihr komisches Benehmen gewesen war. Nicht ich hatte sie erschreckt, etwa, weil ich nicht besonders ausgeschlafen aussah und deshalb kein schöner Anblick war. Schließlich war ich früher schon in weitaus schlimmeren Zuständen hier aufgetaucht. Sie denkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie sieht sich um und will herauszufinden, ob sich etwas verändert hat. Aber alles ist so wie immer, und dennoch stimmt etwas nicht. So wie ich mich gefühlt habe, heute morgen.

»Was darf es denn sein?«, fragte Melissa. Sie bemühte sich, gewohnt freundlich zu sein, aber es gelang ihr nicht, ihre Nervosität zu verbergen.

Unruhe, dachte ich und vergaß, dass Melissa mich was gefragt hatte.

»Mr. Rafton?«

»Ja, ich wollte mal hören, ob der neue King schon draußen ist. Den Titel weiß ich leider nicht. Aber das spielt ja keine Rolle, oder.«

»Nein, sicher nicht«, sagte Melissa und lächelte mich an. Jetzt sah sie wieder so schön aus wie immer.

»Der Neue ist schon seit ein paar Wochen raus. Wir haben gestern unser letztes Exemplar verkauft. Aber ich habe schon eine Bestellung gemacht. Morgen wird es sicher wieder vorrätig sein. Tut mir sehr Leid.«

»O, schon gut. Dann komme ich morgen Nachmittag noch mal vorbei.«

»Alles klar.«

Ich verabschiedete mich von Vater und Tochter und schlenderte nachdenklich zurück nach Hause.

3

Stärker als noch am Nachmittag verspürte ich das Bedürfnis, mich ablenken zu müssen. Als ich in meine Auffahrt einbog und den Basketballkorb sah, wusste ich, was zu tun war.

Ich eilte ins Schlafzimmer und holte meinen alten Basketball aus besseren Tagen vom Regal. Es war vielleicht kindisch, aber seit ich ein kleiner Junge war, hatte ich immer einen Basketball in meinem Zimmer. So musste das bei mir heute auch noch sein. Der Ball gehörte ins Schlafzimmer. Früher habe ich immer gerne auf den Korb geworfen, wenn ich besonders unter Druck stand. Zum Beispiel vor Prüfungen während meines Studiums. Ich spielte, bis es dunkel geworden war. Um halb elf ging ich schließlich zu Bett. Ich hatte das Gefühl, heute gut schlafen zu können, weil ich eine gesunde Müdigkeit fühlte und keine, die von psychischer Erschöpfung herrührte. Sicherheitshalber ließ ich das Licht im Erdgeschoss wie auch die Nacht zuvor an. Man weiß ja nie. Wie erhofft, schlief ich zügig ein.

 

Gegen zwei Uhr morgens erwachte ich aus keinem ersichtlichen Grund. Das war nichts ungewöhnlich. Jeder Mensch wacht mehrmals in der Nacht auf. Nur ist die Wachphase so kurz, dass man es gleich wieder vergessen hat. Ich konnte jedoch nicht gleich wieder einschlafen und lag eine Weile mit geöffneten Augen in der Dunkelheit.

Als ich immer noch nicht einschlafen konnte, drehte ich meinen Kopf nach rechts und schaute zur Tür, die ich geschlossen hatte. Obwohl alles ruhig war, überkam mich langsam ein bekanntes Gefühl. Das Gefühl der Unruhe. Minutenlang sah ich zur Tür, obwohl es viel zu dunkel war und meine Augen ohne Brille zu schwach waren, um etwas sehen zu können.

Mindestens eine Stunde lag ich so da und dachte an den Hafen, in dem ich alleine gesessen hatte und mir die vielen anderen lachenden Restaurant-Besucher und die verliebten jungen Pärchen angeschaut hatte.

Wieder so verliebt sein wie damals, dachte ich schwermütig.

Das melancholische Bedauern verdrängte die Unruhe, die ich zuvor gespürt hatte. Allmählich döste ich ein.

Aber dann passierte etwas, dass ich unbewusst befürchtet hatte: Ich hörte ein Rumpeln. Gleich darauf eine Art Kratzen. Nicht laut, aber es war definitiv in meinem Zimmer und kam von der anderen Seite des Raums. Dort stand ein großer Schrank, in dem ich diverse Sache aufbewahrte.

Zuallererst erstarrte ich unter meiner Bettdecke. Noch nie habe ich mich vor Angst wie gelähmt gefühlt. Mein Herz pochte wie wild. Ich bereitete mich vor, mit einem Ruck zum Schalter der Nachttischlampe zu gelangen. Dann hörte ich wieder etwas, das so leise war, dass ich es nicht identifizieren konnte. Panisch griff ich zum Lichtschalter und bekam ihn gleich beim ersten Mal zu fassen. In dem Augenblick, in dem das Licht den Raum flutete, konnte ich ohne Brille nur sehr unscharf erkennen, dass etwas aus dem geöffneten Regalschrank mir entgegen zu schweben schien. Ich schrie um Hilfe, zog die Beine an und kauerte mich an die Kopfseite des Bettes. Dann knallte das Ding auf den Boden und dann gleich noch mal. Und dann noch einmal. Trotz meiner Panik erkannte ich jetzt dieses Geräusch. Es klang wie mein Basketball.

Ich tastete nach meiner Brille, bekam sie schnell zu fassen und stieß sie mir vor die Augen. Es war tatsächlich mein Basketball, mit dem ich noch vor ein paar Stunden draußen vor der Garage gespielt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Schrank, dessen Tür weit geöffnet war. Noch nie, ich schwöre, bei allem was mir heilig ist, noch nie habe ich die Tür vom Schrank offenstehen lassen. Und noch nie war sie von alleine aufgefallen. Das war nämlich wegen der magnetischen Verriegelung absolut unmöglich.

Ein paar Minuten hockte ich auf meinem Bett und fürchtete mich, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben getan hatte. Diesmal gab es keine rationale Erklärung mehr, die mich zufrieden gestellt hätte. Ich hatte, wenn auch nur ohne Brille, gesehen, wie der Ball in der Luft geschwebt war, bevor er zu Boden fiel. Mein Verstand bemühte sich fieberhaft, mir einzureden, dass der Ball nur heraus gefallen war, und dass ich irrtümlich angenommen hatte, dass er für eine Sekunde in der Luft geschwebt war, weil einem in einer Stresssituation Sekunden wie Stunden vorkamen. Aber das erklärte nicht ansatzweise, wie sich die Tür des Schranks von allein hatte öffnen können. Allenfalls ein Erdbeben wäre dazu imstande gewesen.

Meine Schläfrigkeit war wie weggespült. Ich sprang aus meinem Bett und blickte auf den Ball herab. Ich fürchtete mich davor, ihn anzufassen. Dann ging ich zum Schrank und untersuchte den Inhalt. Zuerst durchwühlte ich die Schuhe, Shorts, allen Krempel, den ich dort aufbewahrte, immer noch auf der Suche nach einer verdammten Erklärung. Als ich nichts fand, warf ich wütend alle Sachen aus den Regalen und inspizierte die Innenseite der Rückwand des Schranks. Es gab nichts Außergewöhnliches, keine Beschädigungen, keine Öffnungen, durch die ein Tier hätte krabbeln können. Gar nichts.

Ich wurde nach der ergebnislosen Suche nur noch wütender. Angst verspürte ich nicht mehr. Wild stopfte ich alle Sachen wieder zurück in den Schrank. Ganz zum Schluss packte ich den Basketball, drehte ihn ein paar Mal misstrauisch in meinen Händen und legte ihn in das unterste Regalfach ganz nach hinten. Davor stapelte ich einen Berg von alten Turnschuhen. Ich schloss die Schranktür und verließ das Schlafzimmer. Im Arbeitszimmer gegenüber wühlte ich in einer Kiste, in der ich diverse Werkzeuge aufbewahrte und fand schließlich eine große Rolle Paketschnur. Entschlossen stampfte ich zurück ins Schlafzimmer und verknotete die Griffe der Schranktüren, wobei ich die Schnur mehr als ein Dutzend Mal um die Griffe wickelte.

»So jetzt versuch das noch mal«, hörte ich mich sagen. Mit wem redete ich denn? Mit einem Geist?

Ich schüttelte den Kopf, krallte mir Kopfkissen und Bettdecke und ging runter ins Wohnzimmer. Ich machte mir auf der Couch einen Schlafplatz zurecht, von dem ich überzeugt war, dass ich am nächsten Tag mit Rückenschmerzen aufwachen würde. Nach oben aber wollte ich nicht mehr zurück.

Eine gute Stunde war seit dem Basketball-Vorfall vergangen. Ich entschied mich, das Licht zu dimmen und den Fernseher laufen zu lassen. Trotzdem fand ich keine Ruhe. Hier im Wohnzimmer musste ich ständig an das krachende Geräusch von letzter Nacht denken, das definitiv aus diesem Raum gekommen war. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Dann ging mir ein Licht auf.

Der Schrank, dachte ich, drehte mich auf der Couch ganz langsam um, und nahm das kniehohe Wohnzimmersideboard ins Visier.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte ich zu dem weiß lackierten Möbelstück und pirschte mich heran.

Ich schob zuerst die linke Schiebetür beiseite und guckte vorsichtig hinein. In diesem Regal hatten Michelle und ich nur das beste Geschirr, ein paar Kristall-Weingläser und einen sündhaft teuren Dekantierer aufbewahrt. Seit ich hier alleine wohnte, habe ich nicht ein einziges Mal aus dem Regal etwas herausgenommen. In der linken Schrankhälfte war jedenfalls nichts zu finden. Ich schloss die Seite wieder und öffnete die rechte Seite – und wurde fündig. Überall waren Glassplitter. Ziemliche dicke sogar. Es waren aber nur noch kleine Stücke übrig. Was war hier zu Bruch gegangen? Die Gläser standen auf der anderen Seite und waren durch eine Trennwand abgeschirmt. Dann fiel es mir ein: Es waren die Splitter einer großen Kristallschale, die meine Ex-Frau vor vielen Jahren gekauft hatte. Vermutlich für Bowle. Ich weiß es nicht mehr genau. Wie war das passiert? Auf dem Regalboden fand ich Reste, die so fein waren, dass sich eine Staubschicht gebildet hatte. Es schien so, als sei die Schale im Schrank regelrecht explodiert. Wieder kam dieses Gefühl der Unruhe in mir hoch. Ich fühlte mich wie in einer dieser H. P. Lovecraft Geschichten, in der die Protagonisten mit etwas konfrontiert wurden, das sich außerhalb der Vorstellbaren abspielte und sie in den Wahnsinn trieb.

Der Morgen würde bald heranbrechen. Den Rest der Nacht verbrachte ich sitzend auf der Couch. Als es hell wurde, schlief ich dann doch ein, so dass ich mich am nächsten Tag nicht ganz so schlecht fühlte, wie am Morgen tags zuvor.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?