Buch lesen: «Das Asam Vermächtnis»
Inhalt
Vorgeschichte
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
Epilog
Danke
Vollständige e-Book Ausgabe 2020
Copyright © 2020 RICCARDI-Books
ein Imprint der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt
Lektorat: Beate Brosig
Umschlaggestaltung: James D. Beckett
Cover-Fotografie: © Nomadsoul1 | DT
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung
können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden.
(e-Book) ISBN: 9783969177112
Dieses Buch ist für dich, mein alter Freund, wohin dich die verlockenden, verschlungenen und manchmal verlorenen Wege des Lebens auch immer geführt haben mögen.
Die Dämonen der Vergangenheit
Zuweilen entsteigen sie dem alten Schuhkarton
deiner Erinnerungen,
Erklimmen aus seinen Ecken und Ritzen
dein ganzes Wesen,
Als wären ‘s mufflige Wächter deiner Seele,
Abgestellt, um dich nachts zu quälen,
Wenn die Räume enger werden
Und die Stille dich betäubt
Dann leben sie in dir,
Deine vergessenen
Dämonen.
Vorgeschichte
Agaunum im Frühjahr 302
(heute St. Maurice im Schweizer Kanton Wallis)
Der eiskalte Regen – zuweilen ging er auch in Schnee über – würde wohl niemals aufhören, zumindest nicht, solange sie noch durch diese verfluchten helvetischen Berge irren mussten. Iain, oder Ianus, wie ihn seine römischen Kameraden nannten, wischte sich immer wieder mit klammen Fingern und dem Ärmel seiner ohnehin schon gänzlich durchnässten Tunika über Stirn und Augen, von kalten, pfeilspitzartigen Regentropfen gemartert, die der undurchdringliche, seit Wochen grau verhangene Himmel erbarmungslos auf die einzigen sechs Überlebenden der Thebaischen Legion herabschleuderte.
Es war nun fast einen Monat her, dass sich ihre Waffenbrüder gegen sie gewandt hatten. Angeblich hatte der Kaiser, Maximian höchst selbst, das Massaker angeordnet, da sich in der Thebaischen Legion zu viele Christen befanden, was er wohl als innere Bedrohung für das Imperium Romanum sah. Seit vielen Jahren regierte er über das Weströmische Reich, während Diokletian dem Oströmischen Reich vorstand. Vielleicht war ihm das schon zu wenig Macht gewesen. Also hatten des Nachts die lateinischen Legionäre, nach einer geheimen Absprache, die Waffen gegen ihre christlichen Brüder gezogen und alle bis auf Iain, seinen Bruder Cal und fünf andere getaufte Soldaten erschlagen. Wie durch ein Wunder war es diesen gelungen, dem Gemetzel zu entkommen, denn der Heerführer Mauritius, selbst ein Christ, hatte den Anschlag geahnt und die Seinen rechtzeitig um sich geschart. Aber die Männer waren unter der großen Überzahl der Lateiner niedergemacht worden wie Ähren, durch die das Sensenblatt fährt. Tödlich verwundet und bereits schwankend durch das Verlassen der Lebensgeister, hatte der große Mauritius mit letzter Kraft seine Lanze, eine Wunderwaffe mit einem eingefassten Kreuzesnagel Jesu Christi, die stets der ganzen Legion zu Ehre und Ehrfurcht gereicht hatte, weit von sich in einen dunklen Abgrund geschleudert. In der darauffolgenden Nacht aber waren Iain und seine Kameraden in das zerstörte Lager zurückgekehrt, waren den Felsabhang hinuntergeklettert und hatten die zerbrochene Lanze des Mauritius an sich genommen.
Nun wanderten sie gen Norden, ernährten sich von Wasser und dem rohen Fleisch eines abgestürzten Steinbocks, den sie mit ihren Kurzschwertern zerlegten und verteilt auf alle Männer mit sich trugen.
Eines Tages jedoch geschah ein zweites Wunder. Die Tränen des Himmels versiegten mit einem Schlag, und als die heimatlosen Legionäre auf einem schneebedeckten Grat standen und von dort hinabblickten, öffneten sich die Wolken dem Morgenlicht und gaben den Blick frei auf die nördlichen Grenzen Raetiens, hinter denen sich das weite Waldland der Germanen und Kelten auftat. Iain und Cal kannten es gut. Denn sie waren vor mehr als zwanzig Jahren mit ihrer verwitweten Mutter aus dem fernen Hibernia durch das grüne Germanien gezogen, um Bürger und Soldaten der Welthauptstadt Rom zu werden.
Irgendwo dort unten, mit bloßem Auge konnte man es nur erahnen, floss der Danuvius von Südwesten nach Nordosten. Jedoch kurz bevor der Strom nach Osten bog, wo er von der nördlichsten römischen Stadt, Ratisbona, gesäumt wurde, brach der Danuvius durch ein Mittelgebirge hindurch und vereinte sich mit der Alcmona. An eben dieser Stelle, nur einen Steinwurf vom Anfang des Limes entfernt, gab es einen Platz am Fluss, so erinnerten sich die Brüder, wo die Fischer in ihren schmalen Einbäumen die herrlichsten Fische fingen, wo man in den darüber liegenden, felsdurchsetzten sonnigen Hängen guten Wein anbaute und wo man nicht lange durch die kühlen Eichenwälder streifen musste, um reichlich Wild jagen zu können. Dieser Ort am Durchbruch des Danuvius sollte ihr Ziel sein.
1
Frisch gestrichene Räume haben immer eine eigentümliche, geradezu befremdliche Wirkung, wenn man sie zum ersten Mal wieder betritt, dachte sich der Regensburger Hauptkommissar Leo Dietz, als er an seinem ersten Arbeitstag nach den Osterfeiertagen vor seinem Schreibtisch stand und überlegte, ob er die eingerahmten Fotos von Anna und Michaela wieder an die Wand gegenüber hängen oder auf das weiß lackierte Aktenregal neben der Tür stellen sollte.
Da ist dieser Duft, eine Art chemische Frische, von der man nicht weiß, ob sie der Gesundheit zuträglich ist oder nicht, und dann erst die neue Farbe, auch wenn es die gleiche Farbe wie ehedem ist, ist es nie wieder dieselbe. In diesem Fall hatte sich seine neue Chefin, Polizeipräsidentin Veronika Trauth, für eine gänzlich neue Farbe entschieden: ein kaltes Mintgrün, das über Ostern das ganze Präsidium überzogen hatte. Dietz mochte seine neue Vorgesetzte. Sie war mit die jüngste Polizeipräsidentin Bayerns, trug sehr kurzes, immer wieder anders gefärbtes Haar – derzeit war es ein bläulich schimmerndes Grau – , sie hatte einen kleinen Brillanten in der Nase und laut eigener Aussage einen tätowierten Schriftzug auf dem Rücken. Was sie da Geschriebenes mit sich herumtrug, wollte Veronika Trauth ihren Kollegen allerdings nicht verraten.
Nun ja, Ostern, Frühling, alles blüht und sprießt, da passt Grün ja eigentlich ganz gut, okay. Aber musste es ausgerechnet Mintgrün sein? Leo dachte mit Widerwillen an einen Minzeschnaps in Verbindung mit seinem ersten veritablen Rausch auf dem Ihrlersteiner Landjugendball vor ungefähr … Oh mein Gott … konnte das wirklich schon über fünfunddreißig Jahre her sein?
Der Kommissar schaute auf das Bild von Michaelas Taufe. Seine Lebensgefährtin Anna hatte sich kaum verändert. Ihre schulterlangen schwarzen Haare ließen zwar inzwischen den einen oder anderen Silberfaden zum Vorschein kommen, aber ansonsten sah seine Freundin noch genauso aus wie vor zehn Jahren, als sie die kleine Michaela zur Welt gebracht hatte. Und die elegante und zugleich schüchterne Geste, wie sie, wenn sie verlegen oder sehr konzentriert war, ihre Strähnen hinter die Brillenbügel schob, machte ihn noch genauso verrückt wie damals. Michaela grinste mit ihrem Taufpaten, Didi Matuschek, Dietz‘ damaligem Praktikanten, um die Wette, und dahinter lugte er, Leo selbst, hervor, mit seinen strubbeligen Haaren und der grauen Stirnlocke, von der immer alle geglaubt hatten, sie wäre absichtlich reingefärbt – nun, mittlerweile war Leo ganz grau, und wenn er beim Frisör war, schielte er seit ein, zwei Jahren immer ein wenig zur Seite, wenn ihm die Friseuse den großen bösen Spiegel hinhielt, um ihm den Schnitt am Hinterkopf zu zeigen.
Vielleicht war die Frage ja gar nicht, ob ihm Mintgrün, Grasgrün, Tannengrün, Marihuanagrün oder was auch immer gefiel oder nicht. Vielleicht hatte er vielmehr ein Problem mit Veränderungen an sich, vornehmlich mit fremdbestimmten Veränderungen, auf die er selbst keinerlei Einfluss hatte.
Diesen Herbst würde Michaela aufs Kelheimer Gymnasium übertreten, kurz vor seinem neunundvierzigsten Geburtstag. Natürlich war seine Tochter, die wirklich beiden Eltern zu gerechten Teilen aus dem Gesicht geschnitten war, das wertvollste und hübscheste Geschöpf des ganzen Universums, und Leo war unglaublich stolz auf jeden einzelnen Schritt, den sie tat, jedes Wort, das sie sprach, und jede ihrer Bewegungen und Gesten, in denen er auch immer aufs Neue seine Anna wiederfand.
Manchmal jedoch, wenn Leo, wie jetzt, ins Grübeln geriet, erfasste ihn eine plötzliche, kalte Angst, dass, falls ihm, seinem Beruf oder irgendeinem Wahnsinnigen auf der B16 geschuldet, etwas zustoßen sollte, er nicht mehr miterleben könnte, wie seine Tochter heranwuchs und groß wurde. Vielleicht würde Michaela sich dann eines Tages gar nicht mehr richtig an ihn erinnern können und er würde nach und nach verblassen, eines Tages zu einer mythischen Gestalt ihrer Kindheitsträume zusammenschrumpfen und irgendwann gänzlich ihrem Gedächtnis entschwinden.
Der Kommissar wurde jäh aus seiner Nostalgie ins Hier und Jetzt zurückgeholt, als sein Kollege Adi, eigentlich hieß er Adnan, aber alle nannten ihn Adi, in der Tür stand und sagte »Houston an Leo: Willst du nicht rangehen?«
»Äh, was?«, fragte er.
»Dein Te-le-fon«, erklärte Adi und hielt einen unsichtbaren Telefonhörer an sein Ohr.
Dietz war gar nicht aufgefallen, dass sein Telefon schon länger geläutet haben musste.
»Wie? Ach so, ja, danke, Adi«, rief er und griff nach dem Hörer. Aber in diesem Moment hatte der Anrufer schon aufgegeben.
Dietz schaltete seinen Laptop an, um das Anrufjournal aufzurufen. Es handelte sich um eine Mobilfunknummer. Er setzte das Headset auf, damit er beide Hände frei hatte, machte mit der linken Maustaste einen Doppelklick auf die eingegangene Nummer und sie blinkte grün auf. Nach dem dritten Klingelton meldete sich eine helle Stimme und Leo konnte gar nicht sofort feststellen, ob es sich um eine Männeroder Frauenstimme handelte.
»Ja, Gräber?«
Leo lehnte sich zurück – grüne Farbe hin oder her – sein Sattelledersessel, den ihm Anna einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, vermittelte ihm ein wohliges Gefühl von Beständigkeit.
»Kriminalpolizei Regensburg, Hauptkommissar Dietz am Apparat. Sie haben bei uns … äh, bereits mehrfach, wie ich sehe, angerufen?«
»Gott sei Dank!«
Es war eine Männerstimme.
»Leo, bist du es?«
Der Kommissar zögerte kurz.
»Leo, kennst du mich nicht mehr? Ich bin Tim, Tim Gräber. Wir waren doch zusammen in Kelheim in der Schule.«
Aus der bilderlosen, mintgrünen Wand löste sich, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher, das rosige Gesicht eines ziemlich dicken, immerzu verschwitzten Jungen mit rotem, gekraustem Haar.
»Ja, Tim, natürlich erinnere ich mich. Wie geht es dir? Bist du immer noch in der Gegend hier?«
»Aber sicher, Leo, genau wie du offenbar. Mich hat Regensburg nie richtig losgelassen. Aber du wohnst ja anscheinend wieder irgendwo bei Kelheim, habe ich gehört. Stimmt das?«
Leo wunderte sich, woher sein alter Schulkamerad – Schulfreund wäre wirklich zu viel gesagt gewesen – das wusste, und antwortete »Ja, ich wohne mit meiner Lebensgefährtin und meiner Tochter in Staubing, das ist bei Welten…«
»… bei Weltenburg. Ja, weiß ich natürlich«, unterbrach ihn Gräber.
»Wo wir gerade über Weltenburg sprechen …«, wollte er fortfahren.
Nun unterbrach Leo den Anrufer »Hör mal, Tim, ich muss hier langsam weitermachen. Wir können ja gerne mal ein Bier …«
»Leo, bitte …«
Gräbers Stimme klang plötzlich wieder so fremd und androgyn wie zu Beginn des Gesprächs. Der Kommissar sagte nichts.
»Hör mal, Leo, ich brauche deine Hilfe. Ich, wie soll ich sagen, ich werde … also, irgendwie habe ich das Gefühl, dass jemand mich …«
»Was ist los, Tim, was macht jemand? Hast du Probleme? Wirst du bedroht?«
»Können wir uns vielleicht treffen? Ziemlich zeitnah, wenn’s geht? Bitte, ich meine es ernst. Ich … ich habe Angst.«
Dietz sah den dicken Jungen vor sich, wie er im Sportunterricht nie auf den Kasten kam, sich nie am Reck hochziehen konnte und nie einen Ball fing, aber in Mathe, Deutsch, Bio und allen anderen Lernfächern selten etwas anderes als schlimmstenfalls eine Zwei nach Hause brachte. Nebenbei war er der einzige Junge in der Klasse, der sich nie beim Vorsingen schämte. Tatsächlich hatte Tim eine hohe Knabenstimme, mit der er es vielleicht zu den Regensburger Domspatzen geschafft hätte, die aber sonst niemand in der Klasse auch nur annähernd cool gefunden hatte, selbst Tim nicht.
»Also gut, Tim. Wann und wo sollen wir uns treffen? Heute habe ich noch einige Termine. Morgen leider auch. Aber wie sieht es am Freitag aus? Gleich in der Früh?«
Aus Tims Stimme sprach große Erleichterung.
»Freitag hört sich ausgezeichnet an«, rief er, »warum nicht gleich um neun im Kloster Weltenburg?«
»Im Kloster Weltenburg? In Ordnung, warum nicht«, antwortete Leo etwas überrascht. »Dann sehen wir uns also am Freitag. Mach’s …«
Aber Tim Gräber hatte bereits aufgelegt.
2
»Kannst du bitte noch beim Papa am Grab vorbeifahren und schauen, ob man gießen muss?«, fragte Anna zwischen Kaffee und Marmeladensemmel. »Ich schaffe es sonst nicht mehr rechtzeitig, Michi zur Schule zu bringen.«
»Mmh, klar«, nuschelte Leo mit vollem Mund, »kein Ding.«
Annas Vater war vor zwei Jahren an Leberzirrhose gestorben. Vor anderthalb Jahrzehnten war seine Tochter, Annas Schwester, von einem Serienmörder getötet worden, den die Presse den Einschläfer nannte, weil er seine Opfer in blauen Plastiksäcken, wie in einem Kokon, ablegte, ganz so, als würde er sie sanft zur Ruhe betten. Leo hatte damals den Täter zur Strecke gebracht und sich im Laufe der Ermittlungen in Anna, die damals wie heute am Kelheimer Gymnasium unterrichtete, verliebt – und umgekehrt. Aber der alte Stadler, einst ein stolzer und lebenslustiger Hopfenbauer, konnte den Verlust und die Trauer nie verwinden und ertränkte seinen Kummer mehr und mehr in Hochprozentigem, wobei ihm völlig bewusst war, wohin diese feuchte Straße münden würde, doch weder Anna, noch Leo oder den Ärzten war es möglich gewesen, ihn auf der Zielgeraden in den Todessuff aufzuhalten.
Leo schenkte sich noch etwas Kaffee nach und erzählte Anna »Stell dir vor, gestern hat mich ein alter Schulkamerad auf dem Revier angerufen, Tim Gräber. Er war völlig aufgelöst und ich habe ihn zuerst an seiner Stimme gar nicht erkannt. Habe ich dir nicht schon einmal von ihm erzählt? «
Anna überlegte einen Augenblick, dann sagte sie »Tim … lass mich mal überlegen … Tim, ach ja! Das war doch der, der, naja, ein bisschen speziell war, oder?«
Anna drehte mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis um ihre Schläfe und hoffte, dass Michaela das nicht mitbekam.
»Ein bisschen speziell, ja, das könnte man durchaus sagen; du meinst den Richtigen.«
»Ist der nicht Pfarrer geworden?«, fragte Anna. Leo schüttelte den Kopf.
»Nö, er hat zwar Theologie studiert und war, glaube ich, sogar schon Diakon oder so. Aber dann ist er doch wieder abgesprungen. Ich glaube, er hat dann sogar geheiratet.«
Anna nickte.
»Aber war da nicht noch etwas anderes? Hatte der nicht einen Verfolgungswahn, oder so?«
Leo drehte seinen Kaffeebecher in den Händen und starrte hinein, als könnte er darin Tims Biografie lesen.
»Ja, stimmt. Ich glaube, Tim war sogar schon mal in der Geschlossenen. Er hatte bereits als Jugendlicher immer irgendwelche Weltverschwörungstheorien in petto und sah hinter jeder Kleinigkeit irgendein Riesenkomplott.«
»Was für ein Riesenkompott? Ist das was zu essen? «, rief Michaela, die in fertiger Montur und mit geschultertem Schulrucksack in der Diele stand. Weil ihr vor kurzem erst die letzten zwei Milchzähne, und zwar ausgerechnet die Schneidezähne, ausgefallen waren, lispelte sie ein wenig, und wehe, Anna oder Leo machten sich darüber lustig.
»Nein, mein Schatz«, lachte Anna und stand auf. »Das ist eine alte Geschichte aus Papas Schulzeit, nichts weiter.«
Nach dem Friedhof lenkte Leo den Defender in Richtung Regensburg. Er genoss es, ab und zu noch mit seiner kleinen Familie zu frühstücken, bevor er in die Arbeit fuhr, aber dafür blieb er dann umso länger im Büro und schaffte es meistens nicht zum gemeinsamen Abendessen. Als er Kelheim hinter sich gelassen hatte und die Serpentinenstraße durch den Wald nach Sinzing hinauffuhr, hörte er die Journey-CD, die er vor einigen Tagen im Internet bestellt hatte, dachte an seine Schulzeit in Kelheim und an den kleinen, dicken Tim Gräber. Professor wurde er damals von den meisten Schülern genannt, tatsächlich sogar auch von ein paar Lehrern. Leo selbst hatte er immer an Master Higgins, jenen britischen Gentleman-Hausverwalter aus der Krimiserie Magnum, erinnert, was er ihm aber nie gesagt hatte.
So nach und nach rief ihm Steve Perrys unvergleichlich sehnsuchtsvolle Stimme mit Open Arms eine Geschichte nach der anderen ins Gedächtnis zurück, zum Beispiel, als Professor Tim trotz seiner glänzenden Leistungen einen Verweis bekam, Leo meinte, es war sogar ein Direktoratsverweis, weil Tim in einem Deutschaufsatz das komplette Kelheimer Gymnasium als Scientology-Ableger und den Direktor selbst als Opus Dei-Funktionär zu enttarnen versucht hatte. Leo musste breit grinsen.
Irgendwie war er in seiner Kindheit und Jugend ungewollt immer so etwas wie der Losersammler gewesen. Er wusste nicht, woran es lag, aber es schien so, als ob die Randfiguren der Schülergesellschaft, diejenigen, die nie ins Völkerballteam gewählt wurden, und diejenigen, mit denen niemand in den Pausen rumhing, die nie ihren Geburtstag mit Negerkussschlachten – ja, das hieß damals so – feierten und auch nie zu einer Party eingeladen wurden, als ob all diese Verlierer an ihm, Leo, hingen wie Kletten. Irgendetwas musste er damals ausgestrahlt haben, was die Uncoolen magisch anzog – obwohl er selbst sich nie zu ihnen gezählt hatte. Tim, alias Professor Higgins, war in den Augen der 80er-Kids definitiv uncool gewesen, das heißt, er war das fleischgewordene Sinnbild der Uncoolness schlechthin.
Tim war einer von denen, die niemandem etwas recht machen konnten. Nie und nimmer. Die einen Kinder waren neidisch auf seine guten Noten, die anderen lachten über seine Eunuchenstimme und seinen Schwabbelbauch und wieder andere verachteten und verspotteten ihn ganz offen, weil er ein Scheidungskind und das Muttersöhnchen einer bigotten alleinerziehenden Frau war, die sich, nachdem ihr Mann davongerannt war, nur noch grau und schwarz anzog und die Gesellschaft, den Kirchgang ausgenommen, mied, wie ein Vampir das Sonnenlicht. Scheidungen waren im Niederbayern der 80er Jahre keine alltägliche Formalität, sondern brannten den gescheiterten Eheleuten ein grelles Kainsmal auf die Stirn, das ihnen vorauseilte wie Glühwürmchen einem nächtlichen Waldwanderer.
Einmal, fiel Leo plötzlich ein, kurz bevor er auf dem Polizeiparkplatz ankam, hatte er sich sogar für Tim geprügelt, als andere Jungs ihn in der Umkleidekabine hänselten und malträtierten. Vielleicht hatte sich Tim das gemerkt und nun Leo deswegen um Hilfe gebeten. Naja, einmal Samariter, immer Samariter, dachte sich der Kommissar und öffnete die Tür zum mintgrünen Polizeipräsidium, das mit kiloweise Akten und immer noch über hundertzwanzig E-Mails aus seinem Osterurlaub auf ihn wartete.
3
Obwohl das Frühstück in der kleinen Weltenburger Ferienpension ganz ausgezeichnet war, machte sich das dänische Rentnerpaar aus der Nähe von Apenrade schon bei Sonnenaufgang auf in Richtung des ältesten Klosters Bayerns. Sören wollte es sich nicht entgehen lassen, den Sonnenaufgang in der Kirche zu erleben. Denn, wie er, als pensionierter Architekt und großer Verehrer des Barockmeisters Cosmas Damian Asam, aus der Literatur wusste, war es ein beispielloses Spektakel, wenn hinter dem gen Osten ausgerichteten Hochaltar mit der Reiterstatue des heiligen Georg, der gerade im Begriff war, einen Lindwurm zu töten, die Sonne aufging. Durch geschickt versteckte Fenster wurde dann der Altarraum mit rötlich goldenem Licht durchflutet und von überirdischer, auf die Herrlichkeit des Paradieses vorausweisender Transzendenz erfüllt. Dies galt es fotografisch festzuhalten.
Inge hatte schon um fünf Uhr morgens Stullen geschmiert und die Rucksäcke mit den Teleskopwanderstöcken gepackt. Sie wollten unbedingt die Allerersten sein, die an diesem Freitagmorgen die weltberühmte Benediktinerklosterkirche betraten.
Noch lag die Dunkelheit über dem Donaudurchbruch, aber sie schwebte nur noch über dem Wasser, ganz leicht, wie ein Nebeldunst, den schon das erste Vogelgezwitscher des Tages gänzlich auflösen würde. Sören und Inge bestaunten schweigend die Felswände zu ihrer Rechten und schickten ihre Gedanken dem Fluss zu ihrer Linken mit. Nach wenigen Gehminuten durchschritten sie den Torbogen des Klosters. Im Klosterhof befand sich ein Biergarten, der sich in circa drei Stunden bis auf den letzten Platz mit Schiffsausflüglern, Mountainbikern oder Wanderern wie ihnen füllen würde und in dem man sich schon früh am Morgen eine deftige Brotzeit oder ein süffiges Dunkelbier gönnte.
Ein wenig nervös war Sören schon, als er die schwere Eichenpforte aufschob und Inge, als Gentleman der alten Schule, den Vortritt ließ. Er hatte seine Spiegelreflexkamera bereits im Anschlag, wie ein Jäger seine Flinte.
Plötzlich stieß seine Inge einen spitzen Schrei aus und hielt sich die zitternden Hände vor den Mund. In der Eingangshalle lag eine reglose Gestalt. Sören hielt seine Kamera darüber und löste einen Serienblitz aus, um besser sehen zu können. In diesem hellblauen Sekundengewitter sah das alte Paar mit vor Entsetzen und Lichtschock geweiteten Augen, dass es sich um einen schlaksigen Mann mit Glatze um die Fünfzig handelte. Er hatte, wie der gekreuzigte Heiland, beide Arme von sich gestreckt und seine graublauen Augen waren weit aufgerissen. Der Tote war ganz in Schwarz gekleidet und in seiner Brust stak eine etwa einen Meter fünfzig bis sechzig lange, schwarze Lanze.
Sören und Inge stürzten hinaus in den Klosterhof. Während Inge panisch an alle Türen der Gaststätte, der Brauerei und des Konvents hämmerte und Sören mit noch stärkerem Trema als gewöhnlich zweimal den falschen Entsperrungscode in das gemeinsame Smartphone tippte, um einen Notruf abzusetzen, ging hinter dem Hochalter die Sonne auf und tauchte die Apsis in rotgoldenes Licht, das sich über den goldenen Helm des heiligen Georgs, seinen Harnisch und die Lanze ergoss, um letztendlich von dem dunklen Rachen des Lindwurms verschluckt zu werden. Das rote Licht war berauschend schön und wäre wohl das spektakulärste Fotomotiv in Sörens Asam-Album geworden.