Seewölfe - Piraten der Weltmeere 91

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 91
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-415-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Auf dem schwarzen Schiff von Siri-Tong standen plötzlich alle Zeichen auf Sturm.

Flanagan hockte wie erstarrt da. Sein Gesicht hatte sich zu einer widerwilligen Grimasse verzogen. Als er die Fassung halbwegs wiedererlangte, stieß er zunächst einen ächzenden Laut und dann eine lästerliche Verwünschung aus.

Haßerfüllt blickte er zu Rod Bennet. Bennet war um die Vierzig, dick und ziemlich träge. Links auf dem Kopf hatte er keine Haare mehr. Er „borgte“ sie sich immer von rechts und pappte sie mit viel Öl auf seinem Schädel fest. Niemand an Bord rief ihn jemals Rod Bennet, alle nannten ihn Cookie – seiner Hauptaufgabe gemäß.

„Du“, sagte Flanagan, „du Ratte, du gemeine Kombüsenratte.“

Der Zwist zwischen den beiden war nie richtig beigelegt worden. Er hatte nur geruht, aber eine Kleinigkeit genügte, um ihn von neuem wie Feuerglut zu schüren.

Cookie, der im offenen Kombüsenschott stand und noch voll mit der Essensausteilung beschäftigt war, verhielt. Erstaunt sah er den Landsmann an. Ja, sie waren beide Engländer, hatten aber darüber hinaus nichts gemeinsam.

„Was fällt dir ein, mich zu beleidigen, Flanagan?“ fragte Cookie. Während er das sagte, hatte er wirklich keine Ahnung, was Flanagans Wut hervorgerufen hatte, aber er witterte über den Kübel mit dem dampfenden Eintopf weg, daß es mächtigen Verdruß geben würde.

„Diesmal bist du dran“, sagte Flanagan.

Der Stör, der als nächster mit dem Essenfassen an der Reihe war, wandte sich mit gedämpfter Stimme an Cookie. „Geh nicht darauf ein. Du weißt doch, wie leicht Flanagan auf die Palme geht.“

„Ich weiß nicht, was ich verbrochen haben soll“, sagte Cookie verwirrt.

Mit dem streitsüchtigen Flanagan hatte er sich schon ein paarmal in die Wolle gekriegt. Ganz schlimm war es geworden, als sie sich kurz vor dem südlichen Wendekreis und Rio de Janeiro befunden hatten – vor dem Orkan. Da war Flanagan durch ein Versehen Cookies Küchenabfall ins Gesicht geflogen – und Flanagan hatte ihn mit dem Messer töten wollen. Er hatte nicht einmal auf Siri-Tong gehört. Dafür war er zu vier Tagen Vorpiek verdonnert worden.

Flanagan hatte sich gebeugt. Er war kein Meuterer. Er sah ein, daß die Rote Korsarin an Bord ihres Schiffes gleich nach dem lieben Gott kam. Sie war der Kapitän, was sie sagte, mußte getan werden und damit basta.

Aber sein leicht reizbarer, aufbrausender Charakter blieb. In der Beziehung war er noch ungenießbarer als Hilo, der hellhäutige Neger, den Siri-Tong und Thorfin Njal gleichfalls auf Tobago aufgelesen hatten. Daran konnte auch die Vorpiek, die eine Art Vorhof zur Hölle war, nichts ändern.

„Du Ratte“, sagte Flanagan noch einmal. „Das wirst du mir büßen.“

Er saß auf den Stufen des Backbordniederganges, der auf das Vorderkastell hinaufführte. Der Napf mit dem wäßrigen Eintopf ruhte auf seinen Knien. Er hielt ihn mit der einen Hand, in der anderen hatte er den Löffel. Eine Weile hatte er in dem Zeug herumgestochert. Jetzt hob er langsam, geradezu ostentativ den Löffel.

„Das ist es also“, murmelte Oleg, der neben dem Stör stand. „Du hast mal wieder einen Teufelsfraß verbrochen, Cookie. Was ist dir diesmal in die Brühe gefallen, he? Eine Kakerlake?“

Cookies Gesicht legte sich in traurige Falten. Es sah aus, als wolle er jeden Augenblick losheulen. Aber das konnte ihn auch nicht retten. Er, der die Kombüse und Bottlerei des schwarzen Schiffes in Alleinregie betrieb, hatte ohnehin nicht den besten Ruf. Wer wollte da schon zu seiner Verteidigung einspringen? Seine Pfannen waren bekanntlich nicht die saubersten, und an seinen Töpfen klebten meistens die letzten Kohlreste.

Lautete nicht seine Devise: An einer Kakerlake in der Suppe ist noch niemand gestorben, außer der Kakerlake? Und hatten die Männer ihn nicht schon öfter gepackt, in die Kombüse gezerrt und mit dem Hintern ins Holzkohlefeuer gesetzt – wenn der Fraß allzu miserabel gelungen war?

So etwas endete meistens in einer allgemeinen Prügelei in der Kombüse. Cookie war kein Engel, ganz gewiß nicht. Aber wenn’s nach ihm ging, blieb es beim Gebrauch der Fäuste. Flanagan hatte indes andere Ansichten.

Wie hypnotisiert blickte Cookie auf Flanagans Löffel. Ein paar Tropfen Brühe fielen in den Napf zurück, aber nicht das war es, was den Schiffskoch so verblüfft starren ließ.

Von der Löffelfläche hob sich etwas Großes ab. Es war schlecht zu erkennen: grasgrün, glitschig, fladengroß. Alles in allem sah es verdammt eklig aus.

„Hölle und Teufel, was ist denn das für ein Glubber?“ fragte der Stör.

Flanagan entgegnete gepreßt: „Das möchte ich auch gern wissen.“

„Moment mal!“ rief jetzt Cookie. „Dafür bin ich nicht verantwortlich. He, Flanagan, du kannst mir nichts am Zeuge flicken, diesmal nicht, denn ich hab das Ding da nicht in den Brei getan!“

„Wer dann?“ fragte Flanagan beinahe sanft. „Wer hat’s hineingeschmuggelt, hm?“

Schweigen breitete sich aus. Zu hören war nur das Rauschen der gegen den Viermaster anrollenden Seen, das Knarren der Blöcke und Rahen, das Pfeifen und Wispern des Windes. Im Osten, also an Backbord des schwarzen Schiffes, segelte die „Isabella VIII.“ auf Parallelkurs, aber der widmete in diesem Augenblick nicht einmal Siri-Tongs Ausguck seine Aufmerksamkeit. Auf dem Viermaster „Eiliger Drache über den Wassern“ hatte alles nur noch Augen für die beiden Zankhähne.

Flanagan hob den Löffel noch ein Stück höher. Dann bewegte er ihn sehr vorsichtig nach rechts, so, als könne er durch eine unbedachte Geste etwas zerstören, als handle es sich bei dem widerwärtigen Objekt um etwas Wertvolles.

Unversehens zuckte sein Arm wieder vor. Die gelee-ähnliche Masse schoß vom Löffel, torkelte durch die Luft und erreichte Cookie, bevor dieser reagieren konnte. Mitten ins Gesicht kriegte er den Glubber. Cookie taumelte zurück, stieß gegen das Kombüsenschott und setzte sich auf seinen Achtersteven. Das gab einen dumpfen Laut, der bis zum Achterdeck zu hören war.

Juan, Siri-Tongs Bootsmann, begann zu lachen.

Außer ihm lachte aber keiner, denn Flanagan hatte Napf und Löffel weggestellt und sein Messer gezückt. Er erhob sich. Mit schleichenden Schritten verließ er den Niedergang und wandte sich der Kombüse zu.

„Hört auf“, sagte Barry Winston. „Ihr seid jetzt quitt, Flanagan. Cookie hat dir Abfall ins Gesicht geschüttet, und jetzt hast du’s ihm heimgezahlt. Was willst du also noch?“

„Verhindern, daß er jemals wieder was Ähnliches ausheckt“, sagte Flanagan. Er hob das Messer. Die lange, scharfe Klinge blinkte matt.

Cookie sah ihn anrücken und stieß einen entsetzten Laut aus. „Das kannst du doch nicht tun! Bist du des Teufels?“ Mit der Rechten tastete er dabei schon nach einem seiner großen Küchenmesser.

„Laß den Unsinn“, mahnte Juan, der Bootsmann. Er war plötzlich stokkernst. „Du weißt, daß du Ärger kriegst, Flanagan.“

„Mit dir, Juan?“

„Nein, nicht mit mir.“

„Dann geh aus dem Weg.“

Juan zauderte noch, da wehte vom Achterdeck eine helle, scharfe Stimme herüber.

„Flanagan!“

Der Ausruf seines Namens genügte, Flanagan zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Er verhielt. Noch hatte er sein Messer stoßbereit erhoben, doch in seinem Geist arbeitete es heftig. In diesem Moment gelang es ihm plötzlich doch, sich zu bezwingen und für und wider der Sache abzuwägen.

„Flanagan, steck das Messer weg und setz dich hin!“

Siri-Tong stand an der Querbalustrade des Achterdecks, hielt die Arme vor der roten Bluse verschränkt und sandte zornige Blicke zu dem Engländer hinüber. Ihr schönes, rassiges Gesicht hatte sich zu einer frostigen, starren Miene verzogen. Sie konnte weich sein, aber sie verstand es auch, mit eiserner Hand durchzugreifen und auf ihrem Schiff für Ordnung zu sorgen. Sie war eine Frau, die eine Meute wüster Kerle an der Kandare hielt und zu bändigen wußte – eine erstaunliche Frau, mit der sich keiner anlegen wollte.

Auch Flanagan nicht. Er dachte an die Vorpiek, dieses finstere und stinkende Loch, dachte auch an die Neunschwänzige, ans Kielholen und an die Rahnock, an der man gelegentlich Aufmüpfige aufzuhängen pflegte. Er drehte sich um, schob das Messer in den Gurt und ging zu seinem Platz zurück.

Für Siri-Tong war der Fall damit erledigt. Nur Thorfin Njal, Miteigner und Steuermann des schwarzen Seglers, war in der Zwischenzeit über die Kuhl zum Vordeck geschritten und trat jetzt zu Cookie in das offene Kombüsenschott.

 

Cookie rappelte sich auf und hielt das fladengroße Stück Glubber anklagend vor sich hin.

„Was ist denn das?“ fragte der Wikinger.

Cookie schüttelte nur den Kopf, aber Juan antwortete: „Ein Stück von dem Riesenseetang, den wir gestern aufgefischt haben.“

„Tang?“ sagte Thorfin Njal nachdenklich. „Wie konnte der in den Eintopf geraten? Wir hatten ihn doch gleich wieder in die See zurückbefördert.“

„Keiner hat ihn in die Kübel schmeißen können“, beteuerte Cookie. „Ich hab aufgepaßt. Ich schwör’s dir, Wikinger.“

„Schon gut. Jemand muß ein Stück abgeschnitten und in Flanagans Napf geworfen haben, ohne daß der es merkte. Als dann der Brei dazugetan wurde, schwamm das Ding plötzlich oben.“

„Ja, so muß es gewesen sein“, sagte Juan.

Thorfin Njal blickte zu den Männern, die sich zur Essensausgabe um den großen Kübel geschart hatten. Er sagte kein Wort, nur seine Augen drückten aus, was er verlangte.

Und so war es denn Mike Kaibuk, der ein Stück vortrat. „Ich bin’s gewesen. Ich hab Flanagan, diesem ewig gereizten Stier, mal einen Streich spielen wollen.“

„Auf Cookies Kosten“, erwiderte der Wikinger grimmig. „Wobei jeder weiß, daß ein Streit zwischen Flanagan und unserem Koch tödlich enden kann.“ Er schob sich aus dem Schott und stellte sich ganz dicht vor Mike Kaibuk hin.

Mike war ein dunkelhaariger Typ mit braunen Augen, schmächtig, flink und verschlagen. Er prahlte gern, riß das Maul auf und heckte allerlei bedenklichen Schabernack aus, aber immer auf Kosten anderer.

„Mike“, sagte Thorfin Njal, „such dir einen anderen für deine Streiche aus, ja? Laß Flanagan in Ruhe. Wir wollen keine Messerstechereien, keinen Mord und Totschlag. Wenn du’s nicht kapierst, ramme ich dir ein bißchen Vernunft in den Schädel – hiermit.“ Er hob seine rechte Faust. Sie war so groß wie eine Ankerklüse, und man sagte von ihr, daß Thorfin Njal, dieser Koloß von einem Kerl, damit unzweifelhaft jemanden ungespitzt durch die Decksplanken hämmern könne.

„Kapiert“, sagte Mike Kaibuk rasch. „In Ordnung, Sir.“

Der Wikinger gab einen grollenden Laut von sich. Er nahm das Stück Tang aus Cookies Hand und schleuderte es in hohem Bogen außenbords.

„Auf treibenden Tang achten“, sagte Hasard zu dem jungen Dan O’Flynn. „In diesem Meeresbereich wimmelt es geradezu davon.“

„Wie in der Sargasso-See?“ fragte Dan zurück. „Teufel, das hat uns gerade noch gefehlt. Wir wollen doch endlich um Kap Horn herum und nicht dauernd aufgehalten werden. Fehlt bloß noch, daß wir in eine Kalme geraten.“

„Halt die Luft an und mal den Teufel nicht an die Wand.“ Hasard blickte zu den Segeln hoch, überprüfte den Stand der Flögel. „Noch haben wir den steifen Nordwest, und ich hoffe, er dauert noch eine Weile an. Der bläst von Afrikas Küsten herüber, mußt du wissen.“

Dan schaute seinen Kapitän zweifelnd an. „Wie kann denn der aus Afrika stammen, wenn er aus Nordwesten kommt?“

„Ganz einfach. Er drückt nördlich des Wendekreises als Südost-Passat quer über den Atlantik gegen den neuen Kontinent an, beschreibt an der Gebirgsbarriere eine Wende und dreht so, aus Nordwesten blasend, wieder aufs Meer ab. Auf diese Weise umkreist er ein Schönwettergebiet, das um diese Jahreszeit über dem Atlantik stehen dürfte.“

„Mann“, sagte Dan. „Das habe ich nicht gewußt. Aber der Wind kann auch in den Pampero umschlagen, oder?“

„Hier doch nicht mehr“, sagte Hasard verärgert. „Los, schieb ab in den Großmars.“

Dan, der kurz aufs Hauptdeck abgeentert war, um Hasards Anweisungen entgegenzunehmen und Essen zu fassen, enterte wieder in den Leewanten auf und setzte sich zu dem Schimpansen Arwenack auf seinen luftigen Posten zurück. Von hier aus würde er jedes fremde Schiff, jede bedrohliche Wetterfront, jede Veränderung rechtzeitig melden, denn bekanntlich hatte er ja die schärfsten Augen an Bord der „Isabella“.

Hasard ging ins Ruderhaus, sprach kurz mit dem Rudergänger Pete Ballie, kontrollierte den Kompaß und beschäftigte sich mit seinen Navigationsinstrumenten.

Kurz darauf hielt er mit Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Old O’Flynn, Edwin Carberry und Smoky eine Lagebesprechung auf dem Achterdeck ab. Der kühle Wind zerzauste seine schwarzen Haare, als er sich ganz achtern an die Heckreling stellte und zum schwarzen Segler hinüberschaute. Er konnte Siri-Tong nirgends auf Oberdeck entdecken, wahrscheinlich hatte sie ihre Kapitänskammer im Achterkastell aufgesucht.

Neben dem Rudergänger stand drüben Thorfin Njal am Kolderstock und paßte auf, daß der Kurs und die Parallel-Position zur „Isabella“ beibehalten wurden. So rauschten beide Schiffe nebeneinander durch die bewegte See und nutzten den Wind, der von raumschots einfiel.

„Drüben hat es wieder Streit gegeben“, sagte der alte O’Flynn. „Flanagan wollte mal wieder tobsüchtig werden, wenn mich nicht alles täuscht.“

„Immer dieser Flanagan“, sagte der Profos. „So einer würde sich bei mir nicht lange halten – oder er würde kuschen.“

„Stimmt“, sagte Hasard. „Was war denn dieses Mal los?“

„Nichts Ernstes“, erwiderte Dans Vater. „Es ging um’s Essen, und dann hat der Wikinger was über die Bordwand gefeuert. Sah aus wie ein Stück Tang.“

„Wir müssen uns vor diesem Zeug höllisch in acht nehmen.“ Hasard wies mit einer ausschweifenden Gebärde auf die See. „Wir befinden uns jetzt auf dem Scheitelpunkt zwischen dem 45. und 50. Grad südlicher Breite – das ist auf dieser Seite der Welt die Hauptzone des treibenden Tangs.“

„Wird schon schiefgehen“, meinte Carberry. „Aber so wie damals in der Sargasso-See lassen wir uns nicht ’reinlegen, oder?“

„Hör auf damit“, sagte der Seewolf. „Ich will nicht, daß ihr immer wieder die alten Geschichten aufwärmt, vor allem, was Spuk und Jonas-Gerüchte betrifft.“

„Aye, aye, Sir.“

„Wenn wir weiterhin Glück mit dem Wind haben, müßten wir in spätestens einer Woche den südlichsten Zipfel der Neuen Welt erreicht haben. Bis dorthin sind es noch rund 400 Seemeilen. Bei einem Etmal von über hundert Meilen pro Tag müßten wir es eigentlich eher schaffen, aber ich will nicht zu optimistisch rechnen.“

„Da wären noch die Ausläufer der Westwind-Trift und die anderen widrigen Strömungen, auf die wir bald stoßen“, sagte Ben Brighton.

„Sehr richtig. Wir tun also gut daran, einen gewissen Zeitverlust mit ins Kalkül einzubeziehen“, entgegnete der Seewolf. „Ganz zu schweigen von Flauten oder Stürmen, auf die wir jederzeit vorbereitet sein müssen.“

„Es gibt hier in der Nähe eine größere Inselgruppe, wenn mich nicht alles täuscht“, sagte Ferris Tucker. Der rothaarige Riese wies mit der ausgestreckten Hand nach Südosten. „Dort irgendwo. Laufen wir die noch an?“

„Nur, wenn wir noch Proviant fassen müssen. Aber es wäre ein Umweg, außerdem haben die Inseln uns nicht viel zu bieten. Sie sind unwirtlich, kahl, und ich bin nicht einmal sicher, daß es dort Trinkwasser gibt.“

„Ich habe vorhin mit dem Kutscher gesprochen“, sagte Big Old Shane. „Er meint, es wäre nicht schlecht, wenn wir den Bestand der Vorratskammern vor dem Runden von Kap Horn ein wenig auffrischen könnten. Wenn nicht, müssen wir uns gleich anschließend an der Westküste der Neuen Welt nach Eßbarem und Trinkwasser umsehen. Wie es drüben auf dem schwarzen Schiff aussieht, weiß ich nicht.“

„Wir können ja Tang auffischen“, sagte der alte O’Flynn mit spöttischem Grinsen. „Ich hab mal gehört, das Zeug soll man futtern können. In der Not frißt der Teufel Fliegen.“

„Na schön, wir werden für dieses Problem schon eine Lösung finden“, meinte Hasard. „Ich muß die Entscheidung mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Wenn wir Verzögerungen kriegen, kann ich nicht umhin, nach Proviant und Wasser zu suchen.“

Er trat an die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß zum Hauptdeck hin bildete. Sein Blick schweifte über die arbeitenden Männer auf der Kuhl und der Back hinweg voraus. Von jetzt ab wurden die Naturgewalten immer unberechenbarer. Er war schon einmal hier gewesen, mit Francis Drake. Das lag nun schon fast sechs Jahre zurück. Damals war alles anders gewesen. Er konnte sich in seiner Beurteilung der Lage nicht auf die Gegebenheiten der damaligen Zeit verlassen. Die Fähigkeit, sich schnell auf jede Laune der Elemente einstellen zu können, war eine der unabdingbaren Voraussetzungen, die seine Aufgabe erforderte.

Und wenn es ganz dick kam? Wenn sich Barrieren vor ihm auftürmten, die er nicht durchdringen konnte?

Umkehren? Aufgeben?

Niemals. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, blieb bestehen. Er wollte in den Großen Ozean vorstoßen – wie schon einmal –, diesmal aber nicht an der Westküste bis hinauf nach Panama segeln, sondern den Ozean überqueren, um bis nach China und zum Rest des geheimnisvollen Asiens zu gelangen.

Daran hatten auch die jüngsten Ereignisse nichts zu ändern vermocht. Das Abenteuer auf der Insel vor Bahia, die Treibsand-Falle und das Gefecht mit der Bande des Alfiero León, die Geschehnisse am Rio de la Plata – all das waren nur Geschehnisse, die einen Philip Hasard Killigrew nicht von seinen ursprünglichen Plänen abbringen konnten.

„Weiter“, murmelte er vorsichtig. „Ich will deine Heimat kennenlernen, Siri-Tong. Und ich werde es schaffen, auch wenn du immer noch nicht ganz damit einverstanden bist.“

Bis in die Nacht hinein segelten die beiden Schiffe einen beständigen, strammen Törn. Bei Dunkelheit drehte der Wind von Nordwest auf West. Die „Isabella“ und der schwarze Segler segelten halbwinds, auf Backbordbug liegend, weiter nach Süden.

Die Stimmung auf beiden Schiffen war zuversichtlich und gut – bis zum Morgengrauen. Plötzlich änderte sich die gesamte Lage, und der Seewolf hatte allen Grund, sich zu sorgen.

2.

Die See war am frühen Morgen von milchig-grüner Färbung und lag wie eine gigantische Platte da. Die Dünung hatte immer mehr nachgelassen, der Wind schlief fast völlig ein. Bleigrau spannte sich der bewölkte Himmel über den Schiffen. Sie liefen nur noch wenig Fahrt voraus, denn inzwischen drückten auch die von Ben Brighton erwähnten Strömungen gegen sie an.

„Bald treten wir auf der Stelle“, sagte Ferris Tucker. „Himmel, ist das ein verfluchter Mist hier.“

„Was sollen wir tun?“ erwiderte der alte O’Flynn. „Bloß dastehen und uns in der Nase bohren?“

Hasard beobachtete aus schmalen Augen, wie seine „Isabella“ mehr und mehr an Fahrt verlor. Er stand mit der Körperseite gegen das Steuerbordschanzkleid des Achterdecks gelehnt und schaute an der Bordwand entlang. Die Bugwelle schrumpfte und hatte keinen weißen Bart mehr. Ein Blick nach oben: Die Segel hingen wie schlaffe Bettlaken an den Rahen. „Zum Verrücktwerden“, sagte Hasard leise. „Notfalls müssen wir die Beiboote abfieren und die Schiffe in Schlepp nehmen. Aber damit warten wir noch.“

„Deck!“ schrie Dan O’Flynn plötzlich aus dem Hauptmars. „Achtung, da ist er, der verfluchte Riesentang! Er treibt von Süden mit der Strömung auf uns zu!“

„Verdammt“, sagte der Seewolf. Er nahm den Kieker, zog ihn auseinander und blickte zum schwarzen Schiff hinüber. Siri-Tongs Ausguck schien den Tang noch nicht bemerkt zu haben, jedenfalls saß er ganz ruhig im Mars und traf keine Anstalten, die Decksmannschaft auf irgend etwas hinzuweisen.

„Dan!“ rief Hasard. „Signalisiere der Roten Korsarin, was da auf uns zuschwimmt!“

„Aye, aye, Sir!“

Hasard wandte sich seinen Männern auf Deck zu. „Los, wir fallen ab und nutzen den letzten Windhauch aus, um dem Tang auszuweichen. Es kann sich um ein paar Einzelstücke handeln, wie sie vorgestern vorbeigetrieben sind. Aber genausogut kann es eins jener Riesenbeete sein, die ein Segelschiff gefangenzusetzen vermögen. Los, Pete, abfallen! Ed!“

„Aye, aye, Sir, abfallen!“ brüllte der Profos. „Ihr Stinkstiefel, ihr faulen Säcke, an die Brassen und Schoten! Schrickt weg die verfluchten Tampen, wird’s bald!“

Wenig später sah auch Hasard durch sein Spektiv, was von Süden auf sie zutrieb. Nein, das waren keine einzelnen Tangblätter, wie er anfangs noch gehofft hatte. Das war ein Meer im Meer, eine gewaltige Fläche von grasgrünen Gewächsen, die sich wie Riesenaale ineinander- und durcheinanderschlängelten. Sie waren imstande, ein Boot samt Besatzung in die Tiefe zu zerren. Sie umschlossen Schiffe, setzten ihre Ruderblätter außer Betrieb und hielten sie – das vor allen Dingen im Sargassomeer – für die Ewigkeit fest.

Unaufhaltsam rückte das Unheil auf sie zu.

Hasard warf wieder einen Blick zum schwarzen Segler hinüber. Während die „Isabella“ bereits den Kurs wechselte und direkt vor den lauen Wind ging, schallten jetzt erst die entsprechenden Befehle über das Deck des Viermasters.

 

Zu spät begann die Rote Karsarin mit dem Manöver.

„Siri-Tong, beeilt euch!“ schrie Hasard zu ihr hinüber, aber er war sich dabei auch im klaren, daß er ihr nicht helfen konnte. Auch Dan signalisierte aufgeregt aus dem Großmars, um die Rote Korsarin zu schnellerem Handeln zu bewegen, aber das nutzte ebensowenig.

Siri-Tong tat, was in ihren Kräften stand. Und es lag weder an ihr noch an ihrer Mannschaft, daß sie nur mit geradezu lähmender Langsamkeit abfiel – bei den miserablen Windverhältnissen kriegte sie ihr großes 500-Tonnen-Schiff einfach nicht schneller herum.

Hasard spielte mit dem Gedanken, auch die letzte Fahrt aus dem Schiff zu nehmen und auf den schwarzen Segler zu warten. Aber was erreichte er damit?

Die Antwort auf diese Frage erhielt er bald. Hätte er die Segel aufgeien lassen, dann hätten sie im Handumdrehen beide festgesteckt. So aber entzog sich die „Isabella“ gerade noch mit knapper Not dem herantreibenden Tang.

Siri-Tong mußte mit zusammengepreßten Lippen und geballten Händen zusehen, wie die schlüpfrige Masse ihr Schiff umhüllte. Das Zeug schien sich an den Bordwänden festzuklammern und festzusaugen. Es brachte das Schiff zum Stoppen.

Entsetzt sahen der Boston-Mann, Juan, die fünf Wikinger und die anderen Besatzungsmitglieder auf das treibende Geschlängel, das sich da rund um ihren Segler abspielte. Cookie zog sich vorsichtshalber aus Flanagans Nähe zurück, weil er befürchtete, der Mann könne ihm auch hierfür die Schuld in die Schuhe schieben.

Als der Riesentang sich schmatzend um das Ruderblatt des schwarzen Schiffes legte, war es endgültig aus mit der Manövrierfähigkeit.

„Bei Odin!“ brüllte Thorfin Njal. „Aus diesem Schlamassel kommen wir vorerst nicht wieder ’raus!“

„Wir müssen ein Loch in das Zeug schießen!“ schrie Juan. „Das muß irgendwie zu drehen sein!“

„Wir könnten unsere Brandsätze in den Tang feuern“, entgegnete Siri-Tong. „Aber sie müßten sehr tief angesetzt werden und dicht neben oder vor dem Schiff einschlagen. Wir könnten uns selbst gefährden. Nein, warten wir noch.“

Arne schaute plötzlich auf und stieß einen verblüfften Laut aus. Er befeuchtete rasch einen Finger, streckte ihn hoch in die Luft und wies dann auf die Takelage. „Da kann man doch verrückt werden! Der Wind bläst immer noch aus Westen, aber er hat wieder zugenommen. Und wir hocken hier im Tang und haben nichts davon.“

Es stimmte, der Wind hatte aufgefrischt und schob die „Isabella“ rascher vor sich her. Sie beschleunigte zusehends. Hasard konnte sich darüber aber nicht recht freuen.

Er schaute wieder zum schwarzen Schiff und sagte: „Teufel, sie bewegen sich auch, aber der Tang haftet an ihnen und schleift mit. Das sieht ja fast wie Hexerei aus.“

Er wandte sich um. Nur Ben Brighton befand sich dicht hinter ihm und hatte seine Worte gehört. Darüber war Hasard froh. Ben war kein sehr abergläubischer Mann. Die anderen aber hätten allein das Wort Hexerei wieder mit ihren Unkereien und Spökenkiekereien interpretieren können.

„Anluven“, befahl der Seewolf. „Ruder Backbord, wir gehen auf Nordkurs und dann über Stag – wir umkreisen den schwarzen Segler!“

Und so umrundete die „Isabella VIII.“ den Viermaster wie ein großes Tier, das seinem Artgenossen helfen möchte und es doch nicht kann. Beide Schiffe wurden dabei vom Wind immer weiter nach Osten gedrückt.

Das Tangfeld hatte riesige Ausmaße. Hasard konnte nicht einmal auf Rufweite an das schwarze Schiff heran. Wagte er sich zu dicht an die glitschigen grünen Gebilde, dann riskierte er, ebenfalls gepackt zu werden.

„Wir müssen was unternehmen“, sagte er zu Ben Brighton. „Wenn wir das schwarze Schiff einfach so treiben lassen und darauf hoffen, daß eine günstige Gegendrift den Tang wieder davonträgt, besteht die Gefahr, daß Siri-Tong irgendwo aufläuft. Die Inseln sind nach meinen Berechnungen nicht mehr fern.“

„Was tun wir also?“ erwiderte Ben Brighton. „Können wir nicht ein Tau zum schwarzen Segler hinüberbefördern – etwa so wie in der Treibsand-Lagune? Wenn Big Old Shane präzise zielt, dürfte durch den Pfeil, der die Leine trägt, drüben auf dem Viermaster keiner verletzt werden.“

„Ben, die Entfernung ist zu groß für einen solchen Schuß.“

„So ein Mist aber auch.“

„Also“, sagte jetzt Ferris Tucker zum Seewolf, „ich habe doch diese Handbomben gebastelt – Flaschen, die mit Nägeln, Blei und Pulver gefüllt sind. Damit könnten wir eine Bresche in den verfluchten Tang treiben.“

„Ich glaube, das hat wenig Zweck“, erwiderte Hasard. „Genausogut kannst du versuchen, ein Feuer auszuspucken. Wo du ein Loch in den Tang sprengst, schließt sich die Lükke in Sekundenschnelle wieder.“

„Aber wir könnten es doch wenigstens probieren“, sagte der rothaarige Riese beharrlich.

„Ja. Ich schätze, es ist unsere einzige Möglichkeit.“

„Gut, ich hole die Flaschen“, sagte Ferris.

In diesem Augenblick meldete sich wieder Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Männer, die Augen nach Westen. Wale! He, ho, ich krieg zuviel, das ist eine ganze Schule!“

Sie befanden sich inzwischen wieder an der südlichen Flanke des Riesentang-Feldes, segelten also mit achterlichem Wind nach Osten. Hasard verließ das Achterdeck und lief mit seinem Spektiv über die Kuhl zur Back, um einen besseren Ausblick zu haben. Er klomm den Steuerbordniedergang hoch, stellte sich neben Smoky und Al Conroy ganz vorn an die Balustrade und spähte durch die Optik.

Es war eins der gewaltigsten Schauspiele, dem ein Mensch beiwohnen konnte, vergleichbar vielleicht nur mit einem Seebeben oder der Geburt einer Vulkaninsel. Schätzungsweise zwei Seemeilen vor den beiden Schiffen brach die See an mehreren Stellen auf, als müsse sie Blähungen entlassen. Das gischtete und sprudelte, das schäumte und brodelte, und dann schnellten zunächst zwei Riesenleiber mit urwüchsiger Kraft aus den Fluten hervor und gleich darauf noch einer. Ja, sie vermochten sich bis in die Luft hinauszukatapultieren. Danach tauchten sie kopfüber wieder ein, ein gewaltiger Hieb mit der Schwanzfluke noch, und jeder von ihnen verschwand in den Tiefen, um seinen Artgenossen Platz für den nächsten akrobatischen Salto zu schaffen.

„Das ist ja phantastisch“, sagte Hasard.

„Kaum zu glauben“, pflichtete Smoky ihm bei. Er stand links neben ihm und hatte ebenfalls das Fernrohr ans Auge gehoben. „Ich habe schon ein paarmal Wale beobachtet, aber so herrliche Sprünge habe ich noch nicht gesehen.“

„Hasard, wie viele hast du gezählt?“ rief Dan von oben. Er hatte sich aufgerichtet und blickte angestrengt durch den Kieker. „Fünf, sechs, Mann, ich verliere den Überblick!“

„Es sind mehr als zehn Tiere“, antwortete der Seewolf. „Und zwar Humpbacks, Buckelwale. Ihr Anführer scheint der größte von allen zu sein – der, der die kühnsten Sprünge ausführt. Ja, er muß der Leitbulle sein.“

„Wir halten genau auf sie zu“, sagte Al Conroy.

„Ja.“ Hasard war fasziniert. Er konnte sich nicht sattsehen an dem Getummel und der Ausgelassenheit der gewaltigen Tiere. „Buckelwale sind die Artisten unter den Walen. Sie werden nicht so groß und schwer wie die Blau- und Pottwale, aber sie leisten ganz Erstaunliches – wie diese Sprünge über die Wasseroberfläche hinaus. Sie tragen Höcker auf dem Kopf, haben einen schwarzen Rükken, einen weißen Bauch und lange Brustflossen, die beim Jumpen wie Windmühlenflügel rotieren.“

„Wie du das alles weißt“, sagte Smoky. „Was meinst du, wie lang ist das Leittier wohl?“

„Fünfzehn Yards oder noch länger.“

„Warum jagen wir ihn nicht?“

Hasard setzte das Spektiv ab und sah seinen Decksältesten verwundert an. „Jagen? Wie kommst du darauf?“

„Wir könnten doch Fleisch-Nachschub gebrauchen. Walfleisch soll wie Rind schmecken, hab ich gehört.“

„Das ist auch so“, entgegnete Hasard. „Aber ich hätte nie ernsthaft daran gedacht, so einen Brocken zu erlegen und dann hier auf dem Deck der ‚Isabella‘ auszuweiden. Erstens sind wir keine Fachleute auf dem Gebiet, Smoky. Zweitens liegt es mir irgendwie nicht, einen Wal zu töten. Sie sollen kluge Burschen sein, diese Giganten, und ich habe Respekt vor ihnen.“

„Das heißt, wir lassen die Schule in Ruhe?“

„Ja.“

Smoky bedauerte das. Hasard konnte seinem Gesichtsausdruck deutlich das Jagdfieber entnehmen, das ihn gepackt hatte. Er konnte es ihm nicht verübeln. Der Wunsch, ein großes Tier zu besiegen, war als Instinkt in jedem Menschen verwurzelt. Und je größer das Wesen war, desto mächtiger wurde dieses Bestreben.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?