Seewölfe - Piraten der Weltmeere 246

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 246
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-582-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Das ist doch wirklich ein Witz“, sagte Ferris Tucker, der seine schwieligen Hände auf das Backbordschanzkleid des Achterdecks gelegt hatte und sich aufstützte. „Daheim in Old England pfeifen eiskalte Winde übers Land, und es liegt bestimmt wieder Schnee, auch in Cornwall. Und hier? Hier brennt einem die Sonne auf den Pelz, wie im Frühling.“

„Und Orangen und Zitronen gibt’s“, sagte Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der „Isabella VIII.“, lächelnd. „Außerdem Feigen, Datteln und Oliven, Fenchel und Artischocken – und Wein, roten und weißen Wein in Hülle und Fülle.“

Sie blickten zu den Booten hinunter, die die „Isabella“ umlagerten wie ein Schwarm quicklebendiger Fische, die einen riesigen Wal begleiteten. Das Schnattern der mit Burnus und Turban bekleideten Insassen drang zu ihnen herauf, ein einziges Durcheinander von Worten jener fremden Sprache, die nach wie vor nur zwei Mitglieder der Besatzung richtig verstanden: Philip junior und Hasard junior, die Zwillinge, Philip Hasard Killigrews Söhne. Sie standen auf dem Hauptdeck neben ihrem Vater und übersetzten ihm, was die ambulanten Händler ihnen auf türkisch zuriefen.

Eifrig boten die Burnusträger, ihre Waren feil. Sie hielten geflochtene Körbe mit Früchten und Gemüse, Krüge mit Wein in die Höhe und nannten ihre Preise.

„Ja, Freunde“, sagte Big Old Shane, der soeben zu Ferris und Ben getreten war. „In England dagegen müßten wir uns mit ein paar verschrumpelten Äpfeln zufriedengeben, die vom letzten Sommer übriggeblieben sind. Und dann wären da noch das Bier und der gepanschte Wein, den Gauner und Halsabschneider wie Nathaniel Plymson ausschenken. Damit ist, weiß der Himmel, nicht viel los. Läßt es sich hier nicht viel besser aushalten?“

„Klar“, erwiderte der rothaarige Schiffszimmermann mit verdutzter Miene. „Habe ich das vielleicht bestritten?“

„Nicht direkt.“

„Sondern? Auf was spielst du eigentlich an?“

Ben lachte. „Das ist doch ganz einfach. Shane denkt, daß es dich zurück nach England zieht.“

„Mich?“ Ferris stieß einen Laut der Empörung aus. „So ein Blödsinn.“

„Gib es ruhig zu“, sagte Shane. „Schließlich sind wir doch schon eine Ewigkeit nicht mehr dort gewesen.“

Ferris hatte sich umgedreht und rückte drohend ein Stück auf den graubärtigen Riesen zu. „Sicher, das weiß ich. Aber ausgerechnet mir willst du anhängen, daß ich Heimweh nach Plymouth, nach der ‚Bloody Mary‘ und dem dicken Plymson habe? Mann, Shane, das lasse ich mir von dir doch nicht in die Stiefel schieben.“

„Von Heimweh kann keine Rede sein …“

„Mir gefällt es hier bestens“, fiel Ferris ihm ins Wort. „Hier kann man wenigstens im Hemd an Deck stehen, und das nach Weihnachten! Ist das nicht wunderbar? Mehr noch, man kann sich das Hemd sogar ausziehen. Hier, soll ich mal?“ Er traf Anstalten, seinen Oberkörper zu entblößen, aber Shane stoppte sein Vorhaben durch eine Geste.

„Schon gut, ich glaub’s dir ja“, brummte er. „Wir sind im Gelobten Land, wir haben herrliches Wetter, uns mangelt es an nichts – was wollen wir noch mehr?“

„Eben“, sagte Ferris mit grimmiger Miene. „Was wollen wir noch mehr?“

Ben Brighton grinste sich eins und stieg auf das Hauptdeck hinunter. Natürlich wären sie alle – er selbst schloß sich da nicht aus – um diese Zeit gern wieder in England gewesen, aber keiner mochte es so recht eingestehen. Zu Weihnachten war den harten Männern, die tausend Wettern und Entbehrungen getrotzt hatten, ein bißchen wehmütig ums Herz geworden, denn gern hätten sie wenigstens gewußt, wie es ihren Angehörigen zu Hause ging und überhaupt, ob sie noch alle am Leben waren.

Doch gut fünftausend Meilen Seeweg lagen zwischen der „Isabella“ und Cornwall. Und zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und die Hoffnung auf eine baldige Heimkehr hatten der liebe Gott und Hasard, der „Master next God“, noch eine ganze Reihe von Begebenheiten und Unternehmungen geschoben.

Auf der Reede von Akka, einem der ältesten Häfen von Palästina, ankerte die „Isabella“. Noch weiter nach Süden sollte sie segeln, an der Wüste Sinai vorbei und nach Ägypten, die Mündung des Nils hinauf auf der Suche nach den Wundern, die die Karten des Seewolfs verhießen. Was sie alle am Ende dieser Reise erwartete, konnte noch keiner ahnen.

Man schrieb den 28. Dezember 1591. Als eine Art Frist hatte der Seewolf sich den Jahreswechsel gesetzt, bis dahin wollte er das „Land der Pharaonen“ erreicht haben, obwohl es natürlich keinen zwingenden Grund dafür gab, am 1. Januar 1592 bereits am Nil zu sein.

In Akka jedoch hatte er eine Zwischenstation eingelegt, um ein wenig Proviant an Bord zu nehmen. Trinkwasser, Frischfleisch, Dörrfleisch, Speckseiten und Dauerwurst waren in der Vorratskammer der Kombüse noch reichlich vorhanden, doch es mangelte an „Grünzeug“. Hier, im Heiligen Land, konnte man davon noch genug erstehen, wie sich erwiesen hatte. Wie es jedoch an den sandigen Küsten Nordafrikas sein würde, wußten die Männer der „Isabella“ nicht.

Daher hatte Hasard an diesem Morgen beschlossen, Akka anzulaufen, und jetzt, am späten Vormittag, schickte er sich an, einen Teil der lärmenden Meute in den Booten auf das von der Sonne erwärmte Deck der „Isabella“ zu lassen.

Türkisch wurde auch hier gesprochen – wie auch auf Zypern, an der Südküste Anatoliens und im Libanon, wo sie zuletzt gewesen waren –, nicht etwa vorwiegend Hebräisch oder Arabisch, denn 1517 war Palästina durch Selim I. Ägypten entrissen und dem mächtigen Ottomanischen Reich einverleibt worden. Soweit es die Sprache betraf, war dies ein Vorteil für die Seewölfe, denn sie konnten sich dank der Vermittlung durch die Zwillinge wenigstens mit den Menschen verständigen.

Als Ben sich zu Hasard und dessen Söhnen gesellte, erschien gerade auch der Kutscher in Begleitung von Carberry und Blacky und fragte: „Wie steht es mit den Preisen, Sir?“

Der Seewolf wandte sich zu seinem Koch und Feldscher um. „Sie behaupten alle, man könne ihre Waren für ein Bakschisch haben, für ein Almosen – aber wer glaubt ihnen das schon? Warte nur ab, bis das Feilschen beginnt.“

„Bezahlen wollen wir ja“, sagte Ben. „Bloß wollen wir uns nicht übers Ohr hauen lassen, nicht wahr?“

„Stimmt genau“, erwiderte Hasard. „Deshalb habe ich den Kutscher gleich rufen lassen, damit er prüft, was die Burschen uns anbieten. Sollten sie faule Ware in ihre Körbe geschmuggelt haben, können sie gleich wieder verschwinden.“

„Dann fliegen sie achtkantig über Bord, was?“ fragte Edwin Carberry, der Profos.

Hasard lachte. „Nein, dann komplimentieren wir sie in ihre Boote zurück, Ed. So nennt man das.“

„Hol’s der Henker“, brummte der Narbenmann. „So fein werde ich mich nie ausdrücken können. Ist denn das so schlimm?“

„Eigentlich nicht“, entgegnete sein Kapitän. „Aber du solltest dir merken, daß wir hier Gäste sind und keine Leute ins Hafenwasser befördern dürfen, nur weil uns ihre Nase vielleicht nicht paßt.“

„Wie? Ihre Nase? Und was ist, wenn sie uns begaunern?“

„Dem einen oder anderen mag das so im Blut liegen“, sagte Hasard. „Aber auch das ist kein Grund dafür, gleich rüde Methoden anzuwenden. Halte dich bitte zurück.“

„Aye, Sir.“

„Man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst“, sagte der Kutscher mit einem feinen Zucken in den Mundwinkeln.

Der Profos fuhr zu ihm herum. „Das steht in der Bibel, wie, was? Na schön, ich habe nichts gegen die Bibel, du Bratfloh. Aber ich kann deine schlauen Reden nicht ausstehen, Kutscher. Halt gefälligst dein Schott, sonst setze ich dich auf der nächsten Feluke aus, da kannst du dann als Bordkaplan deine weisen Sprüche von dir geben.“

„Aye, Sir“, sagte der Kutscher.

Hasard hatte den Zwillingen einen Wink gegeben. Philip und Hasard junior beugten sich über das Schanzkleid, steckten die Finger in den Mund und stießen beide einen schrillen Pfiff aus, der die Händler verstummen ließ. Dann rief Philip junior etwas, das in den Ohren ihres Vaters und seiner Männer wie „Bysgidiorus“ und „Schasgiorsudüs“ klang, und deuteten auf den einen und anderen der Burnusträger.

Ihre Worte wirkten wie ein Zauberspruch. Mit geradezu unglaublicher Eilfertigkeit und Geschicklichkeit enterten die sechs Auserwählten an der von Blacky inzwischen ausgebrachten Jakobsleiter auf und balancierten ihre Körbe und Krüge auf ihren Häuptern und Händen.

Die anderen, die in den Booten bleiben mußten, blickten recht betroffen drein, doch die Zwillinge beschwichtigten sie mit ein paar schnell ausgestoßenen, zungenbrecherischen Worten.

 

„Was habt ihr ihnen gesagt?“ wollte ihr Vater von ihnen wissen.

„Daß sie auch noch drankommen, Dad, Sir“, antwortete Hasard junior.

„Wir werden sehen“, sagte der Seewolf. Er war sich noch nicht schlüssig darüber, ob er auch die anderen alle an Bord lassen sollte. Vielleicht genügte ihm die Ware, die jetzt von dem halben Dutzend Turbanmänner auf die Kuhl gehievt wurde. Diese sechs Männer schienen tatsächlich das beste Obst und Gemüse zu veräußern. Wie es allerdings mit dem Wein war, ließ sich erst nach einer Geschmacksprobe beurteilen.

Hasard hütete sich davor, die ganze Schar an Bord aufzunehmen. Bei anderen Gelegenheiten hatte sich schon erwiesen, daß es ein großer Fehler sein konnte, denn oft wurden Bumboote und Proviantschaluppen nur als Tarnmittel benutzt. Oft genug hatten verkleidete Beutelschneider und Marodeure die „Isabella“ zu kapern versucht, und auch in Neapel hatte es ein ähnliches Abenteuer gegeben, bei dem die Seewölfe leicht den kürzeren hätten ziehen können.

Bei aller gegenseitigen Gastfreundschaft war auch im Heiligen Land Vorsicht geboten. Der Seewolf vergaß dies keine Minute, weil ein gebranntes Kind bekanntlich das Feuer scheut.

Die Händler setzten ihre Körbe und Krüge auf den Planken ab und begannen wieder, die Qualität der Waren in den lautesten Tönen anzupreisen. Der Kutscher trat mitten zwischen sie, beugte sich über die duftenden Fenchel, über Artischokken, Stielmangold, Sellerie, Rosmarin und Salbei und begutachtete sie mit kritischer Miene. Er nahm Orangen und Zitronen in die Hände und ließ seinen Blick argwöhnisch über die grünen und schwarzen Oliven wandern.

Mit Oliven hatten die Seewölfe auch nach ihren vielen Reisen in fremde Länder nicht viel im Sinn, doch alles andere brauchten sie dringend. Wenn kein Sauerkraut an Bord war, dann mußte die Mannschaft die Abwehrstoffe gegen Skorbut und andere Mangelkrankheiten aus anderen Nahrungsmitteln beziehen. Obst und Gemüse konnten aus diesem Grund nicht reichlich genug in den Vorratsräumen gestaut werden.

Der Kutscher begann mit seiner Auswahl, und wenig später bedeutete Hasard seinen Söhnen, sie sollten die Händler dazu veranlassen, noch mehr volle Körbe an Bord zu holen. Diesmal beteiligte er auch die anderen Zubringer, die in den Booten geblieben waren, so daß am Ende keiner von ihnen leer ausging.

Einer der Burnusträger auf der Kuhl hob unterdessen seinen Weinkrug von den Planken hoch und goß die von Stenmark und Luke Morgan rasch herbeigeholten Mucks mit rubinroter Flüssigkeit voll.

Der Mann war hochgewachsen und hager, sein braungebranntes, asketisch wirkendes Gesicht war im Gegensatz zu seinen Begleitern bartlos. Er begleitete seine Tätigkeit durch aufmunterndes Nicken und Lächeln.

Rasch waren alle gewünschten Frischwaren an Bord geholt. Die Weinprobe verlief positiv. Hasard übernahm zehn Fässer Rot- und Weißwein, die von Blakky, Batuti und Matt Davies aus den Booten an Bord gehievt wurden. Ziemlich schnell wickelte der Seewolf nun auch die Bezahlung ab, indem er sich auf ein großes Handeln gar nicht erst einließ, sondern rigoros die Preise bestimmte.

Die Händler zeigten sich einverstanden, nahmen ihre Münzen entgegen und verabschiedeten sich wort- und gestenreich. Sie versicherten Hasard und seinen Männern, daß Allahs Segen ihnen gewiß sei, verbeugten sich mehrfach und wandten sich schließlich dem Schanzkleid und der Jakobsleiter zu, um die „Isabella“ zu verlassen.

Als letzter ging der Hagere, doch er drehte sich am Schanzkleid überraschend wieder um, als die anderen bereits außenbords abenterten.

Hasard, der die kleine Gruppe bis hierher begleitet hatte, sah als erster, welchen Gegenstand der Mann blitzschnell unter seinem Gewand hervorholte.

Es handelte sich um eine Steinschloßpistole mit achteckigem Lauf. Ihre Mündung wies genau auf Hasards Brust.

Hasard stand wie erstarrt auf der Kuhl. Ben Brighton, Carberry, die Zwillinge und alle anderen in seiner Nähe erblickten die Steinschloßpistole jetzt ebenfalls und griffen fluchend zu ihren Waffen.

Der Burnusmann stieß einen zischenden Warnlaut aus.

„Ganz ruhig bleiben“, sagte Ben Brighton langsam. „Laßt eure Pistolen stekken, Männer, ihr gefährdet Hasard.“

„Hölle und Teufel“, sagte der Profos. „Was hat dieser lausige Kümmeltürke vor?“

„Das ist doch klar“, flüsterte Blakky erbost. „Er will unser Geld und unser Gold. Verdammt, jetzt sind wir doch in eine Falle gegangen.“

„Philip“, sagte der Seewolf zu seinem Sohn, der rechts neben ihm stand und den Händler entgeistert ansah. „Erklär ihm, daß er keine Chance hat. Er hat nur eine Kugel, und die muß er auf mich abfeuern. Ich kann mich auf ihn stürzen und die Kugel mit meinem Leib auffangen, und dann geht es ihm an den Kragen. Dann verläßt er die ‚Isabella‘ nicht lebend, sondern mausetot und mit einem Gewicht an den Füßen.“

Philip junior wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da entgegnete der Burnusmann zu ihrer aller Überraschung in ziemlich gutem Englisch: „Nein, das glaube ich nicht. Ich werde leben, und ihr werdet mich auf eurem Schiff mitnehmen, denn dein Mut kann nicht so groß sein, daß du dich für deine Männer opferst, Kapitän.“

„Wie denn, was denn?“ rief Carberry. „Er kann Englisch? Hölle und Kanonenrohr, dann ist er also gar kein Türke?“

„Vielleicht ein Hebräer“, meinte Blacky.

„Oder ein Araber“, sagte Stenmark.

Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Unsinn, es ist völlig ausgeschlossen, daß ein Eingeborener dieses Landstrichs unsere Sprache beherrscht. Ich glaube, daß er ein Europäer ist. Seht euch doch mal seine Augen an.“

„Sie sind nicht dunkel, sondern hell“, sagte der Kutscher verblüfft. „Hellblau.“

„Es ist unser Pech, daß uns das nicht eher aufgefallen ist“, sagte der Seewolf zu dem Mann mit der Steinschloßpistole. „Aber du täuschst dich, wenn du glaubst, daß du mich einschüchtern kannst. Wage nicht, deine Kumpane zurückzurufen.“

„Meine Kumpane?“ wiederholte der andere. Er lachte. „Nein, nein, ich habe nichts weiter mit ihnen zu schaffen. Hörst du nicht, wie sie ablegen und davonpullen, Kapitän? Einfaltspinsel sind sie, harmlose Biedermänner, Krämerseelen, die von alledem, was ich plante, nicht das geringste ahnten. Arglos blieben sie, als ich mich unter sie mischte, mein Türkisch reichte aus, um sie glauben zu lassen, ich wäre aus Griechenland und hätte vom türkischen Wesir in Jerusalem die Erlaubnis erhalten, hier in Akka einen bescheidenen Kleinhandel zu betreiben. Ich kaufte Obst und Gemüse und rüstete eine kleine Tartane aus, und hier bin ich nun, aber die da unten begreifen ja immer noch nicht, was ich vorhabe. Selig sind die geistig Armen, der Herr stehe ihnen bei.“

Carberry blickte verdutzt den Kutscher an und zischte: „Sag mal, höre ich richtig? Der Hundesohn drückt sich ja noch schlimmer aus als du. Ist der etwa nicht ganz richtig im Oberstübchen?“

„Was willst du?“ fragte Hasard. „Wer bist du?“

„Die erste Frage, Kapitän, habe ich bereits beantwortet“, erwiderte der Mann mit der Pistole. Er ließ die Waffe nicht um einen Deut sinken und beobachtete den Seewolf pausenlos aus seinen wachen Augen. „Nicht an eurem schnöden Gold und Mammon ist mir gelegen, mein Auftrag ist ein anderer, er erfolgt von höchster Stelle – von dort.“ Er wies zum wolkenlosen Himmel, der sich über der Hafenbucht von Akka spannte. „Eine Reise an Bord eures Schiffes ist alles, was ich von euch verlange. Nicht mehr will ich, aber auch nicht weniger. Und mein Name? Nun, der lautet Hubertus Leone. Und ich bin, falls euch jemals irgend jemand danach fragt, der Sohn einer Bajuwarin und eines sizilianischen Fischers – woraus sich auch erklärt, warum ich die türkische Sprache beherrsche. Auf Sizilien haben lange Zeit die Heiden des Ottomanischen Reiches gehaust, und noch heute kann man überall dort Türkisch erlernen.“

„Und wo hast du unsere Sprache gelernt?“ fragte Ben Brighton. „Doch wohl nicht im Alpenland?“

„Und wenn es so wäre?“

„Dann bist du trotzdem ein verdammter Bastard“, sagte der Profos. „Ein ganz elender Hurensohn, der jetzt gleich mit Vollzeug ab in die Hölle rauscht.“

Wütend blickte Hubertus Leone zu dem aufgebrachten Narbenmann. „Wie? Du fluchst Gott? Du Sünder, falle auf die Knie und flehe um Gnade! Du weißt ja nicht, was du …“

Weiter gelangte er nicht, denn der Seewolf nutzte die Möglichkeit, die sich jetzt bot, geistesgegenwärtig aus. Er warf sich auf Leone, hieb ihm auf die Waffenhand, riß ihn mit sich vor dem Schanzkleid herum und versetzte ihm einen derart wuchtigen Tritt, daß er wie von einem Katapult geschleudert quer über die Planken der Kuhl schoß.

Hubertus Leone verlor seine Steinschloßpistole aus der schmerzenden Hand. Er strauchelte und fiel auf die Kuhlgräting. Hier stieß er sich den Kopf, so heftig, daß er augenblicklich das Bewußtsein verlor. Die Pistole landete mit dumpfem Laut neben der Nagelbank des Großmastes.

Hasard warf vorsichtshalber einen Blick über das Schanzkleid außenbords, doch es stimmte: Die Händler hatten sich in ihren Booten entfernt. Nur Leones Tartane dümpelte jetzt noch an der Bordwand der „Isabella“.

„So“, sagte der Seewolf und drehte sich wieder zu seinen Männern um. „Schluß der Vorstellung. Packt diesen hirnverbrannten Narren und werft ihn ins Wasser.“

„Ich hab’s ja gleich gesagt!“ rief Carberry. „Das ist die beste Methode, um mit aufmüpfigen Kerlen fertig zu werden!“

„Er kann noch froh sein, daß wir ihn nicht auspeitschen oder an der Rahnock aufhängen“, meinte Blacky mit einem zornigen Blick auf den Ohnmächtigen. „Auf einem anderen Schiff hätte man bestimmt kurzen Prozeß mit ihm gemacht.“

Carberry und Shane, der inzwischen das Achterdeck verlassen hatte, griffen nach den Armen und Beinen des bewußtlosen Mannes.

Ben Brighton hatte sich nach der Steinschloßpistole mit dem achteckigen Lauf gebückt. Er untersuchte sie kurz, dann sah er auf und sagte: „Augenblick mal. Das ist ja kaum zu fassen!“

„Was denn?“ fragte der Seewolf erstaunt.

„Die Pistole ist gar nicht geladen.“

2.

Langsam schritt der Seewolf über das kaum merklich schwankende Deck zur Kuhlgräting. Hier blieb er stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und sah sich den sonderbaren „Gast“ kopfschüttelnd an.

„Du hast viel zu hoch gesetzt, Freund Hubertus“, sagte er mit einer Miene, in der sich Ärger und Verwunderung mischten. „Dachtest du wirklich, du könntest uns mit einem so billigen Trick hereinlegen?“

„Er ist nicht ganz dicht im Schapp“, sagte der Profos voll grimmiger Überzeugung. „Los, über Bord mit ihm. Auf was warten wir noch?“

„Einen Moment.“ Der Seewolf hatte die Hand gehoben. „Ich glaube nicht, daß er verrückt ist. Vielleicht braucht er wirklich Hilfe. Wer weiß, warum er unbedingt mitgenommen werden will.“

„Sir!“ stieß Shane erbost aus. „Soll das heißen, daß du auch noch Mitleid mit dem Kerl hast? Beim Henker, er wollte uns zwingen, das zu tun, was er von uns verlangte!“

„Aber er wollte weder unser Schiff noch unsere Schätze – noch mein Leben. Vielleicht hätte er mit der leeren Pistole nicht einmal zugeschlagen.“

„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, sagte der Profos. „Er hat dich bedroht, allein das zählt.“

„Holt eine Pütz voll Wasser“, befahl der Seewolf den Zwillingen. „Wir wekken ihn auf und verhören ihn. Ich will wissen, was mit ihm los ist.“

Philip junior und Hasard junior gehorchten, und kurze Zeit später entleerte der Seewolf die volle Pütz über Hubertus Leones Kopf. Das Wasser ergoß sich als rauschender Schwall mitten in das Gesicht des seltsamen Mannes, und prompt kam wieder Leben in die hagere Gestalt.

Prustend richtete Leone sich auf und schüttelte sich heftig. Er sah den Seewolf, der direkt vor ihm stand, aus geweiteten Augen an.

„Bist du voll bei Sinnen?“ fragte Hasard.

„Ja, Kapitän. Sprich dein Urteil, ich werde dir zeigen, wie ein Ritter stirbt.“

Hasard sagte: „Hör auf, mich dauernd Kapitän zu nennen.“

„Bist du denn nicht der Kapitän dieses Schiffes?“

„Das schon, aber man spricht mich sonst entweder mit ‚Sir‘ oder mit ‚Mister Killigrew‘ an.“

„Ach so“, sagte Leone. „Nun denn, Sir, welches Schicksal erwartet mich? Der Tod durch den Strang oder durch das Henkersschwert?“

„Keins von beiden.“

Leone sprang plötzlich auf. Carberry und Big Old Shane, die ihn schon losgelassen hatten, packten wieder seine Arme und hielten ihn fest, weil sie ein neues Unheil befürchteten.

 

„Hast du Killigrew gesagt?“ rief Leone entsetzt. „Herr im Himmel, das darf nicht wahr sein! Philip Hasard Killigrew, der gefürchtete Korsar, von dem man sich grausige Begebenheiten erzählt – bist du das?“

„Ich bin Philip Hasard Killigrew …“

„Heiland, dann bin ich wirklich verloren!“

„… aber ich bin kein blutrünstiger Schlagetot“, fuhr der Seewolf mit leicht konsterniertem Gesichtsausdruck fort. „Wer hat dir denn über mich berichtet?“

„Menschen, die ich auf meinen Reisen nach Sizilien traf. Männer und Frauen, die alle schon von dem legendären Seewolf gehört hatten.“

„Aber die meisten von denen haben uns nie gesehen“, sagte Shane. „Sie plappern weiter, was sie selbst nur gehört haben, und natürlich schmükken sie es entsprechend aus.“

Ben Brighton war neben den Seewolf getreten.

„Hubertus Leone“, sagte er. „So schlecht, wie du denkst, sind wir nicht. Vor allen Dingen sind wir keine mordenden und plündernden Piraten, laß dir das gesagt sein. Glaubst du, du wärst noch am Leben, wenn wir solche Galgenstricke wären?“

Leone schob die Unterlippe etwas vor und überlegte. Er schickte einen Blick in die Runde und sah sich die Gesichter der Männer an. Dann entgegnete er: „Sicher hast du recht. Ich bin verwirrt und weiß nicht mehr recht, was ich daherrede. Mir ist im Kopf so weh, als drehe sich darin ein großes Mühlenrad.“

Carberry stieß einen undeutlichen Laut aus, der wie ein Grunzen klang. „Da hört ihr’s, er gibt selbst zu, daß er nicht ganz echt ist. Was soll auch schon dabei herauskommen, wenn sich eine Bajuwarin mit einem Sizilianer einläßt?“

Leone wandte den Kopf und fixierte ihn. „Beleidige meine Mutter nicht. Sie war eine aufrichtige, gottergebene, resolute Person. Sie wußte, was sie tat.“

„Sie lebt nicht mehr?“ fragte Hasard.

„Nein. Der Herr sei ihrer armen Seele gnädig.“

Der Seewolf räusperte sich und blickte zu seinem Profos. Carberry zog es vor, vorerst nichts mehr zu äußern.

Old Donegal Daniel O’Flynn war aus dem Achterkastell getreten und näherte sich mit verdrossener Miene. Die letzten Worte, die gesprochen worden waren, hatte er gehört, und so stellte er sich jetzt neben Hasard und Ben Brighton und musterte Hubertus Leone von oben bis unten.

„Bist du ein Gottesmann?“ fragte er.

„Nicht direkt“, erwiderte Leone. „Ich bin ein Ritter der himmlischen Heerscharen, ein Kreuzritter.“

„O Himmel, nein“, stöhnte der Kutscher entsetzt.

Hasard beschloß, dem Gespräch ein Ende zu bereiten.

„Daß neuerdings wieder ein Kreuzzug ins Heilige Land stattfindet, ist uns nicht bekannt“, sagte er. „Was hast du dir denn da in den Kopf gesetzt, Hubertus? Du bist allein und hast offenbar nicht einmal Munition für deine Pistole.“

„Doch – ich trage sie unter meinem Burnus versteckt.“

„Sollen wir ihn durchsuchen?“ fragte Big Old Shane.

Hasard verneinte, und Hubertus Leone sagte: „Das ist wirklich nicht erforderlich, mein bärtiger Freund. Pulver und Kugeln werde ich nur gegen die Heiden einsetzen, die ich aus der Wüste Sinai zu vertreiben gedenke.“

Shane wußte darauf nichts zu erwidern. Hasard rieb sich das Kinn und sah den hageren Mann forschend an. Er wurde immer noch nicht richtig schlau aus ihm. Hatte er nun einen normalen Menschen oder einen Geistesgestörten vor sich?

„Dorthin willst du also“, sagte er. „Der Landweg von hier aus ist zu weit und zu beschwerlich, darum empfiehlt es sich, ein Schiff zu benutzen, um die Halbinsel Sinai zu erreichen. Aber welcher europäische Herrscher schickt dich, wer steht hinter dir?“

„Kein König, kein Kaiser, ich habe nur einen Regenten.“ Wieder wies Leone zum Himmel. „Mein Weg ist vorgezeichnet, ich brauche ihm nur zu folgen.“

„Ein Kreuzzug auf eigene Faust, ohne Waffen, ohne Gefolgschaft?“ fragte Ferris Tucker, der inzwischen auch näher getreten war. „Das ist ja heller Wahnsinn!“

„Mein Heer werde ich noch finden, und die Waffen sendet uns der Himmel“, erklärte Hubertus Leone. „Alles ist vorherbestimmt. Das wüste Treiben der Heiden kann nur noch von kurzer Dauer sein. Am Berge Moses’ werden wir beginnen und dann die Meute der Ketzer und Frevler quer durch Palästina bis hinauf nach Anatolien und ins wilde Kurdistan zurücktreiben – dorthin, von wo sie stammen. Ein großes Heulen und Zähneklappern wird anheben, doch wir werden kein Erbarmen mit ihnen haben.“

„Versuche mal, die Türken zu vertreiben“, sagte Ben Brighton. „An denen beißt du dir die Zähne aus.“

Old O’Flynn warf ihm einen Seitenblick zu. „Da würde ich nicht so sicher sein. Was er sagt, hört sich gar nicht so schlecht an, finde ich.“

Shane blickte den Alten wütend an. „Das sieht dir ähnlich, Donegal. Fehlt noch, daß du ihm gut zuredest. Er scheint ein Geisterseher und Phantast zu sein wie du.“

„Wenn ich mein Holzbein abschnalle, kannst du mal spüren, wie meine Phantasien aussehen“, sagte der alte O’Flynn grollend.

„Schluß der Debatte“, sagte der Seewolf und richtete seinen Blick wieder auf Leone. „Erkläre mir jetzt, wie du auf die abwegige Idee verfallen bist, die Mitnahme an Bord eines Segelschiffs zu erzwingen. Konntest du dir nicht ausrechnen, daß das schiefgehen würde?“

Leone seufzte. „Meine Tat reut mich, und ich streue Asche auf mein Haupt. Doch die Zeit drängt, und der Ruf der Wüste Sinai war nicht zu überhören. Ich gelangte mit einer venezianischen Galeasse nach Beirut, dann nahm mich eine Beduinenkarawane mit bis nach Akka. Hier blieb ich hängen, es ging nicht mehr weiter. Meine bescheidenen Mittel reichten nicht aus, mir die Weiterreise auf dem Rücken eines Dromedars oder an Bord eines Schiffes zu erkaufen. Wo immer ich anfragte, empfing ich nur barsche Antworten. Man trat nach mir und stieß mich fort. Der Kapitän eines griechischen Kauffahrers lachte mich aus und ließ mich ins Hafenwasser werfen.“

„Eben“, sagte Carberry. „Ich bin also nicht der einzige, der so denkt.“

„So verfiel ich auf eine List“, fuhr Leone unbeirrt fort. „Ich erstand die Tartane und kaufte für wenige Heller Obst und Gemüse. Hätte ich mich nicht als Händler verkleidet, hätte man mich auf kein einziges Schiff mehr gelassen, denn es hatte sich im Hafen von Akka schon herumgesprochen, daß ich eine Passage erbetteln wollte. Man schimpfte mich einen dummdreisten Narren, einen Schwindler und Betrüger.“

„Aha“, sagte Hasard. „Und da mußtest du ausgerechnet auf uns stoßen? Ein dummer Zufall.“

„Eine törichte Tat“, sagte Hubertus Leone und senkte den Kopf. „Also dann, ich trete wohl am besten ans Schanzkleid und lasse mir den erforderlichen Tritt in den Allerwertesten verpassen, von dir persönlich, Sir.“

Hasard mußte unwillkürlich lachen. „Das ist nicht nötig. Ich will dir eine Chance geben. Ich halte dir zugute, daß die Pistole nicht geladen war und der Wein, den du uns verkauft hast, nicht gepanscht ist.“

„Das bedeutet?“ fragte Leone überrascht und hob die Augenbrauen.

„Du kannst mit uns fahren, wenn du willst. Unser Kurs führt tatsächlich weiter nach Süden und dann an der Halbinsel Sinai vorbei bis nach Ägypten. Ed und Shane, ihr könnt ihn jetzt loslassen.“

Der Profos und Big Old Shane gehorchten, zeigten aber zweifelnde Mienen. Der einzige, der nach dieser Entscheidung des Seewolfs zustimmend nickte, war der alte O’Flynn. Allein das reichte aus, um bei der Crew Argwohn hervorzurufen. Sonst war es nämlich immer der Alte, der seinen Protest anmeldete, wenn es darum ging, einen Fremden mitzunehmen oder ihn sonstwie zu unterstützen.

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