Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 340»
Roy Palmer
Das Piratennest
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-737-2
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Fahles Mondlicht erhellte die Gestalt der alten Frau auf dem Inselfelsen. Unbeweglich stand sie da, der Blick ihrer scharfen, klaren Augen war auf die dunkle See gerichtet. Der Wind bewegte die Schöße ihres langen Kleides und spielte mit den beiden Federn, die in ihrem Hut steckten, als handle es sich um die ledrigen Blätter der Urwaldpflanzen, die das Eiland auf dem größten Teil seiner Fläche überwucherten.
Tiefe Furchen gruben sich in das Gesicht der Alten, jede von ihnen konnte eine Geschichte erzählen. Wie eine jahrhundertealte Landschaft wirkte dieses zerknitterte Antlitz, und doch war es erstaunlich wandlungsfähig. Es würde zu jäher Frische erblühen, wenn sich endlich das Schiff zeigte, auf das sie seit Wochen voll Sehnsucht wartete.
Okachobee, von allen nur Oka Mama genannt, wußte genau, daß Mardengo überfällig war. Sie hatte eine zeitliche Spanne der Ungewißheit in ihre Überlegungen mit einbezogen, doch trotz des Sturmes, der über Florida hinweggetobt war, und trotz aller anderen erdenklichen Widrigkeiten hätte er längst wieder hier sein müssen – hier, auf der Insel Pirates’ Cove.
Doch die stolze Flotte der Piraten kehrte nicht heim, weder zeigte sich die Dreimast-Galeone „Grinthian“, noch tauchten die Einmaster an der Kimm auf, die auf der Werft der Insel gebaut worden waren. Etwas Unvorhergesehenes mußte eingetreten sein, Okachobee spürte es mit all ihren Sinnen.
Mardengo war ihr Sohn. Sie kannte seine Gepflogenheiten und wußte, daß er eine derart große Verzögerung freiwillig niemals in Kauf genommen hätte. Sie ahnte, daß ihm etwas zugestoßen war. Hatten die Spanier ihn gefangengenommen?
Ärgerlich wandte sie sich um und blickte zu dem von Lagerfeuern erleuchteten Hüttenlager im Herzen der Insel. Nein, es konnte nicht sein. Sie hatten alles monatelang besprochen und bis ins letzte geplant. Die Spanier konnten Mardengo nicht überlistet oder geschlagen haben, sie waren ihm nicht gewachsen.
Die Bande war zur Zeit sehr groß und stark und hervorragend bewaffnet, hinzu kamen die mit Pulver gefüllten Tontöpfe, die Mardengo als Waffe ersonnen und gebastelt hatte – nein, unmöglich, die Spanier konnten nicht gesiegt haben.
Mardengo war mit seinem Verband ausgelaufen, um die Spanier in Fort St. Augustine zu überfallen und auszurotten. Die Festung sollte niedergebrannt werden, er wollte töten, plündern und brandschatzen. St. Augustine war nur der Anfang: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Florida von allen fremden Eindringlingen zu befreien. Florida, so sagte er, gehöre ihm und würde eines Tages sein Reich sein.
Okachobee teilte diese Meinungen und war bereit, an der Seite ihres Sohnes rigoros zu kämpfen, bis das Ziel all ihrer Pläne erreicht war. Sie würden dabei auch nicht davor zurückscheuen, sich gegen die in den Sümpfen ansässigen Indianer zu wenden.
Die Seminolen und die Timucua mußten sich Mardengos Herrschaft beugen, er würde sie nicht als gleichberechtigte Mitbewohner der großen Halbinsel dulden. Unterwarfen sie sich ihm nicht, dann mußten sie vor ihm zurückweichen und sich neue Fisch- und Jagdgründe suchen.
Okachobee selbst war eine reinblütige Seminolin, doch sie war eine Abtrünnige ihres Stammes geworden. Die Gründe dafür lagen in den Ereignissen, die sich seinerzeit in Fort Caroline, der Niederlassung der Hugenotten unweit von St. Augustine, abgespielt hatten.
1565, vor nunmehr achtundzwanzig Jahren also, hatten die Spanier auf den Befehl Philipps II. hin Fort Caroline überfallen und die Franzosen niedergemetzelt. Es hatte nur einige wenige Überlebende des Massakers gegeben, über deren Verbleib jedoch nie etwas bekanntgeworden war.
Mardengo, der seinerzeit nur knapp acht Jahre alt gewesen war, und Okachobee hatten in Fort Caroline gelebt. Mardengo war der Sohn eines Hugenotten namens Laudonnière, der gegen 1560 in Florida gelandet war und zu den Mitbegründern der Kolonie an der Mündung des St.-Johns-Flusses gehörte. In der Nacht des Massakers drängte Laudonnière Okachobee und den Jungen zur Flucht, und buchstäblich in letzter Minute gelang es ihnen, zu entkommen.
Doch bei ihrem Stamm fand Okachobee nicht die Aufnahme und Unterstützung, die sie erhofft hatte. Von ihren Angehörigen wurde sie verachtet und verstoßen, weil sie ihr Herz einem weißen Mann geschenkt hatte. So irrte sie durch die Sümpfe, und Mardengo lernte schon damals, gegen den Hunger und die Gefahren des Bayous zu kämpfen.
Nach dem siegreichen Überfall der Spanier kehrte Oka Mama nach Fort Caroline zurück. Unter den Toten fand sie Laudonnière jedoch nicht. Später erfuhr sie, daß er das Massaker überstanden haben sollte, doch seit jener schrecklichen Nacht hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Es hieß, er sei in die Alte Welt zurückgekehrt.
Oka Mama verfluchte die Seminolen, und sie wünschte auch Laudonnière die Pest und das Sumpffieber an den Hals, weil selbst er sie verraten hatte. Oka Mama und Mardengo waren ganz auf sich allein angewiesen. Sie schlugen sich durch, so gut sie konnten. Als der Junge heranwuchs und groß und kräftig wurde, gelangen ihnen die ersten Überfälle auf Fischer oder einzelne Seefahrer, die durch Zufall in ihre Reichweite gerieten.
Allmählich entwickelte sich aus diesen Anfängen die Bande – Mardengo verstand es, wilde Kerle um sich zu scharen, die ihn sofort als ihren Anführer anerkannten. Die Meute wuchs im Laufe der Jahre, die Beutezüge der Piraten wurden immer verwegener und ertragreicher.
Eines Tages hatte Mardengo Gato kennengelernt, der heute sein treuester Kumpan und seine rechte Hand war. Gato hatte von einer Insel gewußt, die als Hauptschlupfwinkel für die Meute hervorragend geeignet war: Pirates’ Cove. Er hatte Mardengo hergeführt, Mardengo war begeistert gewesen. Seitdem hausten sie auf dem Eiland und unternahmen von hier aus ihre tollkühnen Raids.
Oka Mama stieg von ihrem Aussichtspunkt in den Urwald hinunter und schritt über den Pfad, den die Kerle dem Wildwuchs der Pflanzen abgerungen hatten, auf das Lager zu. Sie konnte das Grölen der Kerle und das Lachen der Mädchen vernehmen. Wieder verzerrten sich ihre Züge. Sie trat auf die Lichtung und steuerte auf eine der flachen Hütten zu, ohne die beiden Schwarzen zu beachten, die ihr freundlich zugrinsten.
Ihre dürren, runzligen Hände teilten den Schnürenvorhang der Hütte, sie trat ein. Sofort verstummte das Lärmen, die Männer und die Mädchen, die sich hier versammelt hatten, blickten fragend zu ihr auf.
„Ist es soweit, Oka Mama?“ erkundigte sich eins der Mädchen. „Kommt Mardengo?“
„Nein“, erwiderte die Alte unwirsch. „Aber dir ist das auch egal, oder? Von dir aus könnte er verrecken.“
Die Miene des Mädchens verhärtete sich, ihre Augen wurden kalt wie Eis. Der Kerl, der mit einer Pint voll Wein neben ihr hockte, erhob sich jedoch und legte ihr dabei die Hand auf die Schulter.
„Laß nur, Ilaria“, sagte er. „Oka Mama meint nicht alles so, wie sie es sagt. Du wirst das noch lernen.“
„Ich lerne es nie“, sagte Ilaria trotzig.
Der Kerl trat zwei Schritte auf die Alte zu und blieb stehen.
„Ich weiß, was du sagen willst“, erklärte er mit etwas schwerer Zunge. „Wir nehmen die Sache zu leicht und saufen uns die Hucke voll, statt ordentlich Wache zu halten.“
„So ist es ja auch!“ zischte die Alte.
Er schüttelte den Kopf. „Du irrst dich. Es sind noch zwei Glasen bis zum nächsten Wachwechsel, bis dahin sind wir wieder stocknüchtern. Wer sich auf Ausguckposten befindet, der trinkt keinen Tropfen. Wer immer sich der Insel nähert – wir sehen ihn.“
Verächtlich musterte Oka Mama zuerst ihn, dann die anderen.
„Ihr seid eine elende Bande von Bastarden“, sagte sie dann. „Denkt ihr überhaupt mal nach? Diese Verspätung – erscheint sie euch nicht seltsam?“
Der Pirat verneinte wieder. „Keineswegs. Mardengo weiß, was er tut. In St. Augustine hat er gesiegt, daran habe ich keinen Zweifel. Vielleicht aber hat er noch irgendwohin einen kleinen Abstecher unternommen – vielleicht hat er die Dons ausgequetscht und von einer Sache erfahren, die sich für uns lohnt.“
„Er kehrt mit Gold und Silber nach Pirates’ Cove zurück!“ rief ein anderer Kerl. „Es lebe Mardengo!“
„Es lebe Mardengo!“ brüllten auch die anderen.
Oka Mama kehrte mit nachdenklicher Miene ins Freie zurück. Vielleicht hatten die Kerle wirklich recht? Ihr Vertrauen in Mardengo hatte tiefe Wurzeln, bisher war nichts von dem, was er angepackt hatte, wirklich gescheitert. Er hatte viele Schätze horten können, die alle auf dem Eiland versteckt waren.
Plötzlich war sie wieder zuversichtlich. Ja – Mardengo, ihr Sohn, wird mit Gold, Silber, Perlen, Diamanten, Weibern und Sklaven nach Pirates’ Cove kommen! Dieses Bild erschien vor ihrem geistigen Auge, und mit dieser Vorstellung schlief sie schließlich auf dem Mattenlager in ihrer Hütte ein, nachdem sie ihren letzten Kontrollgang abgeschlossen hatte.
Hätte Okachobee auch nur andeutungsweise etwas von dem geahnt, was sich wirklich zugetragen hatte, dann hätten sich die Trugbilder ihres Schlummers sehr schnell in gräßliche Alpträume verwandelt. Mardengo war nicht als Sieger aus der Schlacht von Fort St. Augustine hervorgegangen – eine Pechsträhne verfolgte ihn, er hatte Niederlage um Niederlage erlitten.
Gewiß, es war ihm gelungen, die spanische Galeone „San Carmelo“ als Prise zu erobern und seine Kumpane zu befreien, die von den Spaniern gefangengenommen worden waren. Doch was nutzte ihm das? Es war der „schwarzhaarige Bastard“, der verfluchte Engländer, der ihm Unglück brachte – wo er ihm auch begegnete, brach Unheil über die Piraten herein.
So auch zuletzt – es hatte ein mörderisches Gefecht in der Bucht Ponce de Leóns gegeben. Mardengo hatte die Seewölfe entdeckt und ihnen mit den Kanonen der „San Carmelo“ schwer zugesetzt, doch er hatte nicht mit den Seminolen des berüchtigten Häuptlings Wakulla gerechnet.
Wakulla war ebenso kaltblütig wie gerissen und ließ sich von einem Schnapphahn wie Mardengo nicht täuschen. Er wußte, daß Mardengos Kampf nicht gleichzeitig die Sache der Seminolen war, deshalb hatte er sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihn gewandt. Keiner durfte ungestraft in sein Territorium eindringen, weder Spanier noch Engländer noch eine wüste Horde Galgenstricke.
Die „San Carmelo“ war schwer angeschlagen, doch in seiner Wut vergaß Mardengo, daß er trotzdem noch eine gehörige Portion Glück gehabt hatte. Er war lebend aus der Bucht entwischt, und es schien keine Verfolger zu geben. Alles hätte schlimmer enden können – mit dem Untergang der Galeone und dem Tod seiner Bande.
Doch Mardengo tobte und konnte sich nicht wieder beruhigen. Selbst Gato, der durch die Ausbrüche seines Anführers sonst kaum zu beeindrucken war, ging ihm in dieser Nacht aus dem Weg. Er hatte sich auf das Hauptdeck begeben und half überall dort mit, wo es schleunigst anzupacken galt, wenn sie das Schiff wenigstens halbwegs wieder instand setzen wollten.
Mardengo hatte das Ruder übernommen. Er fluchte pausenlos und war versucht, seine grenzenlose Wut und seinen Haß an dem Schiff auszulassen. Doch wenigstens in diesem Punkt wußte er sich zu beherrschen. Nur vorsichtig bewegte er das Ruder und vollzog die Korrekturen, durch die er die Galeone auf Kurs zu halten versuchte. Eine Tonnenlast schien auf dem Ruderblatt zu liegen, es drohte zu brechen, wenn man es zu heftig drehte.
Der Mond hatte sich hinter Wolkenbänke zurückgezogen, es herrschte größte Finsternis. Auf der Kuhl und auf der Back stießen auch die Kerle, die Mardengo noch verblieben waren, die übelsten Verwünschungen aus. Einige von ihnen hatten Blessuren davongetragen, die nur notdürftig hatten behandelt werden können. Die Unversehrten mußten wie besessen schuften, sie wußten nicht, wo sie zuerst mit dem Aufklaren, Ausbessern und Lenzen beginnen sollten.
Jeweils vier Männer arbeiteten umschichtig an den Lenzpumpen, die anderen waren an Oberdeck. Sie brachten Ordnung in das laufende und stehende Gut, beförderten die Gefechtstrümmer außenbords, zimmerten hastig an Nagelbänken, Niedergängen, Schotten und Schanzkleid und zurrten die Kanonen fest, die sich beim Kampf losgerissen hatten.
Wie ein kranker Schwan segelte die „San Carmelo“ dahin. Sie hatte erhebliche Schlagseite und zog gewaltig Wasser. Mardengo konnte deutlich verfolgen, wie die Schräglage zunahm, die Krängung nach Backbord wurde bedrohlich. Seine Wut wich einem aufkeimenden Gefühl der Panik, er stieß wieder einen ellenlangen Fluch aus, dann schrie er: „Gato! Sofort zu mir!“
Gato ließ seine Arbeit im Stich und eilte zum Backbordniedergang, der auf das Achterdeck führte. Auch er gewahrte voll Entsetzen, daß sich das Backbordschanzkleid bereits so weit der Wasseroberfläche genähert hatte, daß das Deck unterzuschneiden drohte. Jeden Augenblick konnte das Wasser durch die Speigatten von außen eindringen.
Gato enterte das Achterdeck und hastete zu Mardengo. Für einen Moment standen sie sich lauernd gegenüber, Mardengo schien zu zögern, verbissen überlegte er, was er tun sollte, um das Schiff zu retten.
„Übernimm du das Ruder“, zischte er. „Ich muß die Hunde antreiben, sonst ist alles verloren. Sie arbeiten zu langsam.“
„Überleg dir, was du tust“, sagte Gato. „Sie sind verletzt und erschöpft. Wir sollten doch lieber die Küste anlaufen.“
„Und dann?“ Mardengos schmale Lippen waren verkniffen, seine buschigen Augenbrauen hatten sich drohend zusammengezogen. Wollte Gato gegen ihn aufbegehren? War die Lage reif für eine Meuterei? Schon seit der Niederlage von Fort St. Augustine befürchtete Mardengo das Schlimmste, aber er hatte den Unmut seiner Kerle stets erfolgreich zu bekämpfen gewußt. Doch in dieser Nacht schien sich alles zuzuspitzen. Dagegen gab es seiner Ansicht nach nur ein Mittel – die sofortige Gegenattacke.
„Dann verholen wir in eine geschützte Bucht“, entgegnete Gato so ruhig wie möglich.
„Du weißt genau, daß das nicht geht“, sagte Mardengo. „Die Seminolen haben sich mit den englischen Hurensöhnen verbündet. Der Teufel soll sie holen! Sie werden damit rechnen, daß wir uns irgendwo verkriechen. Hölle, kannst du dir nicht selbst ausrechnen, was sie tun?“
„Du meinst, sie suchen die Küste nach uns ab?“
„Du kannst dich darauf verlassen, daß sie’s tun.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Gato bestimmt. „Die Indianer vermeiden es, bei solcher Finsternis mit ihren Booten längere Strecken zurückzulegen.“
„Aber nicht die Engländer, du neunmalschlauer Hundesohn!“ stieß Mardengo aufgebracht aus. „Los, übernimm das Ruder! Und rede mir nicht in den Kram, oder du lernst mich von einer anderen Seite kennen!“ Er übergab Gato das Ruder, versetzte ihm einen heftigen Stoß und eilte nach vorn. Er stürmte über das schräge Hauptdeck, glitt um ein Haar aus, fluchte und verpaßte dem ersten Mann, dem er begegnete, einen Fußtritt.
„Schneller!“ schrie er. „Es muß schneller gehen, oder wir saufen alle ab, ihr Satansbraten! Bringt den verfluchten Kahn in Ordnung, oder ihr kriegt die Neunschwänzige zu spüren!“
Einer der Kerle fuhr zu ihm herum. Er schien protestieren zu wollen, doch Mardengo war mit einem Satz bei ihm und brachte ihn mit einem Hieb zu Fall. Der Mann rutschte bis zur Kuhlgräting, hier rappelte er sich stöhnend wieder auf. Sein haßerfüllter Blick war auf Mardengo gerichtet. Auch die anderen Männer hatten sich ihrem Anführer zugewandt und begannen zu murren.
Mardengo riß den Säbel aus dem Gurt und ließ ihn durch die Luft pfeifen.
„Der erste, der zu meutern versucht, springt über die Klinge!“ schrie er. „Ich dulde keine Schlamperei! Wir halten den Westkurs, zur Hölle, und wenn der Teufel persönlich an Bord steigt!“ Er trat an die Luke und brüllte: „Ihr da unten, an den Pumpen! Wie lange braucht ihr noch, um den elenden Kahn trocken zu kriegen?“
„Das Wasser steht uns immer noch bis zu den Hüften!“ schrie einer der Männer aus dem Laderaum.
„Wartet, ich zeige euch, wie man das anpackt!“ schrie Mardengo und enterte in den Laderaum ab. Wie wahnsinnig begann er eine der Pumpen allein zu bedienen. Seine Energien hatten kaum gelitten, sein Tun war von urwüchsiger Kraft bestimmt.
Mit verzerrten Gesichtern, aber auch voll heimlicher Bewunderung verfolgten seine Kerle, wie er den Pumpenschwengel immer schneller auf und ab hievte. Mardengo schuftete, bis ihm der Schweiß in Bächen über das Gesicht und über den Oberkörper lief, und er setzte keinen Augenblick aus.
Allmählich begann der Wasserspiegel im Schiffsbauch abzusinken. Das Beispiel, das Mardengo ihnen gab, spornte auch die anderen zu schnellerem Arbeiten an. Es gab noch eine Chance – die „San Carmelo“ richtete sich ganz langsam wieder auf.
War sie erst von dem Leckwasser befreit, konnten die Lecks in der Wasserlinie abgedichtet werden. Nur dieses Ziel hatten die Piraten vor Augen, während die Galeone mit zunehmender Fahrt nach Westen segelte und eine immer größere Distanz zwischen sich und die Küste von Florida legte.
2.
Eine zweite Dreimast-Galeone – größer und schlanker gebaut, schneller und wendiger als die „San Carmelo“ – segelte von der Ponce-de-León-Bucht her auf westlichem Kurs durch die Nacht.
Die „Isabella IX.“ hatte den Schauplatz des Gefechts gut zweieinhalb Stunden nach dem Schiff der Piraten verlassen, denn als erstes hatte der Seewolf sie durch Warpen von der Untiefe ziehen lassen, auf der sie festgesessen hatte, dann waren die schwersten Schäden in aller Eile ausgebessert worden.
Wakulla und seine Seminolen-Krieger hatten den Männern Aufschub gewährt und sich neutral verhalten, so daß sie unbehelligt in See gehen konnten.
Mit grimmigen Mienen standen Hasard, Ben Brighton, Big Old Shane, die beiden O’Flynns und Ferris Tucker auf dem Achterdeck. Nils Larsen hatte das Ruder übernommen, er blickte genauso verbiestert drein. Auf dem Hauptdeck und auf der Kuhl versahen Carberry und die Crew fluchend ihre Arbeit.
„Der Teufel soll dieses verfluchte Florida holen“, sagte der Profos wieder einmal. „Die Sache mit den Seminolen hätte mir schon dicke gereicht, aber dann mußte ausgerechnet dieser triefäugige, saftärschige Bastard Mardengo auftauchen. Ja, verreckt dieser dämliche Hund denn eigentlich nie?“
„Das frage ich mich auch!“ rief Blacky. „Aber falls er wirklich abkratzen sollte, würde ich vorher gern noch ein Wörtchen mit ihm reden!“
„Da kannst du lange warten“, sagte Smoky. „Der Kerl ist zäh, und im Gefecht wird er kaum so schwer verletzt worden sein, daß er daran krepiert.“
„Mit anderen Worten, wir könnten wieder Ärger mit ihm kriegen“, sagte Luke Morgan.
Jack Finnegan ließ einen verächtlichen Laut vernehmen. „Wenn ihr mich fragt – der Hund hat vorläufig die Schnauze voll. Er hat den Schwanz eingekniffen und verkriecht sich irgendwo.“
„Das glaub’ man bloß nicht“, sagte Little Ross mit dumpfer Stimme. „Mardengo ist gefährlicher als eine Pütz voll Schlangen und eine Piek voll Alligatoren. Der hat Indianerblut in den Adern und gibt so schnell nicht auf. Er hat einen gewaltigen Haß gegen euch, und er wird nicht ruhen, bis er sich an euch gerächt hat.“
Carberry wandte sich zu ihm um und musterte ihn von oben bis unten, als müsse er erst überlegen, ob er seinen Worten glauben schenken sollte. „Wenn das so ist, wie du sagst, wäre es wirklich besser, den Kerl zu verfolgen und ihm den Rest zu geben – damit wir endlich unsere Ruhe vor ihm haben.“
„Darauf läßt sich Hasard nicht ein“, sagte Matt Davies. „Er kämpft nur, wenn er angegriffen wird oder es sich aus anderen Gründen nicht vermeiden läßt.“
„Das wissen wir, Mister Davies, du Schlaukopf“, sagte der Profos schroff. „Natürlich hat es mit den Prinzipien zu tun, aber einem Galgenstrick wie Mardengo gegenüber sollte man keine Fairneß anwenden, er hat sie nämlich nicht verdient.“
„Da bin ich mit euch einer Meinung“, sagte der Seewolf. Er hatte sich inzwischen auf das Quarterdeck begeben und war an der Holzbalustrade, die den Querabschluß zum Hauptdeck bildete, stehengeblieben. Er hatte fast jedes Wort von dem, was die Männer gesprochen hatten, verstanden. „Aber wir sind andererseits auch keine blindwütigen Schlagetots, vergeßt das nicht. Wir dürfen uns mit Kerlen wie Mardengo nicht auf eine Stufe stellen, das wäre grundfalsch. Und noch etwas: Ich habe nicht vor, die Piraten zu suchen. Vielmehr ist mir daran gelegen, so schnell wie möglich die Bucht der Timucua-Indianer zu erreichen. Klar?“
„Klar, Sir“, erwiderte Carberry sofort. „Das ist ja auch unser Bestreben, denn wir brauchen die Leute für unsere Plantageninsel.“
„Fein hast du das gesagt, Mister Carberry“, erklärte Smoky spöttisch. „Aber wir dürfen nicht zu voreilig sein. Noch wissen wir nicht, ob die Timucuas damit einverstanden sind. Was wird, wenn sie Florida gar nicht verlassen wollen?“
„Was? Wie?“ knurrte der Profos und schob sein Rammkinn drohend vor. „Tamao hat doch deutlich genug gesagt, daß sein Stamm aus diesem sogenannten Blumenland, das in Wirklichkeit ein Schlick- und Moskitoland ist, abhauen will. Oder? Sag bloß, ich habe mich verhört. Ich habe doch keinen Tang in den Ohren.“
„Das hat Tamao gesagt.“ Der Seewolf nickte. Dunkel hoben sich die Umrisse seiner Gestalt auf dem Quarterdeck ab. „Aber er kann sich auch täuschen. Das Ergebnis unseres Unternehmens müssen wir den Verhandlungen mit dem Häuptling Shawano überlassen, davon hängt nämlich alles ab. Jedenfalls aber werden wir die Timucuas von ihrem Sklavendasein, das sie an der Waccasassa-Bay fristen, erlösen. Alles andere ist noch ungewiß.“
„Na schön“, sagte Blacky. „Aber was dort oben auch geschieht, eins steht fest: Wir bleiben nicht auf dem westlichen Kurs, nicht wahr?“
„Das allerdings nicht“, entgegnete Hasard. „Wir entfernen uns nur etwa zwanzig Meilen von der Küste, ich will genügend Abstand gewinnen, damit wir vor weiteren üblen Überraschungen zumindest heute nacht einigermaßen sicher sind. Anschließend gehen wir auf Kurs Norden und kreuzen, später dann können wir wahrscheinlich, wenn meine Berechnungen stimmen, auf Kurs Nordosten gehen.“
Der Wind blies frisch aus Norden, die „Isabella IX.“ segelte derzeit also mit Steuerbordhalsen und über Backbordbug liegend. Sie lief trotz der Schäden, die sie im Gefecht erlitten hatte, gute Fahrt. Es war den Männern gelungen, sie noch in der Ponce-de-León-Bucht so herzurichten, daß sie wieder voll seetüchtig, manövrierfähig und gefechtsbereit war.
Hasards Entschluß stand fest, er wollte unverzüglich die Waccasassa-Bucht anlaufen. Tamao und Asiaga waren ein junges Liebespaar vom Stamme der Timucua, beide erst siebzehn Jahre alt. Die Seewölfe hatten sie südlich von Fort St. Augustine durch einen Zufall im Sumpf gefunden – und sofort hatte Hasard ihnen seine Hilfe angeboten, denn Asiaga, das Mädchen, war am Sumpffieber erkrankt. Sie hatten sie beide zu sich an Bord der „Isabella“ geholt, und der Kutscher und Mac Pellew bemühten sich seither darum, das Mädchen zu retten.
Für Asiaga hatte das Leben neu begonnen – sie war vom Fieber genesen, das schon für viele Menschen den sicheren Tod bedeutet hatte. Der Kutscher verfügte über keine Wundermittel zur Heilung der schweren Krankheit, doch er hatte immer wieder versichert, daß es Hoffnungen für das Mädchen gäbe, weil sich in ihrem Fall das Leiden noch in einem Anfangsstadium befände.
So war Asiaga jetzt fieberfrei, und dank der guten Verpflegung an Bord der „Isabella“ erholte sie sich sehr rasch. Sie hatte schon wieder Farbe angenommen. Tamao war überglücklich, er wußte nicht, wie er seinen weißen Freunden danken sollte.
Doch Hasard wollte keinen Dank. Er wollte nur mit Shawano, dem Häuptling der Timucuas, sprechen und verhandeln. Auf der Schlangeninsel lebten jetzt viele Menschen, die ständig mit Proviant und Wasser versorgt werden mußten. Das Wasserproblem ließ sich leicht lösen, es gab auf den Caicos-Inseln genügend Quellen. Doch für die Verpflegung mußte eine Plantage auf einem Nachbareiland eingerichtet werden – und da keiner, vom Wikinger bis hin zu Siri-Tong, etwas vom Ackerbau und der Viehzucht verstand, mußte dringend Abhilfe geschaffen werden.
Eine zahlenmäßig starke Gruppe von Indianern schien Hasard genau richtig zu sein, um das Problem zu lösen. Doch diese Menschen sollten nicht wie Sklaven auf der Plantageninsel leben. Sie sollten frei sein, sollten sich selbst verwalten und ihr Leben in allen Details so bestimmen, wie es ihnen richtig erschien. Wer würde sich bereiterklären, auf die Plantageninsel überzusiedeln? Die Seminolen ganz gewiß nicht – die waren kriegerisch und mißtrauisch veranlagt, Hasard hatte mit Wakulla nicht einmal ansatzweise verhandeln können.
Die Timucua jedoch, so hatten Tamao und Asiaga überzeugend erklärt, waren ganz anders. Sie waren friedliche Menschen, die sonst von der Jagd, vom Fischfang, vom Bestellen ihrer Felder und von der Viehzucht lebten. Sie waren also keine Nomaden wie viele andere Indianervölker. Sie waren im Norden von Florida fest ansässig und schienen zu den ältesten Stämmen zu gehören, die schon lange vor dem Eintreffen der Spanier und Portugiesen, der Franzosen und Engländer im Norden der Neuen Welt gelebt hatten.
Das Schicksal hatte es jedoch gewollt, daß die Spanier an der Waccasassa-Bucht eine Siedlung und eine Werft errichtet hatten. Sie hatten Sklaven gebraucht und daher Shawano und dessen Stamm gefangengenommen. Jetzt fristeten die Indianer ein bedauernswertes Dasein unter dem Kommando des Lagerführers Don Angelo Baquillo. Viele von ihnen waren an dem tückischen Sumpffieber erkrankt.
Alles drängte Hasard danach, die Waccasassa-Bucht so schnell wie möglich zu erreichen. Trotzdem sollte sich alles ganz anders entwickeln. Der Zufall wollte es, daß er und seine Männer doch wieder mit Mardengo und den Piraten zusammentrafen. Die „Isabella“ lief bedeutend schneller als die „San Carmelo“, der Abstand zwischen beiden Schiffen schrumpfte ziemlich schnell zusammen, obwohl auch Mardengo inzwischen bei der Instandsetzung der Galeone Erfolge erzielt hatte.
Eine neuerliche Begegnung war unabwendbar, wenn die Schiffe auch weiterhin den westlichen Kurs hielten – doch davon ahnten weder der Seewolf noch Mardengo etwas, denn die Nacht war stockfinster, und noch konnte keiner vom anderen etwas sehen.
Okachobees Schlaf war nur von kurzer Dauer. Schon zwei oder drei Stunden, nachdem sie auf ihr Lager gesunken war, erhob sie sich wieder und verließ ihre Hütte. Die Feuer waren jetzt erloschen, der Lärm war verstummt, in den Hütten brannten keine Öllampen mehr. Im Dunkeln trat sie auf den Platz zwischen den Gebäuden und blickte zum Himmel auf. Der Mond zeigte sich wieder nicht, dichte Wolken schienen von Norden her dahinzutreiben. Doch einen Sturm würde es nicht geben, das spürte sie. Sie war sehr wetterempfindlich und bemerkte schon mindestens einen Tag vorher, wenn es eine Verschlechterung gab.
Der kostenlose Auszug ist beendet.