Seewölfe - Piraten der Weltmeere 187

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 187
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-523-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Hernán Cortés“ – die verschnörkelten, vormals so stolzen Lettern, die den Namen des Entdeckers und Eroberers von Neuspanien bildeten, waren jetzt angekratzt und lädiert wie der verblassende Ruhm jenes Mannes. Die ersten drei Buchstaben des Vornamens am Heck des Schiffes waren kaum noch zu lesen, und dem „Cortés“ fehlte das „s“ am Ende bereits zu einem so großen Teil, daß auch dieses nicht mehr zu entziffern war. Nicht besser war es um die gleichen Schriftzüge bestellt, die den Backbord- und Steuerbordbug der dreimastigen Galeone zierten.

Doch wenn es nur das gewesen wäre!

Die einst vollgetakelte Galeone verfügte jetzt nur noch über das Großsegel und die Fock, aber auch die wiesen große Löcher und Risse auf. Alle anderen Segel, auch die Blinde, waren durch heftige Stürme vernichtet worden. Und dieser Rest von Rigg bot einen so erbärmlichen Anblick, daß jedem Seemann dabei klamm ums Herz werden mußte. Das laufende und stehende Gut befand sich in einem heillosen Durcheinander, es hätte dringend klariert werden müssen. Schier unentwirrbar hing es an Deck hinunter. Der frische Wind aus Nordosten sang in den Pardunen, den Schoten, Brassen und Fallen, und die Blöcke und Rahen stimmten eine knarrende Begleitung zu dem leisen, höhnischen Lied an.

Der Rumpf des Schiffes war ebenfalls ramponiert und wies hier und da Lecks auf, die niemand mehr vollständig zu reparieren imstande war.

Denn die Mannschaft war arg dezimiert. Nur noch fünf Männer befanden sich an Bord, und von diesen hatte einer die Augen für alle Ewigkeit geschlossen. Vor knapp einer Stunde war sein letzter schwacher Lebensfunke erloschen.

Ein wahres Bild des Jammers war diese „Hernán Cortés“ also, ein Schiff, das nur ein Phantast noch als seetüchtig zu bezeichnen gewagt hätte. Ein dahingleitendes Wrack, dessen elender Anblick in diesem Moment nur durch die Schönheit der Insel gemildert wurde.

Mitten in die Bucht dieser Insel trieb die „Hernán Cortés“. Die Bucht schloß sich langsam mit ihrem Ufer um sie, griff nach ihr, schien ein Auffangbecken und die endgültige Stätte der Ruhe für sie zu sein.

Offenbar war es die ausgleichende Gerechtigkeit der Natur, die hier ihre Hand im Spiel hatte. Auf der einen Seite standen auf dem Deck des Schiffes die Überlebenden eines höllischen Törns, denen das Grauen unauslöschlich in die Gesichter geprägt war. Auf der anderen Seite lächelte das zauberhafte Antlitz eines himmlischen Paradieses auf Erden.

Langgestreckt zog sich die Bucht dahin, über dem Saum ihres geschwungenen weißen Sandstrandes wiegten sich die Wipfel von Palmen im Wind. Ein Dufthauch und eine Aura des Friedens schienen diesem Platz anzuhaften. Von kristallener Klarheit war das Wasser, in dem man Fische und anderes Meeresgetier mit bloßem Auge erkennen konnte. Eine milde Brandung leckte mit verhaltenem Rauschen gegen das Ufer.

Keine Untiefen gab es in dieser Bucht, keine tückischen Riffe und keine einzige Sandbank, die der Fahrt der „Hernán Cortés“ ein jähes Ende bereiten konnten. Hier öffnete sich ein natürlicher Hafen, in dem zwanzig, dreißig oder noch mehr Segelschiffe dieser Größe Platz finden konnten.

Eine Stätte der Beschaulichkeit, doch auf dem Schiff lauerte immer noch das Verderben.

Die drei Männer auf der Kuhl – Serafin, Joaquin und Domingo – hatten ihr trauriges Werk soeben beendet. Sie hatten den Leichnam ihres Kameraden Esteban in weißes Segeltuch eingenäht. Jetzt bückten sie sich, hievten den schlaffen Körper ein wenig hoch und betteten ihn auf eine große Planke. Sie hoben die Bahre mit dem Toten auf und trugen sie langsam zum Steuerbordschanzkleid. Es bereitete ihnen Mühe. Ihre letzten Kräfte drohten sie jeden Augenblick zu verlassen.

Als sie die Kante der Planke, auf der die Füße des Toten ruhten, auf der Handleiste des Schanzkleides absetzten und verhielten, sagte Serafin: „Wartet hier auf mich.“ Er ließ die Planke los und wandte sich ab, ein großer, von den gnadenlosen Härten der langen Reise gebeugter Mann mit dichtem, schwarzem Bart.

Joaquin blickte ihn aus seinen wie im Fieber geweiteten Augen an. „Madre de Dios, wohin willst du denn – ausgerechnet jetzt?“

„Ich will ihn holen.“

„Ihn?“ Domingos Züge verzerrten sich zu einer haßerfüllten Grimasse. „Verflucht soll er sein. Die Hölle soll ihn verschlingen. Er hat hier nichts zu suchen.“

„Doch“, sagte Serafin erstaunlich ruhig. „Er wird das letzte Gebet für den armen Esteban sprechen. Es ist seine Pflicht als Kapitän dieses Schiffes.“

„Der Capitán.“ Joaquin sprach das Wort voll Verachtung aus. „Ich sage, wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können auf ihn verzichten. Er ist weder in der Lage, sinnvolle Befehle zu erteilen noch Gebete aufzusagen. Der Wahnsinn hat seinen Geist umnachtet.“

„Nicht ganz“, erwiderte Serafin, der noch über die meisten Energien verfügte. „Oder vielleicht tut er auch nur so, als sei er nicht mehr bei Verstand. Das würde ihm die Verantwortung abnehmen und wäre allzu bequem.“

Er wandte sich um, ging über die verschmutzten Planken der Kuhl auf das Achterdecksschott zu, öffnete es und betrat den düsteren Gang, der vor die Tür der Kapitänskammer führte. Dicht vor dem Allerheiligsten von Don Mariano José de Larra verharrte er einen Atemzug lang, dann stieß er die Tür auf, ohne vorher anzuklopfen.

Das Pult des Kapitäns war eine gewichtige Konstruktion aus massivem Nußbaumholz, mit vielen Intarsien und gedrechselten Beinen. Es beherrschte das Zentrum der Kammer, der Blick jedes Eintretenden mußte unweigerlich von ihm angezogen werden.

Don Mariano saß hinter dem Pult – wie Serafin es nicht anders erwartet hatte. Eben noch hatte der Kapitän sich tief über seine Aufzeichnungen gebeugt, jetzt aber sah er jäh auf und fixierte den Eindringling feindselig und zurechtweisend.

Serfain ließ die Tür offenstehen.

Langsam näherte er sich dem Pult. Er wich Don Marianos Blick nicht aus, sondern begegnete ihm ohne Furcht.

Der Kapitän war ein hagerer, nicht übermäßig großer Mann Ende der Vierzig, mit scharfgeschnittenen, adlerhaften Zügen. Sein Haupthaar hatte er auf See völlig eingebüßt. Es hatte sich, wie Serafin wußte, bei ihm bereits mit zweiunddreißig, dreiunddreißig Jahren fast völlig gelichtet. An heißen Tagen verzichtete Don Mariano auf seine Perücke, weil er sie als unerträglich, ja unästhetisch empfand. So hatte er sie auch an diesem Morgen nicht angelegt. Aber auch ohne sie büßte er nichts von seinem respekteinflößenden Äußeren ein. Er war immer noch eine Autoritätsperson.

Doch Serafin hatte die Kammer unter dem festen Vorsatz betreten, diese Autorität zu brechen und in die Knie zu zwingen. Jetzt und hier.

Don Mariano José de Larras Augen glänzten ein wenig, aber es war nichts Flackerndes in seinem Blick. Nur seine Mundwinkel zuckten leicht. Wieder, wie so oft während der letzten Tage, fragte Serafin sich, ob er wirklich schwachsinnig geworden oder doch noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war.

„Was fällt dir ein, einfach so einzutreten?“ fuhr Don Mariano ihn an. Seine Stimme klang brüchig nach all den Entbehrungen, aber sie hatte nichts von ihrer Kälte verloren. „Du weißt genau, daß das nicht einmal einem Offizier dieses Schiffes zusteht, geschweige denn einem Decksmann.“

„Es gibt keine Offiziere mehr“, sagte Serafin. „Und die Chusma, das gemeine Schiffsvolk, wie Sie es nennen, ist auf drei Mann zusammengeschrumpft. Es ist sinnlos, noch Ordnung und Disziplin aufrechterhalten zu wollen.“

„Wie ist dein Name?“

„Serafin.“

„Serafin, Señor!“ schrie Don Mariano. „Den Señor Captitán hast du vergessen, du Hund, und ich werde dich deshalb und dafür, daß du das Anklopfen vergessen hast, auspeitschen lassen.“ Er fuhr hoch. „Verschwinde! Ich will dich hier nicht mehr sehen!“

Serafin trat noch einen Schritt auf ihn zu. „Ich bleibe. Und wenn du bis heute nicht weißt, wer Serafin ist, Mariano José de Larra, dann lernst du ihn jetzt kennen.“

„Du hast mich in meiner wichtigsten Arbeit gestört!“ brüllte der Kapitän ihn an. „Scher dich weg! Fort, oder ich …“

Serafin hatte nur einen raschen Blick auf das aufgeklappte Buch geworfen, das auf der polierten Platte des Pultes lag. Jetzt sah er wieder dem glatzköpfigen Mann in die Augen und schnitt ihm das Wort mitten im Satz ab. „Das verdammte Logbuch! Du und deine elenden Niederschriften, de Larra! Dein Buch ist die Bibel des Satans, und dein Fanatismus und dein Wahn haben uns alle in die Verdammnis gestürzt!“

„Wie sprichst du mit mir, du Bastard?“

 

„So, wie wir alle schon lange mit dir hätten reden sollen“, erwiderte Serafin. „Lange, bevor der Skorbut und das Gelbfieber unsere Kameraden wie die Fliegen sterben ließen.“

„Ich verbiete dir …“

„Nein! Ich lasse mir von dir keine Befehle mehr erteilen, Satanskapitän! Santanás, so haben wir dich getauft, und von jetzt an werden wir dich herumkommandieren – wir, Serafin, Joaquin und Domingo.“

„Meuterei“, stieß Don Mariano keuchend aus. „So weit ist es also auf diesem Schiff gekommen. Die offene Rebellion ist ausgebrochen, die Revolte der Narren.“ Er griff mit der rechten Hand zur Radschloßpistole. Ein Ruck, und er hatte sie aus seinem Gurt gerissen, hob sie hoch und versuchte, sie auf Serafin in Anschlag zu bringen und gleichzeitig den Hahn zu spannen.

Deutlich sah Serafin, wie die Hand des Kapitäns bebte.

Serafin brauchte sich nur noch vorzubeugen, um den hageren Glatzkopf zu packen. Über das kostbare Nußbaumholzpult hinweg schossen seine Arme, seine Hände griffen nach beiden Gelenken des Kapitäns. Er zerrte sie hoch und hielt sie fest. Die Radschloßpistole zielte jetzt auf die Balkendecke. Don Mariano brüllte auf. Er trachtete, wenigstens den linken Arm loszureißen und mit der Faust nach dem Aufsässigen zu schlagen, aber Serafin blockierte jeden Widerstand. Der Griff seiner Fäuste glich einer eisernen Umklammerung.

„Schluß mit dem Widerstand, de Larra. Drück ab, wenn du willst. Deine Kugel wird keinen Schaden anrichten.“

„Dafür wirst du mir büßen!“

„Ergibst du dich jetzt freiwillig?“

„Laß mich los! Laß mich los!“

„Du hast mich immer noch nicht verstanden“, sagte Serafin, und dann schrie er ihm ins Gesicht: „Bist du verrückt? Sag mir, ob du Teufel wirklich durchgedreht bist oder ob du nur so tust!“

„Ich bin der letzte Mann, den du in deinem Leben beleidigt hast, Bastard, denn ich werde dich töten“, keuchte Don Mariano.

„Wirf die Pistole weg!“ befahl Serafin.

„Niemals!“

„Ich befehle es dir! Ich führe von jetzt an das Kommando, und du bist nur noch ein dreckiger kleiner Deckshund!“

„Lieber sterbe ich!“

„Jawohl“, stieß Serafin grimmig hervor. „Aber bevor du verreckst, begleitest du mich auf die Kuhl. Dort wirst du unserem armen Freund Esteban den letzten Segen erteilen, denn du bist der einzige hier an Bord, der sich mit den Gebeten und allem, was dazugehört, auskennt.“

„Werft den Kerl so in die Bucht.“

Serafins dunkle Augen waren plötzlich von einem tödlichen Funkeln erfüllt. „Esteban hat ein Begräbnis mit allen seemännischen Ehren verdient, denn er war ein guter Kamerad. Du wirst eine Rede halten, de Larra, wie du auch die Totenmesse für die anderen armen Teufel gehalten hast, die wir den Haien zum Fraß überlassen mußten.“

„Es war nicht meine Schuld, daß sie starben.“

„Du hättest unseren Kurs besser bestimmen und festlegen müssen!“

„Hätte ich auch die Stürme wegkehren können?“

„Laß die Pistole los“, forderte Serafin noch einmal. „Oder soll ich sie dir mit Gewalt abnehmen?“

Don Mariano José de Larra winkelte plötzlich sein linkes Bein an. Er hatte genügend Abstand vom Kapitänspult, um das Knie hochziehen zu können. Mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft drückte er gegen die Kante des Möbels. Es kippte um und stürzte Serafin entgegen.

Das Logbuch und alle anderen Utensilien wie der Federkiel und das Tintenfäßchen fielen zu Boden. Das Pult drohte mit seiner Kante genau auf Serafins nackte Füße zu krachen. Serafin stieß einen Fluch aus und wich zurück. Er mußte Don Mariano notgedrungen dabei loslassen.

Der Kapitän gab einen triumphierenden Laut von sich. Seine beiden Arme waren frei. Bevor der schwarzbärtige Mann wieder zufassen konnte, senkte er die Pistole, zielte auf den Kopf des dreisten Widersachers und krümmte seinen Zeigefinger um den Abzug.

Don Marianos Augen waren in diesem Moment weit aufgerissen, sein Blick starr auf Serafins Gesicht gerichtet. Ein höhnisches Lächeln verzerrte seine Lippen.

„So stirbt ein verfluchter Meuterer!“ schrie er.

Dann drückte er ab. Der Schuß brach donnernd in dem niedrigen Raum. Die Feuerlanze, die auf Serafins Haupt zustach, war in dicken weißen Qualm gebettet.

Der Seewolf hatte die große Landkarte ausgebreitet und ihre vier Ekken mit Gegenständen beschwert, damit sie sich nicht wieder zusammenrollen konnte: mit einer Radschloßpistole und einer Miqueletschloßpistole aus seiner privaten Sammlung, mit dem goldenen Kreuz des Malteserordens, das ihm seinerzeit auf Malta geschenkt worden war, und mit einem großen smaragdbesetzten Armreif, der von den Chibcha-Indianern in Neu-Granada stammte.

Die Karte lag auf dem Boden von Hasards Kammer ausgebreitet, weil sie für das Pult zu groß war. Der Seewolf hatte sich auf dem Rand seiner Koje niedergelassen und einen Ladestock zur Hand genommen.

Philip junior und Hasard junior, die Zwillinge, hatten sich links und rechts der Landkarte auf die Planken gekauert. Sie gaben sich Mühe, ihre ganze Aufmerksamkeit den Eintragungen auf der Karte zu widmen. Philips Interesse galt zwar eher den Pistolen und dem wunderschönen goldenen Malteserkreuz, aber er hütete sich, damit herumzuspielen. Er wußte genau, daß er in dem Fall sofort mit dem Ladestock was auf die Finger kriegte.

„Dad“, sagte Hasard junior in diesem Augenblick. „Du hast diese Karte wirklich ganz allein gezeichnet?“

„Ja, das habe ich euch doch vorhin schon erklärt.“

„Aber wie kann man die Welt auf ein Blatt Papier malen, wenn man kein Vogel ist und sie aus der Luft betrachten kann?“ fragte Philip.

Der Seewolf atmete tief durch. Er holte zu einer Antwort aus, aber Hasard junior meinte:

„Die halbe Welt, wolltest du wohl sagen.“

Philip schnitt eine Grimasse. „Meinetwegen. Vielleicht ist es ja auch nur ein Drittel der Welt, das hier dargestellt ist. Das ist aber völlig unwichtig. Ich meine was anderes.“

„Ein Vogel kann zwar fliegen und hat auch gute Augen“, warf Hasard junior ein. „Aber zeichnen kann er nicht. Das können nur wir Menschen.“

„Nur wir?“ Sein Bruder lachte verächtlich auf. „Da täuschst du dich aber. Wenn du beispielsweise Arwenack einen Federkiel oder einen Pinsel in die Pfote drückst und ihn mit Tusche und Farben spielen läßt, malt er dir auch was Schönes auf.“

„Aber nichts Richtiges.“

„Nichts Konkretes“, berichtigte Philip junior.

„Und Arwenack ist ein Affe, kein Vogel“, sagte Hasard junior störrisch. „Vielleicht kann er wirklich ein Bild zusammenschmieren – bloß fliegen kann er nicht.“

„Hör mal“, fuhr sein Bruder ihn an. „Du lernst gleich das Fliegen, wenn ich dich nämlich …“

Der Seewolf klopfte zweimal mit dem Ende des Ladestocks auf die Planken. „Ruhe“, sagte er. „Wir schweifen vom Thema ab. Ich bitte mir mehr Disziplin beim Erdkundeunterricht aus.“

„Ja, Dad“, murmelte Philip junior.

„Aye, Sir“, sagte auch Hasard junior.

Der Seewolf musterte sie streng. Er mußte sich selbst zur Ruhe zwingen – was ihm allerdings nicht immer so leichtfiel. Das Lehrmeistern wollte gelernt sein, und man brauchte dazu eine wahre Engelsgeduld. Die Zwillinge waren zwar keine Dummköpfe, ganz im Gegenteil. Wenn sie an einem Stoff interessiert waren – zum Beispiel an der Waffen- oder Manövrier- oder Segelkunde –, dann konnte man über ihre rasche Auffassungsgabe nur staunen. Wenn ein Gebiet sie jedoch langweilte, konnten sie sich verflixt bockbeinig anstellen.

In den vergangenen Monaten hatte Siri-Tong es weitgehend übernommen, die Zwillinge zu unterrichten, und sie hatte dabei sehr viel Geschick und Ehrgeiz bewiesen. Dank dieser Fähigkeiten hatte sie gute Erfolge erzielt. Die Brüder Philip und Hasard sprachen jetzt gutes Englisch, waren auch der spanischen Sprache mächtig – von den letzten Feinheiten abgesehen – und konnten schreiben, lesen, rechnen, zeichnen und basteln. Ja, und schwimmen und schießen und kreuz und quer durch die Takelage der „Isabella VIII.“ hangeln konnten sie auch.

Aber Siri-Tong, die Rote Korsarin, war jetzt nicht mehr an Bord der „Isabella“. Sie war mit der „Albion“, einer englischen Crew und Stückgut zum Ausbau der Schlangen-Insel in die Karibik unterwegs.

Philip Hasard Killigrew aber hatte von Bora-Bora aus wieder westlichen Kurs genommen, wie er es schon von Tahiti aus getan hatte. Auch er hätte quer durch die Südsee und durch die Magellan-Straße oder ums Kap der Stürme herum bis in die Karibik fahren können, aber es widersprach seinen Plänen.

Denn er empfand sich nach wie vor nicht nur als Korsar Ihrer Majestät, der Königin von England, sondern auch als Entdecker. Er hatte als erster die sagenhafte, vielgesuchte Nordwestpassage durchfahren. Danach war er zu den Hawaii-Inseln zurückgekehrt, die er schon einmal vor Jahren besucht hatte, und jetzt war er im Begriff, ein bisher kaum befahrenes und erforschtes Seegebiet zu ergründen.

Der genaue Verlauf der Nordwestpassage und die Hawaii-Inseln, von denen außer ihnen und Thomas Federmann sonst kein weißer Mann wußte, waren auf der selbst angefertigten Karte eingezeichnet. Hasard hütete die Rolle wie einen wertvollen, geheimnisvollen Schatz und hielt sie sonst ständig unter Verschluß. Außer ihm wußten nur seine Männer der „Isabella“ über die Karte Bescheid – und natürlich Siri-Tong.

Geographisch reichte die Skizze von der Neuen Welt bis nach Cathay, also Asien, wobei Hasard beim Zeichnen des nördlichen Teils von Amerika noch viele weiße Flecken hatte aussparen müssen. Im wesentlichen hatte er nur Bacalaos, Labrador und die große Bucht der Häuptlinge wiedergeben können. Auf der Westseite des Kontinents hatte er recht vage die Lage von Neu-Albion eingetragen und im Süden davon dann präziser Neuspanien, Panama, Porto Bello, Nombre de Dios und den ganzen südlichen Bereich des riesigen Erdteils mit Neu-Granada, dem Amazonas-Gebiet und allen anderen von Spanien und Portugal besetzten Ländern bis hinunter nach Patagonien und Feuerland.

In Nordamerika – ja, auch dort gab es noch vieles genauer zu erkunden.

Und in der Südsee, die sich weitläufig zwischen Amerika und Cathay erstreckte, hoben sich ebenfalls etliche weiße Stellen aus dem Kartenbild hervor.

Der Seewolf hatte sich fest vorgenommen, die Skizze zu vervollkommnen. Überdies wollte er eine zweite große Karte malen, die die andere Hälfte der Erdkugel zeigte – von Asien über Indien und Afrika bis hin zur Alten Welt und dem vertrauten, stürmischen Atlantik.

„Die Welt ist rund“, sagte er zu seinen Söhnen. „Ich habe euch bereits am Beispiel eines Apfels gezeigt, wie man sich die kartographischen Bilder zu denken hat. Man schält den Apfel, faltet die Schale auseinander und breitet sie auf einer Fläche aus.“

Philip junior nickte jetzt eifrig. „Ja, natürlich. Ich glaube, man kann das gleiche auch mit der Rinde einer Brotfrucht tun. Soll ich den Kutscher fragen, ob er uns eine Brotfrucht gibt?“

Er wollte aufstehen, aber sein Vater bedeutete ihm durch eine Gebärde, sitzen zu bleiben.

„Haha!“ rief Hasard junior. „Du suchst ja bloß nach einem Vorwand, um dich verdrücken zu können, Philip. Aber daraus wird nichts.“

„Frühere Entdecker haben die neuen Küsten so gut wie möglich vermessen“, fuhr der Seewolf fort. „Man hat eine Einteilung der gesamten Erde in Längen- und Breitenkreise geschaffen, so daß alle Karten von den Ländern und Ozeanen gerade in der jüngsten Zeit besser und einheitlicher geworden sind. Es gibt sogar einen Atlas von der Welt, und ich habe mich in den wichtigsten Punkten natürlich an die Vorlagen gehalten, die ich hier in der Kammer aufbewahre.“

Sein Sohn Philip wies auf die Nordwestpassage. „Aber davon konnten die anderen Seefahrer und Kartenmaler doch nichts wissen, Dad!“

„Sie haben ihre Phantasie schießen lassen und die abenteuerlichsten Darstellungen von der Passage geliefert“, sagte der Seewolf. „Sie waren samt und sonders falsch.“

„Dann könntest du ja eine neue Karte veröffentlichen – vielleicht im Auftrag der Königin“, stieß Hasard junior aus und richtete sich dabei auf. „Es wäre dein gutes Recht, Dad. Du könntest sogar einen eigenen Atlas herausgeben. Was hältst du von der Idee?“

„Langsam, langsam“, bremste der Seewolf lächelnd seinen Eifer. „Ich glaube, jetzt hast du zuviel Phantasie. Ich werde über deinen Vorschlag nachdenken, aber ich schätze, es ist besser, wenn wir dieses Material niemandem zugänglich machen. Von der Lage der Hawaii-Inseln dürfen wir schon gar nichts verraten. Wir haben es Zegú, dem König von Hawaii, Thomas Federmann und all den anderen Freunden auf dem Archipel versprochen. Wir wollen nicht, daß das Paradies zerstört wird und dort Glücksritter, Schnapphähne und Schlagetots landen.“

 

„Das hatte ich ganz vergessen“, sagte Hasard junior etwas kleinlaut.

Sein Vater senkte den Ladestock, der zu einer Muskete gehörte, auf die Karte. „Zurück zu unserer Aufgabe. Ich wollte euch auseinandersetzen, wo wir uns befinden und welche Seeregion wir als nächste erkunden.“ Er tippte mit dem Ende des Stocks auf eine der vielen weißen Zonen, die sich hier mitten aus dem hellblau gemalten Stillen Ozean erhoben. „Hier sind wir – mehr als tausend Meilen westlich von Tahiti, Bora-Bora und Rarotonga. Was erwartet uns? Wir wissen es nicht. Gibt es hier überhaupt Inseln oder nur die Weite des Meeres? Bald werden wir es erfahren, und dann sind wir entweder um ein Abenteuer reicher, oder aber wir müssen eine Enttäuschung hinnehmen.“

Philip junior wies auf die südlicheren Breiten. „Und was liegt dort, Dad?“

Der Seewolf hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Auch darüber lassen sich nur Theorien aufstellen. Es gibt die tollsten Vermutungen. Viele Leute behaupten, daß sich dort unten ein weiterer Kontinent befinde. Nein, keine Eiswüste, sondern ein wohltemperiertes ‚Südland‘ mit seltsamen Menschen und Tieren darauf, wie sie noch keiner gesehen hat.“

„Hört sich ja wirklich wie ein Märchen an“, sagte Hasard junior.

„Eher unheimlich, meine ich“, erklärte Philip junior.

„Hast du etwa Angst?“

„Ich? Vor was denn?“

Hasard junior grinste. „Vor dem Südland und seinen Ungeheuern. Dad, werden wir dort eines Tages landen?“

„Ich kann es versuchen“, antwortete der Seewolf. „Aber ich will euch nichts versprechen. Wir haben noch eine lange Reise vor uns, die sicherlich noch manche Überraschung für uns bereithält. Vielleicht sind wir noch heilfroh, wenn wir es überhaupt bis nach Kalimantan und Malakka hinauf schaffen.“

„Kalimantan, brrr“, äußerte sich Philip junior. „Dort bist du doch schon mal mit deiner Crew gewesen. Dort hausen die Kopfjäger.“

„Aha“, sagte sein Vater. „Manchmal paßt du in der Erdkundestunde also doch richtig auf.“

„Ja, wenn’s spannend wird!“ rief Hasard junior begeistert aus.

Von draußen, wie aus weiter Ferne, erklang plötzlich ein Ruf. „Deck, Deck, Land ho – Steuerbord voraus! Wir haben eine Insel vor uns, wenn mich nicht alles täuscht!“

„Das ist Bill, unser Moses“, sagte der Seewolf und stand auf. „Na, dann sehen wir uns die fremde Insel doch mal an. Der Unterricht ist vorläufig beendet. Rollt die Karte zusammen und räumt auf.“

„Bill, du Stint!“ röhrte draußen auf Deck eine zweite Stimme los. „Ich will schwer hoffen, daß du dich nicht getäuscht hast! Sonst besuche ich dich nämlich im Großmars und biege dir deinen Kieker zurecht, du triefäugige Seegurke!“

„Und das war Mister Carberry, unser Profos“, sagte Hasard junior und mußte lachen.

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