Seewölfe - Piraten der Weltmeere 116

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 116
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-440-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Ein Feuerblitz stach hoch und schien den Himmel teilen zu wollen. Fette Rauchschwaden quollen vom Vordeck der Galeone des Portugiesen. Sie breiteten sich nach allen Seiten über die See aus. Dann zerbrach das Schiff unter der Wucht der Explosion. Das Feuer hatte die Pulverdepots erreicht und hielt dröhnende Ernte.

Für kurze Zeit hörte Nakamura, der Japaner, auf zu schwimmen.

Er trat Wasser, hob die Hände aus den Fluten und ballte sie. In seinen Augen loderte der Haß. Er stöhnte in ohnmächtiger Wut auf.

„Seewölfe, Fong-Ch’ang“, stieß er hervor. „Das werdet ihr mir büßen. Mein Schwert wird euch durchbohren. Ich ruhe nicht eher, bis ich mich gerächt habe.“

Ein neuer Explosionsdonner rollte über die glatte Wasserfläche. Weit wirbelten die letzten Trümmerstükke der Piratengaleone, und Nakamura mußte sich in acht nehmen, um nicht getroffen zu werden. Fluchend zog er den Kopf ein.

Vorläufig schien die Verwirklichung all seiner Drohungen und Schwüre in weite Ferne gerückt zu sein.

Die „Isabella VIII.“ segelte über das Gelbe Meer davon, mit Kurs Nordwesten. Ein Feld der Verwüstung blieb hinter ihr zurück. Sie legte Distanz zwischen sich und die Überbleibsel der Schlacht, die noch vor einer halben Stunde erbittert getobt hatte.

Das Heck des Schiffes mit der verzierten Galerie und der aufragenden Eisenlaterne am achteren Abschluß der Poop war ein majestätisches Monument im Mittagslicht.

Philip Hasard Killigrew und Siri-Tong, die sich zur Zeit mit an Bord der großen Galeone befand, hatten nicht nur Khai Wang mit seiner Dschunke Fei Yen besiegt, sie hatten auch den portugiesischen Freibeuter Vinicio de Romaes zu den Fischen geschickt.

Khai Wang und Wu, dessen Steuermann, befanden sich als Gefangene an Bord der „Isabella“.

Vinicio de Romaes war im Kampf gegen Fong-Ch’ang und zwei Männer der „Isabella“ umgekommen. Nakamura, der als rechte Hand des Portugiesen gegolten hatte, war einer der wenigen Überlebenden von der Piratengaleone.

„Der Fluch der Verdammnis trifft euch!“ rief Nakamura der „Isabella“ nach. Die Besatzung konnte ihn nicht mehr hören, aber das hinderte ihn nicht daran, immer neue Haßtiraden gegen die Erzfeinde auszustoßen. „Ihr werdet zerspringen und in den tiefsten Schlünden der Finsternis landen!“ schrie er. „Die Monstren des Jenseits werden euch verschlingen!“

Er hieb mit der Faust ins Wasser, daß es spritzte. Fast geriet er dabei aus der Schwimmlage und drohte mit dem Kopf unterzutauchen. Er prustete, trat wild mit den Füßen, brachte den Oberkörper nach vorn und schwamm weiter – dorthin, wo das Festland lag. Die Halbinsel Shantung befand sich nach seiner Schätzung höchstens sechzig chinesische Li entfernt, das entsprach rund sechzehn Meilen. Sehen konnte er die Küste allerdings nicht.

Hinter Nakamura schwelten die Trümmer der beiden einst so gefürchteten Segler. Von der Galeone des Portugiesen gab es jetzt nur noch ein paar lächerliche Reste, und auch Fei Yen war fast völlig gesunken. Zwischen den Schiffsresten trieben die Toten, die mit ihrem Blut die Haie anlockten.

Nakamura spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken. Die Angst griff nach ihm.

Doch sein Haß war stärker. Er tobte in seinem Inneren. Nakamura hätte brüllen und heulen können, so sehr war er auf Vergeltung aus. Aber einen solchen Ausbruch verbot ihm doch die Beherrschung – jene Kraft des einsamen Samurais, die er tief in sich zu fühlen glaubte. Nakamura nahm sich gewaltig zusammen.

Keinen Augenblick dachte er daran, daß Fong-Ch’ang ihn verschont hatte. Fong hätte ihn töten können. Aber er hatte Gnade vor Recht ergehen lassen und den Japaner nur von Bord der Galeone gejagt. Für den Mann aus Zipangu war dies die schimpflichste Art gewesen, sein Schiff zu verlassen.

Für Nakamura gab es aber letztlich nur den einen Gesichtspunkt: Wenn Fong so dumm gewesen war, sich nicht für alles zu rächen, was ihm an Bord der Piratengaleone angetan worden war, so war das seine eigene Schuld.

Er würde noch bereuen, so weich gewesen zu sein.

Nakamura sah noch einmal zur „Isabella“. Sie entfernte sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Im Gefecht war sie zwar ramponiert worden, aber das beeinträchtigte ihre Seetüchtigkeit kaum. Mit prallen Segeln rauschte sie vor dem Südostwind dahin. Ihre Silhouette schrumpfte zusammen. Bald verschwand sie an der nordwestlichen Kimm.

Nakamuras Blick wanderte weiter nach Westen.

Er sah den Sampan, der von der Dschunke abgefiert und bemannt worden war. Natürlich war er schon vorher auf das Boot aufmerksam geworden. Nakamura hatte sogar die Hand gehoben und gerufen, aber die Insassen schienen ihn nicht bemerkt zu haben.

Sie waren die Überlebenden und die Verletzten von Fei Yen.

Auch hier hatten die Seewölfe ihre Menschlichkeit und Souveränität beweisen wollen. Sie schenkten den Piraten die Freiheit und brachten sie nicht um. Nakamura konnte darüber nur höhnisch lachen. Narren, dachte er.

Wieder hob er eine Hand, winkte und schrie. Aber auch diesmal zeigte keiner der Männer im Sampan eine Reaktion.

Nakamura fing wieder an zu fluchen. Jetzt begriff er. Diese Schufte wollten ihn nicht sehen und nicht auf ihn warten, weil sie ihren elenden Kahn schon zu voll geladen hatten.

Verreckt, dachte Nakamura. Daß Uneigennützigkeit auch nicht zu seinen persönlichen Vorzügen zählte, zog er nicht in Betracht. Er sah die Dinge von einer anderen Warte aus.

Wir haben diesen Hunden geholfen, und sie haben die Pflicht, uns in ihr Boot zu nehmen, dachte er.

Plötzlich vernahm er einen Ruf.

Er wandte den Kopf nach links und entdeckte zwei Männer, die auf ihn zuhielten. Sie befanden sich nur einen knappen Steinwurf entfernt. Er erkannte sie sofort.

„Dschou und Lai!“ rief er. „Das gibt es doch nicht!“

Die beiden Chinesen grinsten und wiesen auf etwas, das sich westlich von ihnen deutlich aus den Fluten hochschob. Nakamura mußte warten, bis das Gebilde etwas näher herangeglitten war – dann stellte er fest, daß es sich um einen menschlichen Kopf handelte sowie zwei Arme, die ein Stück Planke umklammert hielten.

„Tijang, der Uigure“, murmelte er. „Der schlechteste Schwimmer unserer Mannschaft. Daß du auch noch lebst, du Himmelhund!“

Er verhielt, trat wieder Wasser und gestikulierte zu den dreien hinüber. Tijang bewegte die Beine und rührte das Wasser mit den Füßen zu einem gischtenden Sprudel auf. Das war seine Art, sich im Naß fortzubewegen. Keinen Augenblick ließ er den Plankenrest los. Es wäre sein Untergang gewesen.

Dschou und Lai hatten ihre Anstrengungen verdoppelt. Sie waren als erste neben dem Japaner, dann traf auch der Uigure ein. Die vier schwammen nebeneinander her, dem Sampan von Fei Yen nach, und Nakamura sagte: „Wo sind die anderen?“

„Tot“, erwiderte Dschou. „Außer uns ist keiner von der Galeone entkommen.“

Nakamura stieß eine Verwünschung aus. „De Romaes ist von einem der Seewölfe, die schwimmend zu unserem Schiff gestoßen sind, umgebracht worden. Dann setzten diese Kerle auch mir höllisch zu. Warum seid ihr mir nicht zu Hilfe geeilt?“

„Wir waren auf dem Vordeck“, sagte der Uigure prustend. „Wir versuchten, den Brand zu löschen, aber es war sinnlos. Als wir dann Geräusche auf der Kuhl hörten, liefen wir hinunter.“

„Da war es zu spät“, sagte Nakamura. „Fong und seine Spießgesellen hatten mich entwaffnet. Ich konnte mich in letzter Sekunde dem Tod entziehen.“ Wie die Dinge genau abgelaufen waren, verschwieg er wohlweislich.

„Wir haben dich nicht springen sehen“, sagte Lai. „Bis eben wußten wir nicht, daß du dich gerettet hattest.“

„Habt ihr wenigstens gegen die drei Bastarde gekämpft?“

„Ja“, log Dschou. „Aber wir hatten keine Chance, weil sie sich Schußwaffen beschafft hatten. Wir hatten nur unsere Schwerter und Messer.“ In Wirklichkeit hatten Lai, Tijang und er es vorgezogen, sofort das Feld zu räumen, als sie gesehen hatten, wie Blacky, Sam Roskill und Fong auf der Kuhl aufgeräumt hatten – und wie weit der Brand auf der Galeone bereits fortgeschritten war.

„Habt ihr noch Waffen?“ fragte Nakamura.

Dschou nickte. „Jeder von uns hat noch sein Kurzschwert im Gurt stekken. Und ich habe ein Messer, das ich dir geben kann, Nakamura.“

Jetzt grinste der Japaner. „Sehr gut. Ausgezeichnet sogar. Wir müssen den Sampan der Dschunke erreichen. Um jeden Preis. Die Seewölfe haben unsere geschätzten Verbündeten abziehen lassen, aber Waffen haben sie ihnen bestimmt nicht mit auf den Weg gegeben.“

 

Dschou schaute zu dem davongleitenden Boot. „Das schaffen wir nicht. Die sind schon zu weit weg. Und sie halten nicht an.“

„Ja“, erwiderte Nakamura. „Aber seht doch, was jetzt geschieht.“

Eine Wende bahnte sich an. Ein großer, bulliger Mann mit schulterlangem Zopf hatte sich an Steuerbord am Dollbord des Bootes festgeklammert und versuchte, ins Innere zu gelangen. Er zerrte mit solcher Gewalt an dem Boot, daß es fast zu kentern drohte. Die Piraten im Sampan schrien durcheinander. Der Bursche, der die achteren beiden Riemen bediente, hatte aufgehört zu pullen. Das Boot verlor schnell an Fahrt und verharrte in der See.

Nakamura, Dschou, Lai und Tijang schwammen, so schnell sie konnten. Dschou brachte sich neben den Japaner, legte sich auf die linke Körperseite und zog das Messer, das er neben dem Kurzschwert im Leibgurt stecken hatte.

Nakamura riß das Messer an sich.

Der bullige Chinese hieß Sui. Er war der Pirat von der Dschunke Fei Yen, der sich einen ausdauernden Zweikampf mit Ferris Tucker, dem rothaarigen Schiffszimmermann der „Isabella“, geliefert hatte. Fast hätte Sui diesen Gegner getötet. Zumindest ins Meer hatte er ihn befördert, aber dann war der Rothaarige sehr rasch wieder aufgetaucht, hatte ihm das Schwert bis auf einen lächerlichen Klingenstummel verkürzt und ihn zu den Haien geschickt.

Die Haie! Sui wußte, daß sie da waren.

Noch umkreisten sie die Stätte des Gefechts. Aber ihre Bahnen wurden immer enger, bis sie den ersten Toten erreicht hatten und ihre Gier in einen Rausch ausartete.

Sui hing sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Sampan. Das Boot schwankte wie verrückt, seine Insassen schrien und fluchten, und der Ruderer traf Anstalten, Sui einen Riemen über den Schädel zu ziehen.

Sui rollte mit den Augen.

„Laßt mich ’rein!“ brüllte er. „Helft mir! Ich bin doch einer von euch – habt ihr den Verstand verloren?“

Der Ruderer hatte einen der hölzernen Riemen gehoben und ließ ihn jetzt niedersausen. Schwer krachte die kantige, mörderische Waffe nieder. Aber Sui war auf der Hut. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit wich er aus, und der Riemen traf das Dollbord.

Sui packte den Riemen mit der linken Faust, während er sich mit der Rechten weiterhin festhielt. Er hatte Berge von Muskeln, und es bereitete ihm kaum Mühe, den Riemen hochzustemmen und gegen die Brust des Ruderers zu stoßen.

Der Kumpan am Bootsheck stöhnte auf, rutschte aus und knallte mit seinem Gesäß auf die Achterducht. Fast ging er außenbords.

Sui brüllte vor Wut. Die anderen Piraten fingen an, mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Er wehrte sich, warf zwei, drei von ihnen nieder und versuchte jetzt, das Boot tatsächlich zum Kentern zu bringen.

Seine Mitstreiter von Fei Yen, der einst so stolzen und gefürchteten „Fliegenden Schwalbe“, schrien und brüllten wie die Besessenen. Aber sie waren nicht übergeschnappt, wie er anfangs angenommen hatte, nein – sie gingen bei ihrem Handeln nur von ganz vernunftsmäßigen Erwägungen aus.

Der Sampan war voll. Fünf gesunde Piraten und sechs Schwerverletzte, von denen einer im Gefecht ein Bein eingebüßt hatte, waren zusammengepfercht worden. Das war genau ein Mann mehr als das Höchstmaß dessen, was der Sampan eigentlich fassen konnte. Und jetzt auch noch Sui!

Es war schon so viel zu eng in dem einfachen Sampan ohne Zeltaufbau. Die Schwerverwundeten lagen fiebernd und stöhnend zwischen den Duchten. Sie waren ihren unversehrten Kumpanen ein Klotz am Bein. Richtig bedenklich wurde die Lage aber erst jetzt, als Sui, der Koloß, das Boot zum Kentern zu bringen drohte.

Der Ruderer hatte sich wieder aufgerappelt. Gemeinsam mit den anderen vier Unverletzten setzte er alles daran, Sui in die See zurückzustoßen und Reißaus zu nehmen.

Aber Sui ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Er hieb um sich, mit nur einer Faust, und ließ mit der anderen Hand den Bootsrand nicht los. Immer wieder schlug er die Männer nieder und rüttelte an dem Fahrzeug. Er war außer sich vor Wut. Aber er begriff auch, daß es keinen Zweck hatte, wenn er den Sampan umwarf. Zwar landeten die feinen Kameraden dann alle im Wasser, aber – so kräftig er auch war – er schaffte es nicht, den Sampan allein wieder aufzurichten.

Also strengte er sich an, übers Dollbord ins Bootsinnere zu gelangen. Das verwirrte Gesicht eines Verwundeten tauchte vor ihm auf. Aus glänzenden Augen blickte dieser Marin ihn an. Zwei knochige Hände schossen hoch, um Suis Hals zu umklammern.

„Fort“, keuchte der Verletzte. „Du bringst uns alle um. Ich will nicht sterben. Nicht – zu den Haien …“

„Hund“, würgte Sui hervor.

Sein Hals war breit und gedrungen, und es gehörten schon ausgesprochen lange Finger dazu, ihn überhaupt zu umspannen. Doch der Verwundete konnte es, und er brachte erstaunlicherweise auch die Kraft auf, zu pressen und Sui zu würgen. Panik und Verzweiflung verliehen dem Mann im Boot die erforderlichen Energien.

Sui ließ den Bootsrand los. Er griff sich den einstigen Kumpan mit beiden Händen, er mußte es tun, sonst war er verloren. Wild zerrte er ihn aus dem Sampan. Ein hagerer Körper, in Lumpen gehüllt, klatschte in die Fluten.

Sui drückte den Verletzten von sich. Die Finger lösten sich von seinem Hals. Erbarmungslos stieß Sui den Mann unter die Wasseroberfläche. Immer tiefer, bis dessen Bewegungen erlahmten und er langsam den lauernden Haien entgegentrieb.

Der Ruderer hatte wieder die Riemen in die Dollen befördert und schickte sich an loszupullen. Sui schwamm. Es gelang ihm, sich von neuem an Steuerbord zu bringen, bevor der Sampan Fahrt aufnehmen konnte. Er schoß neben der Bootswand hoch, drosch auf alles ein, was sich vor ihm regte – und enterte schließlich mit verzerrter Miene auf.

Er ließ sich auf die mittlere Ducht sinken, ein triefender Gigant. Niemand rührte ihn an. Sie wagten es nicht mehr. Die Kumpane von der Dschunke standen und hockten nur reglos da und starrten ihn voll Entsetzen an.

Er musterte sie. Sein Blick war von tödlicher Kälte. Allmählich entblößte er seine Zähne.

„Ich könnte euch alle umbringen“, knurrte er. „Keiner von euch hat eine Waffe, und in mir steckt genug Kraft, euch einen nach dem anderen zu zerbrechen. Aber ich tue es nicht. Ich brauche Kerle, die mich zum Land bringen, und eine Besatzung für das neue Schiff, das ich mir suchen werde. Das Kommando gehört mir. Ich bin der Kapitän, verstanden?“

Sie nickten stumm.

Sui wandte sich zu dem Ruderer um. Dem Burschen wurden plötzlich die Knie weich.

„Auf was wartest du?“ fuhr Sui ihn an.

Da packte der Mann die beiden Riemen und stemmte sich dagegen.

Sui hockte mit aufgestützten Armen und atmete schnaufend. Sein Blick glitt über die Schwerverletzten. Fünf waren es noch. Unnützer Ballast, dachte er verächtlich, wer nicht mehr gesundet, den werde ich mir vom Hals schaffen.

Der einzige, der auf Fei Yen dem Haufen wilder Kerle noch halbwegs menschliche Anwandlungen entgegengebracht hatte, war der Feldscher gewesen. Er hatte die sechs Schwerverletzten sogar vor Khai Wang in Schutz genommen, als dieser alle Kampfuntauglichen kurzerhand außenbords hatte werfen wollen.

Doch der Feldscher lebte nicht mehr. Auch er war in dem Kampf gegen die „Isabella“ auf der Strecke geblieben.

Sui bewegte den bulligen Schädel und hielt nach den Rückflossen der Haie Ausschau. Plötzlich senkte er den Kopf ein wenig und verengte die Augen.

Da, dort waren sie – zwei, und sie strichen lautlos auf die Stelle zu, an der Sui den Kumpan ertränkt hatte, der ihn gewürgt hatte. Die stille Szene belegte Sui fast mit einer Art Bann. Kaum mochte er sich von dem Anblick lösen.

Dann wanderte sein Blick jedoch weiter nach achtern, und er entdeckte die vier Gestalten, die rasch auf das Bootsheck zuglitten. Einer hielt sich mit den Händen an einem Plankenrest fest. Er stieß das Stück Holz vor sich her und bewegte die Beine auf und ab.

Sui erkannte den Japaner. Dessen Gesicht war ihm von einer früheren Begegnung her in Erinnerung geblieben.

„Nakamura“, sagte Sui laut. „Wenn du glaubst, daß ich dich und deine drei Kerle aufnehme, hast du dich geirrt.“ Er winkte dem Ruderer herrisch zu. „Pull auf die Küste zu, du Hund, oder du lernst mich kennen. Schneller, verdammt noch mal, schneller!“

Gewiß, Sui hätte Nakamura helfen können. Der Sampan war zwar überladen, aber Sui war skrupellos genug, um schnelle Abhilfe zu schaffen. Er hätte es fertiggebracht, die fünf Schwerverletzten der See zu übergeben. Auf diese Weise hätte es für den Japaner und seine drei Begleiter genügend Platz gegeben.

Aber da war noch etwas anderes. Sui traute Nakamura, Dschou, Lai und Tijang nicht über den Weg. Wenn Sui schon nicht mit den eigenen Kumpanen in friedlichem Einvernehmen stand – wie konnte er sich da mit den Leuten von de Romaes zusammentun?

Sie gehörten nun mal nicht zu Fei Yen. Daß sie mit ihrer Galeone in den Kampf gegen die Seewölfe eingegriffen hatten, war für Sui auch von höchst nebensächlicher Bedeutung. Hatten sie denn etwas ausrichten können? Im Gegenteil. Sie hatten schmählich versagt. Sie waren Versager. Was wollten sie also noch?

Sui war heilfroh, wenn er selbst noch bei Tageslicht das Festland erreichte.

Er verzog seine breiten Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. „Ersauft, ihr taugt ja doch zu nichts. Die Haie werden sich freuen.“

Aber Nakamura, Dschou, Lai und Tijang waren schneller heran, als er gedacht hatte. Zuviel Zeit war durch den Kampf Suis mit seinen Kumpanen verlorengegangen, und zu wenig Aufmerksamkeit hatten sie alle den Heranschwimmenden geschenkt.

Jetzt tauchten die vier, schoben sich wieder mit Köpfen und Oberkörpern aus dem Wasser – und waren rechts und links neben dem Sampan. Sie klammerten sich fest.

Sui unternahm eine Gebärde zu dem Ruderer hin. Der Bursche sollte wieder die Riemen zum Einsatz bringen, um die lästigen Verfolger zu verscheuchen. Ein paar Hiebe auf die Finger dieser Kerle, und sie würden schon von dem Sampan ablassen.

Aber dann sah Sui zu seinem Entsetzen, wie in Nakamuras Hand ein Messer aufblitzte.

2.

Der Seewolf hatte Kurs auf die Meerenge genommen, die sich zwischen der nördlich gelegenen Halbinsel Liaotung und der Halbinsel Shantung im Süden erstreckte. Bald würden sie den Golf von Chihli erreicht haben. Hasard dachte nur an das, was vor ihnen lag. Von der Tragödie, die südlich der „Isabella“ ihren Lauf nahm, ahnten weder er noch seine Männer etwas.

Außerdem wurden die Seewölfe, Siri-Tong, Ch’ing-chao Li-Hsia und Fong Ch’ang viel zu sehr durch die Ereignisse an Bord in Anspruch genommen, um Mutmaßungen über das Schicksal der überlebenden Piraten anstellen zu können.

In der Vorpiek war plötzlich der Teufel los.

Matt Davies und Luke Morgan hatten laut Edwin Carberrys Befehl vor dem Schott des finsteren Lochs im Vordeck Posten bezogen. Als hinter dem Schott das Poltern, Scharren und Keuchen einsetzte, blickten sie sich an. Das Sonnenlicht drang nur schwach durch ein paar Ritzen bis in den Gang vor der Vorpiek, aber Luke Morgan sah trotzdem das Grinsen, das auf Matts Zügen erschien.

„Hört sich ganz nach einer Keilerei an“, sagte Matt. „Oder?“

Luke erwiderte trocken: „Witze erzählen sich die beiden bestimmt nicht.“

„Khai Wang ist zu sich gekommen.“

„Aber wieso schlägt er sich mit seinem Steuermann?“

„Das weiß der Henker“, erwiderte Matt achselzuckend. „Auf jeden Fall wäre es besser gewesen, wenn wir sie gefesselt hätten.“

Luke schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, was Hasard angeordnet hat. Er legt einem Gefangenen erst Armbänder an, wenn der Kerl sich aufsässig gebärdet oder sonstwie üblen Mist baut.“

„Fair“, meinte Matt. „Aber zu menschlich für Hunde wie Khai Wang und Wu. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Hasard Siri-Tong nicht gebremst hätte. Sie hätte Khai Wang und Wu doch am liebsten gleich an Bord der Dschunke niedergestochen. Nun hör dir das an!“

Das Rumoren in der Vorpiek hatte zugenommen. Dumpfe Schläge ertönten, chinesische Flüche, Kratzen, Rumpeln und das Treten nackter Füße gegen Planken und Schott.

„Was tun wir?“ fragte Luke. „Lassen wir die Halunken raufen? Es ist ja zu ihrem eigenen Schaden, nicht zu unserem.“

„Wir sollen jedes Vorkommnis melden, hat Carberry gesagt.“ Matt sah den Kameraden mit gerunzelter Stirn an. „Wir haben unsere klaren Anweisungen. Hast du das vergessen?“

„Nein. Ich finde nur, ein paar Beulen und Schrammen stehen den beiden Kerlen dort drinnen ganz gut.“ Luke wies auf das Schott.

 

„Ganz meiner Meinung. Aber wenn der Profos nachher sieht, wie hübsch blau und rot diese Dellen schillern, fragt er uns doch, ob wir das nicht gehört und warum wir ihm nicht Bescheid gesagt haben“, sagte Matt Davies.

„Auch wahr.“

„Also. Ich gehe jetzt ’rauf.“ Matt wandte sich dem Niedergang zu.

Luke hielt ihn am Arm fest. „Hör mal. Sollten wir die beiden Kerle nicht lieber vorher zur Räson bringen?“

„Luke, es ist besser, wenn wir dazu Verstärkung holen. Carberry hat uns doch auch das eingeschärft. Sag mal, leidest du an Gedächtnisschwund oder so?“

„Ach, Quatsch. Es ist bloß lächerlich, daß wir auch noch Hilfe brauchen, um diese verdammten Gelbmänner zu bändigen. Mit denen werden wir auch allein fertig.“

„Nein.“

„He, wie war das?“

„Khai Wang und Wu sind zusammen gefährlicher als die ganze Piek voll Schlangen“, sagte Matt Davies ruhig. „Denk daran. Hasard traut uns eine Menge zu, aber er weiß, warum er solche Befehle gibt. So, und jetzt dampfe ich ab, bevor einer von denen den anderen umbringt.“ Er wandte sich zum Niedergang.

Durch das Krachen und Poltern in der Vorpiek konnte Luke Morgan kaum noch vernehmen, wie Matts Schritte hastig auf den Stufen nach oben trappelten.

Die Vorpiek war der untereste, engste Raum im Vorschiff der „Isabella“. Ihre Wände liefen in spitzem Winkel auf den Vorsteven zu. Unter der hölzernen Gräting schwappte übelriechendes Bilgewasser, und bei jeder Abwärtsbewegung des Bugs in der Dünung ergoß es sich durch die Gitterkonstruktion in den vorderen Bereich des Verlieses, während es beim Hochschwingen des Vorschiffs wieder nach achtern ablief.

Nur eine flache Dünung kräuselte das Gelbe Meer, doch sie genügte, um die große Galeone leicht vor- und zurückschwingen zu lassen. Das beständige Auf und Ab war der Rhythmus, mit dem sie vor dem Südostwind dahinrauschte.

Die Enge, das patschende Bilgewasser und die Ratten, die in diesem Bereich des Schiffes hausten, verwandelten die Vorpiek in eine Art Vorhof zur Hölle. Hier war schon so mancher harte Kerl weichgeklopft worden, denn schon nach einem Tag konnte das Eingesperrtsein in dem finsteren Loch unerträglich werden.

Von diesem seelischen Tiefpunkt waren Khai Wang und Wu zur Zeit jedoch noch weit entfernt.

Khai Wang holte soeben wieder aus und hieb seinem Steuermann die Faust gegen die Schulter. Sofort setzte er mit der anderen Hand nach und drosch ihm die spitzen Knöchel unters Kinn. Wu flog mit einem schwachen, ächzenden Laut in Richtung Vorsteven. Er stieß sich den Kopf an der flachen Decke, krümmte sich und ging zu Boden. Es klatschte, als er in dem hereingurgelnden Bilgewasser landete.

Von dem Gestank wurde Wu fast übel. Er lag für Sekunden mit weit von sich gestreckten Beinen da, ein zerschundener Bursche, klein, drahtig und verschlagen und nur scheinbar am Ende.

Khai Wang rückte mit erhobenen Händen auf ihn zu.

Er war in diesem düsteren Loch zu sich gekommen, hatte aber sofort und ohne Wu zu fragen begriffen, auf welchem Schiff er sich befand. Nur zu deutlich war ihm die Niederlage in Erinnerung – wie der Seewolf ihn im Degenduell geschlagen und ihm dann die Faust unter die Kinnlade geschmettert hatte.

Alle aufgestaute und jetzt brausend aufsteigende Wut entlud Khai Wang in seinem jähen Angriff auf Wu. Schon auf Fei Yen waren sie aneinandergeraten, weil Wu Khai Wang hatte überreden wollen, den Kampf abzubrechen und das Weite zu suchen. Khai Wang hatte seinen Steuermann am Kolderstock niedergeschlagen.

Aber diesmal hatte Wu sich zur Wehr gesetzt.

Khai Wang blieb vor ihm stehen. Geschickt balancierte er die Schiffsbewegungen in den Knien aus.

„Steh auf“, fuhr er den drahtigen Kleinen an. „Ich weiß, daß deine Schwäche nur vorgetäuscht ist. Du willst mich überlisten und mir wie eine Wildkatze ins Gesicht springen. Aber ich kenne dich zu gut, Wu. Mir gaukelst du nichts vor – du Verräter.“

„Narr!“ zischte Wu. „Größenwahnsinniger! Du hast uns alle ins Unglück gestürzt. Wegen deines idiotischen Stolzes.“

„Schweig!“

„Dein Haß kannte keine Grenzen, und du dachtest, einen Gegner wie den Seewolf schlagen zu können“, fuhr Wu fort. „Weit gefehlt – und es kostet uns alle den Kopf. Zum Großen Chan in die Verbotene Stadt will er uns schleifen, der Hund. Und was wird man dort mit uns tun?“

„Darauf erhältst du keine Antwort!“ schrie Khai Wang in die stikkige Luft der Piek. „Denn du wirst Peiping, die nördliche Hauptstadt, niemals erreichen. Mit diesen Händen bringe ich dich um. Das verdient ein räudiger Hund, der winselnd und mit eingezogenem Schwanz vor dem Feind flieht.“

Wu konnte die gegen ihn erhobenen Hände des Piratenführers nur ganz schwach erkennen. Von Khai Wangs verkrampften Zügen sah er nichts, ebensowenig sah er in der Dunkelheit das zerfetzte Gewand seines Gegenübers, unter dem die Tätowierungen bei normalen Lichtverhältnissen nun gut zu erkennen gewesen wären.

Wu genügte es, einwandfrei zu orten, wo der Kerl stand. Als die „Isabella“ wieder ihr Heck in die See senkte und den Bug anhob, schoß der kleine Chinese hoch. Er sprang vor, fegte über die nasse, glitschige Gräting und warf sich Khai Wangs Beinen entgegen. Er umklammerte sie, entging den Fäusten, die seinen Rükken zu treffen versuchten, und riß Khai Wang um.

Wu stieß einen Triumphschrei aus. Khai Wang gab eine lästerliche Verwünschung von sich. Sie balgten sich, wälzten sich ineinander verkeilt von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück, prallten gegen das Schott, rutschten über die Gräting.

„Ich töte dich!“ brüllte Khai Wang.

„Ich zerreiße dich!“ heulte Wu.

„Deinetwegen haben wir den Kampf verloren!“

„Es ist deine Schuld! Und du hast dafür verdient, was allen unfähigen Schwächlingen gebührt!“

„Ratte!“ schrie Khai Wang. Er kämpfte sich frei, boxte dem Widersacher in die Seite und wollte noch einmal zuschlagen. Aber Wu rollte sich fort, sprang auf, wirbelte herum und warf sich erneut auf dem Mann, den er jetzt wie die Pest haßte.

Sie rangen miteinander, und was sie sich gegenseitig zubrüllten, waren keine Übertreibungen. Khai Wang wollte Wu tatsächlich mit den Händen umbringen. Und auch Wu hatte keinen größeren Wunsch, als seinen einstigen Kapitän ins Jenseits zu befördern.

Hasard war bei Rudergänger Pete Ballie gewesen und trat gerade aus dem Ruderhaus aufs Quarterdeck, als Matt Davies aus dem Steuerbordschott des Vordecks stürmte. Matt rief Carberry etwas zu, was der Seewolf nicht verstand. Aber Hasard konnte sich auch so denken, um was es ging – es gehörte kein Scharfsinn dazu.

„Ed, Matt!“ rief er ihnen zu. „Spielen unsere Gefangenen etwa verrückt?“

„Ja, Sir“, erwiderte der Profos.

Hasard trat vor und legte die Hände auf die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Quarterdecks zur Kuhl bildete. „Stenmark und Batuti, ihr schließt euch Matt an und geht als Verstärkung mit zur Vorpiek ’runter. Bringt Khai Wang und Wu zur Vernunft.“

„Die schlagen sich wie die Irren!“ rief Matt Davies.

„Vorsicht, das kann auch ein Trick sein“, warnte Carberry. „Diese Bastarde sind zu allem fähig.“

Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Schon auf der Dschunke haben sie sich in der Wolle gehabt. Wir trennen sie. Der eine bleibt in der Vorpiek, den anderen steckt ihr ins Kabelgatt.“

Stenmark und Batuti waren zu Matt gestoßen. Alle drei rückten nun auf das Steuerbordschott des Vordecks zu, riefen ihr „Aye, aye, Sir!“ und verschwanden.

Hasard blieb an der Schmuckbalustrade stehen und blickte zu Carberry. Tiefe Falten standen auf der Stirn des Profos’, seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Er traute der Sache nicht.

Sir John, der karmesinrote Aracanga, streckte seinen Kopf zum Profoswams heraus. Wieder einmal hatte er sich an Carberrys Brust zusammengekuschelt und seinen Mittagsschlaf gehalten. Aber jetzt hatte ihn das Rufen der Männer geweckt. Die Luft roch nach Verdruß. Sir John wollte einen unpassenden Kommentar abgeben, aber da packte der Profos ihn bereits und stopfte ihn ins Wams zurück.

„Halt den Schnabel, du gerupfter Zwerghahn“, sagte Carberry dumpf. Hölle, er hätte zu gern gewußt, was dort unten lief. Sollte er auch nach dem Rechten sehen?

Nein. Davies, Morgan, Stenmark und der Gambia-Neger genügten als Ordnertrupp. Wenn er, Carberry, sich da auch noch einmischte, riskierte er glatt, von den vieren angeödet zu werden.

Also wartete er ab.

Siri-Tong war vom Achterdeck aufs Quarterdeck hinuntergestiegen und trat neben den Seewolf. Sie warf ihm einen knappen Seitenblick zu, aber Hasard registrierte ihn nicht. Die Korsarin wandte ihr Gesicht nach vorn, dann stand sie völlig reglos da.

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