Seewölfe - Piraten der Weltmeere 92

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 92
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-416-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Die Nacht des Schreckens hatte ihren blutigen Auftakt genommen.

Maccallion hob vorsichtig den Kopf und hielt Ausschau. Er lag auf dem Bauch und konnte im blassen Mondlicht die Körper seiner beiden Mitstreiter erkennen. Reglos lagen sie da, einer vor der leise rauschenden Brandung am Ufer, der andere auf dem Inselhang. Der Wind strich über sie weg, griff dabei in das harte Gras und eilte weiter, auf den Atlantik hinaus. Er summte die Melodie des Todes.

Maccallions Kumpane waren tot.

Er preßte die Lippen zusammen, bis sie blutleer waren. Kalter Haß war in ihm. Er tastete nach seinem Messer und fühlte sich stark und unbesiegbar, als er es mit den Fingern berührte. Als er sich hingeworfen hatte, hätte es ihm leicht entgleiten können. Jetzt war er froh, nicht danach suchen zu müssen.

Den toten Engländer – er war Flanagan gerufen worden – hatten die abrückenden Männer des schwarzen Schiffes mitgenommen. Brian O’Lear, Maccallions Anführer, der hartgesottenste aller irischen Piraten, hatte den Mann getötet und war dann kurzfristig in dessen Rolle geschlüpft, um die Frauen zu überlisten.

Maccallion erhob sich und begann zu laufen. Er hielt auf das Zentrum der Insel zu, sein Ziel war das Südufer mit der geschützten Bucht, in der die Schiffe der Gegner lagen.

Er war nicht verletzt. Keinen Kratzer hatte er abgekriegt. Als sich O’Lear mit den drei anderen Kumpanen und dem gefangengenommenen Mädchen Severa ins Meer zurückgezogen hatte, hatte er, Maccallion, sich einfach nur fallen lassen. Die Seewölfe und die Männer der Frau mit den schwarzen Haaren waren an ihm vorbeigestürmt. Entweder hatten sie ihn für tot gehalten oder nicht gesehen.

Schwimmend, wie O’Lear mit seinen Kumpanen auf die Insel gelangt war, hatte sich der Ire nun wieder zu seinen draußen auf See wartenden Schiffen entfernt. Der Seewolf hatte ihm folgen wollen, aber O’Lear hatte ihm zugebrüllt, er werde dem Mädchen die Gurgel durchschneiden, wenn man ihn nicht flüchten ließe.

Der Seewolf, wie jener große, schwarzhaarige Mann von der Dreimast-Galeone genannt wurde, hatte daraufhin den Rückzug angetreten. Und die Schwarzhaarige mit der roten Bluse und den weißleinenen Schifferhosen – sie führte die Männer des schwarzen Viermasters an – hatte auch nichts anderes tun können, als seinem Beispiel zu folgen.

Maccallion lief ihnen nach. Der Südwest blies ihm ins Gesicht, bald aber mehr und mehr gegen die rechte Wange. Er schien auf Westen zu drehen. Maccallion dachte, daß das gut war für Brian O’Lear. Er hielt die Hand um den Messergriff geschlossen und hetzte über die Inselhänge, mal in eine Senke hinunter, dann wieder auf eine Kuppe – weiter, ohne Aufenthalt.

Die Schwarzhaarige – sie hätte das riskante Entführungsunternehmen beinahe verhindert. Diese wilde Amazone, dachte Maccallion zornig, sie wird noch dafür büßen.

Mit ihrem Schuß aus der Pistole hatte sie nicht nur den einen irischen Piraten getötet, sie hatte auch ihre Freunde von den Schiffen alarmiert und auf den Plan gerufen. Der Seewolf war an der Spitze des Trupps herbeigestürmt und hatte Maccallions zweiten Komplicen niedergestochen. O’Lear hatte angesichts der Übermacht befürchtet, das Mädchen Severa könnte doch noch befreit werden. Deshalb hatte er es vorgezogen, sich erst einmal auf sein Flaggschiff „Black Eagle“ zurückzuziehen.

Und Maccallion? Er war nicht auf der Insel geblieben, weil er etwa den Anschluß verpaßt hatte. O nein. Sein Verhalten war eiskalte Berechnung.

Vor Beginn ihres Unternehmens hatte O’Lear einen Freiwilligen gesucht, der ein „Himmelfahrtskommando“ durchzuführen hatte, falls irgend etwas schieflief. Maccallion hatte sich dazu gemeldet. Er haßte diesen Seewolf, weil er sie schon in der Vornacht wie Hunde von der Insel verjagt hatte. Jetzt haßte er ihn noch mehr, weil er einen seiner Kumpane getötet hatte – und weil Maccallion nun wußte, daß er ein Engländer war.

Ein verfluchter, dreckiger Bastard von Engländer, dachte Maccallion. Seine Finger verkrampften sich um das Messer.

Etwas war schiefgegangen, sonst hätte sich O’Lear nicht nur des Mädchens als Geisel bemächtigt. Er hätte auch danach getrachtet, sofort die Insel zu besetzen und die Schiffe zu vereinnahmen.

So kam nun der „Sonderteil“ von Brian O’Lears Plan zum Tragen. Maccallion sollte, notfalls unter Einsatz seines Lebens, Terror stiften. Nach dem Motto: Beraube eine Schiffsbesatzung ihres Kopfes, und sie wird in Panik geraten.

Ich werde dich töten, Seewolf, dachte er. Der Gedanke setzte sich in seinem Geist fest, er fraß und gärte darin. Er würde nicht eher ruhen, bis er seinen Auftrag ausgeführt hatte.

Maccallion erreichte die Bucht im Süden der Insel. Er sah die beiden stolzen Schiffe in dem natürlichen Hafenbecken liegen, groß und wuchtig der Viermaster mit seinen merkwürdigen Aufbauten und den düsteren Segeln, schlank und erstaunlich flach gebaut die Galeone des Seewolfes. Als ausnehmend hoch registrierte Maccallion an ihr nur die Masten. Sie trugen viel Segelfläche und verliehen dem Schiff schnelle Fahrt, eine fortschrittliche Konzeption.

Maccallion legte sich wieder auf den Bauch und robbte den Hang hinunter. Niemand entdeckte ihn. Die Laute aufgeregter Stimmen wehten zu ihm herüber. Beide Crews begaben sich in aller Hast auf ihre Schiffe. Ihr Vorhaben war offensichtlich: Sie wollten ankerauf gehen und O’Lear nachstellen.

Auf dem Ufer ragten zwei gigantische Schatten wie Felsen auf. Maccallion hielt unwillkürlich den Atem an, als er sie identifizierte.

Wale waren das, und was für Prachtexemplare! Der eine, wahrscheinlich ein Männchen, war fast doppelt so groß wie der andere. Beide schienen Humpbacks zu sein, Bukkelwale.

Maccallion begriff. Am Tag hatte eine Patrouille der irischen Piraten beobachtet, wie der Seewolf mit Booten in die Passage zwischen den beiden Inseln gefahren war. Dort hatte er also auf den Wal gewartet! O’Lears Leute hatten allerdings nicht mehr gesehen, wie er ihn gestellt und erlegt hatte.

Der zweite, kleinere Wal stammte vom Westufer der Insel. Dort jedenfalls war vor zwei Tagen so ein Tier angespült worden. Tot. Maccallion wußte nicht, welches Geheimnis mit diesem Vorfall zusammenhing, und er zerbrach sich auch nicht weiter den Kopf darüber.

Die Engländer hatten mit dem Ausweiden der Wale begonnen, aber jetzt ließen sie ihre Arbeit liegen. Alle suchten sie die Schiffsdecks auf. Befehle wurden gerufen, Schritte trappelten über das Deck. Es herrschte heller Aufruhr – und keiner sichtete den Schatten, der da bis zum Ufer der Bucht robbte und dann ins Wasser glitt.

Die Männer vom schwarzen Schiff, die als letzte vom Kampf am Nordufer zurückgekehrt waren, hatten den toten Flanagan mitgenommen. Er war kein besonders umgänglicher Typ gewesen, dieser Flanagan. Dauernd hatte er sich mit Cookie, dem Koch des Viermasters, angelegt. Aber, so paradox das klang: Gerade Cookie war am meisten vom schrecklichen Tod des Kameraden betroffen und schwor seinem Mörder bittere Rache.

„Die Beulenpest soll dieser irische Satan kriegen!“ brüllte er in die Nacht hinaus. „Oh, ich werde ihm zeigen, was es heißt, einen von uns zu massakrieren! Laßt uns erst mal gegenüberstehen, Auge in Auge, dann ramme ich ihm mein Kombüsenmesser in den Leib – so, wie er’s mit Flanagan getan hat!“

Oleg, einer der fünf Wikinger, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Cookie, ich wollte dir nur sagen …“

„Ja?“

„Flanagan ging leicht auf die Palme, aber er war kein schlechter Seemann.“

„O nein, das war er nicht.“

„Und ihr hättet auch irgendwann Frieden geschlossen.“

„Und ob wir das getan hätten!“

Sie schwiegen und blickten zu dem Leichnam des Engländers. Sie hatten ihn auf die Kuhlgrätin gebettet, so, als könnten sie ihn doch noch irgendwie verarzten.

„Er kriegt ein ordentliches Begräbnis“, sagte Oleg noch. Dann purrten ihn die Befehle von Thorfin Njal an die Brassen und Schoten, und auch Cookie setzte sich schleunigst in Bewegung. Der schwere Stockanker wurde gelichtet, die Segel gesetzt. Jeder Mann wurde gebraucht.

Auf der „Isabella VIII.“ verließ soeben Philip Hasard Killigrew das Achterkastell. Er hatte den Befehl erteilt, Brian O’Lear mit den Schiffen zu verfolgen, aber er wußte nicht, welchen Ausgang das Unternehmen haben würde.

Severa Guerazi in der Hand der Piraten!

Nur oberflächlich nahm der Seewolf wahr, wie seine Crew über Deck hetzte und die Manöver durchführte. Carberrys barsche Stimme drang wie durch Korkstopfen an seine Ohren.

Er war zutiefst erschüttert. Da war nicht nur die Entführung des Mädchens. Soeben hatte ein weiteres, menschlich tief berührendes Drama seinen Abschluß gefunden.

 

Nicht nur die Männer auf dem schwarzen Schiff hatten einen Toten zu beklagen. Auch die „Isabella“ führte jetzt einen Leichnam mit. Euzko Guerazi, Severas Vater, war soeben gestorben. Er hatte nicht mehr erfahren, daß seine Tochter von dem verhaßten O’Lear verschleppt worden war.

Gewiß, Hasard und alle anderen an Bord außer Severa hatten gewußt, daß der alte Waljäger früher oder später von der Schwindsucht dahingerafft werden würde. Aber das änderte nichts daran: Der Tod des Basken ging ihnen nahe.

Auf dem Niedergang zum Achterdeck wurde Hasard plötzlich von Dan O’Flynn gestoppt. Dan hielt ihn am Arm fest und stieß hervor: „Verdammt noch mal, Hasard, wenn ich Severa doch bloß begleitet hätte! Wenn ich bei dem Kampf dabeigewesen wäre, ich hätte sie gerettet!“

Hasard drehte sich um und musterte ihn. „Dan, reiß dich zusammen. Dein Posten war im Großmars, du hattest keine Freiwache. Außerdem habe ich dir eben schon gesagt, daß du an dem Verlauf der Dinge nichts geändert hättest.“

„Ich werde wahnsinnig!“ schrie Dan. „Ich halte das nicht aus!“

Hasard packte ihn bei den Schultern. Der junge Mann hatte sich bis über beide Ohren in Severa verliebt – und jetzt dies! Seit der Rückkehr der Männer hatte er sich, die ganze Zeit über wie wild aufgeführt. Jetzt schien er wahrhaftig durchzudrehen.

Hasard schüttelte ihn. „Donegal Daniel O’Flynn! Du bist hier nicht an Bord eines abgetakelten Küstenseglers, verflucht noch mal! Halt die Luft an, und nimm dich zusammen!“

„Ich …“

„Das ist ein Befehl!“ fuhr Hasard ihn an.

„Ja. Ja-wohl.“

„Wir laufen aus, um Severa zurückzuholen, verstanden?“

„Ich – ja, Sir.“

„Hör auf zu stottern, und sprich ganze Sätze“, knurrte Hasard.

„Ich gebe mir Mühe, mich nicht wie ein Narr zu benehmen – Sir.“

„Dein Posten ist im Großmars, hast du das vergessen?“

„Nein, Sir.“

„Dann enter auf, ehe ich mich vergesse, Dan O’Flynn!“

„Aye, aye, Sir.“ Dan besann sich auf seine Selbstbeherrschung und die strenge Borddisziplin. Er wandte sich um, lief zu den Hauptwanten und klomm in den Großmars hinauf.

Hasard trat zu Ben Brighton, seinem Bootsmann und ersten Offizier, der die Manöver vom Achterdeck aus mit kritischem Blick verfolgte. „Wir haben El Asesino, den Mörderwal, besiegt, Ben. Aber jetzt haben wir es mit einem weitaus gefährlicheren Gegner zu tun.“

„Glaubst du, daß wir O’Lear nicht packen können?“

„Ich will nicht mehr Philip Hasard Killigrew heißen, wenn wir das nicht schaffen.“

„Aber das Mädchen …“

„Das ist es ja, Ben“, erwiderte der Seewolf mit verschlossener Miene. „O’Lear hat sie sich als Faustpfand genommen. Und wie ich ihn einschätze, wird er diesen Trumpf brutal ausspielen.“ Er senkte die Stimme. „Ein Teufel wie dieser Ire schreckt vor nichts zurück. Auch nicht davor, eine Frau zu mißhandeln.“

Philip Hasard Killigrew!

Maccallion kauerte auf der Heckgalerie der „Isabella“, als der Seewolf oben auf dem Achterdeck seinen Namen aussprach. Seine Züge waren verkniffen und spiegelten den Haß und die Anspannung, die sein Inneres erfüllten. Doch jetzt verzerrten sie sich noch mehr.

Killigrew!

Schwimmend hatte Maccallion die Galeone erreicht. Er wußte, daß sie das Führungsschiff des Gegners war. Dann hatte er den schwarzhaarigen Mann mit den breiten Schultern auch auf dem Oberdeck erkannt. Soviel ließ das fahle Licht des Mondes gerade noch zu.

Maccallion war am Steuerruder hochgekommen. Wieder hatte ihn keiner beobachtet. Auch für die Männer und die schwarzhaarige Frau drüben auf dem Viermaster war er so gut wie unsichtbar gewesen, denn die Heckpartie der „Isabella“ lag für sie im toten Sichtbereich. Sie hätten schon um die Ecke sehen müssen, um ihn zu entdecken.

Er war katzengewandt auf die Heckgalerie geklettert, das Messer zwischen den Zähnen. Jetzt beschäftigte er sich mit der Tür zur Kapitänskammer. Als er das Messer in den Spalt schob, gelang es ihm, den Riegel zu öffnen. Ganz lautlos ging das nicht vonstatten, aber das Knarren des Schiffsrumpfs, der Blöcke und Rahen, das Plätschern des Wassers und das Rufen der Männer auf Deck überlagerten es völlig.

Maccallion schob die Tür halb auf und schlupfte durch den Spalt. Er stand in der Kammer des Kapitäns.

Killigrew!

Er drückte die Tür wieder hinter sich zu und dachte nach. Er war von der irischen Armee desertiert, weil man ihn wegen Diebstahls zur Rechenschaft hatte ziehen wollen. So war er an Bord von O’Lears Piratenschiff gelangt, hatte den Atlantik überquert und die Karibik kennengelernt, hatte geraubt, geplündert, gemordet und vor den Spaniern bis hierher, zum Archipel kurz vor Feuerland, flüchten müssen.

Aber das hatte nichts an seinen patriotischen Gefühlen geändert. Als irischer Fanatiker war er bei dem Unternehmen an der Dungarvan-Bai dabeigewesen, damals, Ende 1576.

Er hatte diesen Philip Hasard Killigrew seinerzeit nicht gesehen, aber er hatte gehört, wie der Mann unter seinen Landsleuten aufgeräumt und den spanischen Alliierten das Fürchten gelehrt hatte.

Das hatte Maccallion nie vergessen. Und jetzt, hier, auf der anderen Seite der Welt, erfuhr er, wer dieser Seewolf war. Killigrew! Der Verdammungswürdigste aller elenden englischen Bastarde. Höchstens Francis Drake hatte Irland größeren Schaden zugefügt.

Maccallion war jetzt froh, den Mordauftrag angenommen zu haben. Er war dazu ausersehen, Killigrew die Kehle durchzuschneiden. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit Genugtuung. Spät, aber nicht zu spät würde er sich für die fast acht Jahre zurückliegenden Vorfälle an Irlands Küsten rächen.

Aufmerksam schlich er durch die Kammer. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er untersuchte argwöhnisch die Umgebung, ständig auf der Hut, in jeder Sekunde auf böse Überraschungen gefaßt.

Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den Mann entdeckte.

Er lag zu seinen Füßen auf einer seltsamen Koje, mitten im Raum. Eine reglose Gestalt – warum hatte er sie nicht eher bemerkt?

Maccallion nahm das Messer in die rechte Hand, kniete sich neben den Fremden und war bereit, ihm die Klinge in die Brust zu stoßen.

Doch dann verhielt er.

Der Mann schlief nicht. Es war nicht der rechte Moment, zu schlummern, jeder an Bord der Galeone war von der Aufregung um die Entführung des Mädchens angesteckt, keiner konnte sich ausschließen. Aber noch etwas anderes hatte Maccallion stutzig werden lassen und überzeugte ihn, daß der Fremde nicht schlief.

Seine Brust hob und senkte sich nicht. Kein Atemzug war zu vernehmen. Der Tod hatte sich in diese Kammer geschlichen.

Der Ire ließ das stoßbereite Messer wieder sinken. Er atmete tief durch. Daß der Seewolf den Toten erst vor kurzem aus seiner eigentlichen Kammer hierher hatte bringen lassen, wußte er nicht. Hasard wollte ihm eine letzte Ehre erweisen, indem er ihn in seinem Allerheiligsten aufbahren ließ.

Maccallion war auch der Name dieses alten, bärtigen Mannes nicht bekannt. Aber er ahnte, daß er den Walfänger vor sich hatte, der auf dieser Insel gehaust haben sollte. Einmal hatten sie, die Piraten, nach ihm gesucht, hatten ihn aber nicht aufstöbern können. Irgendwo mußte er einen Unterschlupf gehabt haben.

Und das dunkelblonde Mädchen, das sich jetzt bei O’Lear auf der „Black Eagle“ befand, war seine Tochter.

„Ruhe in Frieden“, murmelte Maccallion mit hämischem Grinsen. „Du hast das beste Los gezogen, alter Narr. Du kriegst ja nicht mehr mit, wie es dem hübschen kleinen Weibsbild an den Kragen geht.“

Seine Stimme war heiser geworden. Irgendwie war ihm plötzlich doch mulmig zumute. Ein Toter. Das war ein böses Omen. Er wußte, daß der Alte ihm nichts mehr anhaben konnte, und doch schien er ihn zu beobachten, zu bewachen. Konnte er ihn etwa aus dem Jenseits heraus betrachten?

Maccallion erhob sich und wich ein Stück zurück. Wie alle einfachen Menschen hatte er einen unverrückbaren, tief verwurzelten Aberglauben. Ihm bangte davor, daß sich der Geist des Alten an ihm rächen würde.

Aber rasch verdrängte er die düsteren Gedanken, als sich das Schiff ein wenig auf die Seite legte. Das Rauschen des Wassers an den Bordwänden nahm zu – die „Isabella“ hatte sich in Fahrt gesetzt. Sie lief aus der Bucht.

Kurze Zeit darauf näherten sich Schritte.

Maccallion schlich zur Tür, die auf den Innengang des Achterkastells wies. Er drehte sich um und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, so daß die Tür ihn verdecken mußte, falls sie geöffnet wurde.

2.

Severa wäre lieber ertrunken, statt mit den Piraten zu schwimmen. Aber sie war ohnmächtig geworden, und dann hatte Brian O’Lear sie auf den Rücken gedreht und ohne großen Aufwand und Kraftverlust mitgeschleppt.

Nebelstreifen krochen flach über das Wasser. O’Lear und seine drei Begleiter konnten die nördlich der Insel postierten Schiffe nicht erkennen, aber sie entdeckten alsbald die Konturen eines Bootes. Es löste sich aus der Wand von Dunkelheit und Dunst und glitt gespenstisch leise auf sie zu. Sanft tauchten die Riemen ein und hoben sich wieder aus dem Wasser. Sechs Männer saßen auf den Duchten.

O’Lear spitzte die Lippen und ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen – wie vereinbart, zunächst hoch, dann in eine tiefere Lage abfallend.

Sofort hielten die Männer im Boot auf ihn zu. Wenig später holten sie die Riemen ein, gingen längsseits der Schwimmer und nahmen auf O’Lears Befehl hin zuerst das Mädchen an Bord.

Danach kletterte auch O’Lear in das Boot. Seine drei Kumpane im Wasser schickten sich an, ebenfalls aufzuentern.

„Vorsicht“, sagte einer der Piraten im Boot, „treibender Tang.“

O’Lear schaute sich um und sah nun auch die riesigen, schlangengleichen Gebilde, die auf das Boot zufächelten. Tang – er konnte ganze Boote umklammern und in die Tiefe reißen, ja, sogar Schiffe in Gefahr bringen.

„Verdammt“, zischte O’Lear. „Los, beeilt euch, wir müssen hier weg.“

Zwei Schwimmer klommen am Dollbord hoch und griffen nach den hilfreich ausgestreckten Händen ihrer Kumpane. Der dritte war nicht ganz so schnell. Er blieb ein Stück zurück und gestikulierte plötzlich verzweifelt.

Der Tang hatte ihn umschlungen und drohte ihn unter die Wasseroberfläche zu zerren.

Brian O’Lear riß eine unter den Duchten verstaute Pike hervor, eilte ganz nach achtern und streckte dem Mann das stumpfe Ende entgegen. Die Pike war länger als ein Bootsriemen, sie erreichte den Mann, und er konnte sie mit beiden Händen pakken.

O’Lear zerrte und holte den Mann Zug um Zug zu sich heran.

„Pullt!“ fuhr er die anderen an. „Los, pullt, so schnell ihr könnt, sonst bleiben wir alle stecken.“

Er zog den Mann aus dem Wasser und befreite ihn von einem großen, glitschigen Stück Tang, das seine Hüfte umspannt hielt. Der Mann sank neben ihm auf eine Ducht. Er war kreidebleich im Gesicht.

Ein großes Beet formte sich aus dem treibenden Riesentang, aber die Piraten schafften es, sich ihm zu entziehen, bevor es das Boot umwickelte und zum Stoppen brachte.

Kurz darauf wuchsen die Umrisse der Schiffe vor ihnen aus dem Nebel. Fast majestätisch wirkte die „Black Eagle“, O’Lears Führungsschiff. Sie war eine robust gebaute Galeone mit drei Masten und imposanter Armierung. In ihrem Großtopp wehte die Totenkopfflagge.

Nach den letzten Gefechten mit den Spaniern bestand O’Lears kleine, aber wehrhafte Flotte nun noch aus insgesamt vier Schiffen. Eine zweite, etwas kleinere Galeone dümpelte neben der „Black Eagle“ auf der Dünung. Eine halbe Kabellänge weiter nach Norden versetzt warteten die beiden Karavellen. Eine führte drei Masten, die andere zwei, beide waren lateingetakelt.

Wohlweislich hatte der Ire diesmal seine komplette Streitmacht aufgeboten. Den Fehler von der Vornacht wollte er nicht wiederholen. Allein hatte er sich mit der „Black Eagle“ bis zur Ankerbucht des Seewolfes begeben. Er hatte geglaubt, die Männer im Schlaf überraschen zu können und leichtes Spiel zu haben. Aber unversehens hatten sich die beiden Schiffe auf ihn zugeschoben, drohende Giganten in der Nacht – und dann war der Teufel los gewesen.

Er schüttelte sich, als er daran zurückdachte. Wieder flammte der Haß in ihm auf. Ein verfluchter Engländer hatte ihm, Brian O’Lear, zu trotzen gewagt! Das würde er büßen, zehnfach, hundertfach.

 

Das Boot schor längsseits der „Black Eagle“. O’Lear griff sich das immer noch bewußtlose Mädchen, legte es sich über die Schulter und enterte als erster an der Jakobsleiter auf. Auf der Kuhl ließ er sie auf die Planken sinken und trat grinsend seinen Männern entgegen.

Coleman, ein hagerer, hochaufgeschossener Mann aus Dublin, der auf der Galeone die Funktion des Bootsmannes wahrnahm, war O’Lears rechte Hand.

Er blickte auf Severa, schaute zu seinem Anführer und sagte: „Ich habe vorsorglich das Boot losgeschickt, um nach euch suchen zu lassen. Wir haben Schüsse gehört und uns gedacht, daß etwas danebengegangen ist.“

„Ja. Ich wollte euch ein Leuchtzeichen von dem höchsten Inselhügel aus geben, sobald ich das Schiff des Anführers in meine Gewalt gebracht hatte, aber soweit sind wir nicht gekommen.“ Er berichtete, was vorgefallen war.

„Zwei Tote“, sagte Coleman. „Zum Teufel auch, wir hätten mit den Schiffen doch die Bucht anlaufen sollen.“

„Damit der Seewolf uns mit seinen vollen Breitseiten empfangen konnte?“ O’Lear stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte seinen Bootsmann durchdringend an. „Wahnsinn.“

„Der Nebel verbirgt uns.“

„Der Seewolf hat ausgezeichnete Ausguckposten, vergiß das nicht.“

„Der Seewolf?“

„So nennen sie ihn, Coleman. Ich nehme an, er ist der Kerl, der den Spaniern schon seit Jahren einen erbitterten Krieg liefert. In den Kneipen von Tortuga und anderswo habe ich die wildesten Geschichten über diesen ‚Lobo del Mar‘ gehört. Aber er ist keiner von uns. Er bildet sich ein, als ‚Korsar der Königin‘ was Besseres als alle anderen Freibeuter zu sein.“ O’Lear grinste plötzlich wieder. „Ein harter Bursche, das muß ich ihm lassen. Wißt ihr, was ich glaube? Er wird uns verfolgen. Aber Maccallion ist auf der Insel zurückgeblieben und wird seine Mission erfüllen. Darauf baut mein weiterer Plan auf.“

„Das Mädchen“, sagte Coleman. „Sie ist keine Engländerin, wie du gesagt hast. Aber sie gehört zu ihnen, und der Seewolf wird es nicht zulassen, daß wir sie umbringen. Wir können alles von ihm fordern – alles.“

„Bestimmt hat er Schätze an Bord“, sagte ein anderer. „Wenn er mit Erfolg gegen die Spanier kämpft, muß er ihnen einiges abgenommen haben.“

„Wir werden ihn töten und seine Schiffe plündern“, erwiderte Brian O’Lear. „Das schwöre ich euch.“

Severa lag etwas abseits der Versammlung und war bereits wieder voll bei Sinnen. Gleich nachdem O’Lear sie auf die Planken gelegt hatte, war sie zu sich gekommen. Jetzt vernahm sie, wie der wüste Ire seinen Kerlen alle Einzelheiten des Planes auseinandersetzte. Darauf wartete sie nur noch.

Als er am Ende angelangt war, sprang sie auf. Sie lief zum Backbordschanzkleid. Sie bewegte sich – trotz ihrer Benommenheit – leichtfüßig wie eine Gazelle. Sogar dem Seewolf war sie auf der Insel fast davongerannt, als sie ihre erste Begegnung gehabt hatten.

„Haltet sie!“ schrie O’Lear.

„Das Weibsstück darf nicht entwischen!“ brüllte Coleman.

Fluchend warfen die Piraten sich herum. Sie hetzten Severa nach, aber sie befand sich in diesem Augenblick bereits dicht vor dem Schanzkleid. Zwei Sätze noch, dann ein Sprung, und sie konnte sich über die breite Handleiste stürzen.

Aber jäh senkte sich ein großer Schatten auf sie.

Sie spürte ihn mehr über sich, als daß sie ihn fallen sah. Ausweichen konnte sie nicht mehr. Sie versuchte es, doch der Schatten, der die Form eines Mannes hatte, landete auf ihr und warf sie auf das Deck. Sie schrie auf. Unter der Wucht des Aufpralls glaubte sie zerquetscht zu werden. Brennender Schmerz durchfuhr ihren Körper.

„Auskneifen wolltest du, wie?“ schrillte eine Stimme über ihr. „Aber du hast die Rechnung ohne Fatboy gemacht.“

Der Mann war so beleibt, wie sein Name besagte. Er kniete über ihr und hielt sie fest. Sie konnte nicht einmal den Kopf wenden und in sein Gesicht sehen.

Die ganze Zeit über hatte er wie ein dickes Faultier in den Hauptwanten der Backbordseite gehangen und gelauscht, was gesprochen worden war. Severa hatte ihn übersehen. Jetzt bezahlte sie dafür.

O’Lear trat zu ihnen und klopfte dem dicken Mann auf die Schulter. „Gut aufgepaßt, Fatboy. Du kriegst eine Extraration Rum. Laß das Weibsbild jetzt los, ich will mich mit ihr unterhalten.“

Fatboy erhob sich und wich grinsend zur Seite. O’Lear bückte sich, packte Severa am Arm und riß sie zu sich hoch. Zweimal klatschte seine Hand in ihr Gesicht. Sie taumelte zurück, stieß mit den Waden gegen den Rand der Kuhlgräting und verlor das Gleichgewicht. Mit einem gequälten Laut sank sie auf die Gräting.

O’Lear war wieder bei ihr und hielt sie mit einer Hand fest.

„Du Luder“, sagte er. „Dachtest du wirklich, du könntest dich noch retten? An Land schwimmen wolltest du, wie? Das schaffst du nicht, nie und nimmer. Ich halte dich fest und tu mit dir, was ich will. Bald brauche ich dich nicht mehr als Faustpfand, bald benutze ich dich nur noch als Mätresse.“

„Lieber sterbe ich“, stieß sie hervor.

Er lachte wild, riß sie wieder hoch und schleuderte sie auf Coleman zu. „Sperrt sie in eine Kammer! Sorgt dafür, daß sie nicht ausrücken kann. Ich befasse mich später mit ihr, jetzt ist keine Zeit dafür.“ Er senkte die Stimme etwas. „Und noch etwas. Glaubt nicht, daß ihr sie vernaschen könnt. Sie gehört mir.“

Coleman wandte sich an die Umstehenden. „Habt ihr gehört? Denkt daran.“

„Natürlich“, entgegnete Fatboy. „Wir sind doch nicht lebensmüde.“

Die „Isabella“ verließ die Ankerbucht und nahm östlichen Kurs.

Dicht hinter ihr schob sich der schwarze Segler dahin. Sie gingen platt vor den Westwind und wirkten mit ihrem prall geblähten Vollzeug wie große, wütende Schwäne.

Hasard suchte kurz das Achterkastell auf, um sich weitere Waffen zuzustecken. Er bezweifelte nicht, daß O’Lears kompletter Schiffsverband vor dem Nordufer der Insel lag. Weiter nahm er an, daß sich die Piraten nach Westen wenden würden – erstens wegen der Windverhältnisse, zweitens, weil dort, irgendwo auf einer der rund zweihundert Inseln des Archipels, nach Euzko und Severa Guerazis Angaben das Versteck der Schufte lag.

Sie würden sich also treffen, und es mußte zur Auseinandersetzung kommen. Wenn O’Lear Severa auch als Geisel benutzte und sie zu töten drohte, Hasard würde versuchen, seine Galeone „Black Eagle“ zu entern. Irgendwie. Vielleicht mit einem Boot, vielleicht schwimmend. Er mußte es schaffen.

Hasard wollte sich ein Entermesser holen, das er zusätzlich zu seinem Degen am Körper tragen konnte. Und zusätzlich zu der doppelläufigen Reiterpistole in seinem Gurt brauchte er eine zweite Pistole. In seiner Kammer befand sich ein kleines Arsenal, er brauchte nur die passenden Stücke auszuwählen.

Er öffnete die Tür und trat in seine Kammer. Und genau in diesem Augenblick nahm er ein winziges Geräusch wahr. Ein feines Schaben, kaum erwähnenswert. Und doch, es gehörte nicht zu den typischen Lauten auf der „Isabella“. Ein Mann, der sein Schiff kannte wie der Seewolf und überdies scharfe Sinne und einen geschulten Verstand hatte, mußte mißtrauisch werden.

Hasard ließ die Türklinke nicht los. Er verhielt, lehnte sich nach rechts und rammte die Tür mit voller Wucht gegen die Innenwand der Kammer. Nur gelangte sie nicht ganz bis dorthin. Sie traf schon vorher auf Widerstand, und der Widerstand gab einen unterdrückten Wehlaut von sich.

Hasard warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Diesmal glaubte er ein Knacken zu vernehmen – und ein verzweifeltes Ächzen.

Er wich wieder zurück. Die Tür schwang vor, als pendele sie in ihren Rahmen zurück, blieb dann aber doch auf halber Strecke stehen. Der Kerl, der sich hinter ihr versteckt hatte, wurde sichtbar.

Er war schlank, muskulös und schien rotblonde Haare zu haben, soweit sich das im hereinschimmernden Mondlicht feststellen ließ. Er neigte sich langsam mit Kopf und Oberkörper vor, dann kippte er der Länge nach Hasard entgegen.

Hasard rückte zur Seite.

Fast fiel der Kerl auf Euzko Guerazis aufgebahrten Leichnam. Nur ganz knapp neben ihm landete er mit dumpfem Laut auf dem Bauch, Hasard empfand die Szene als makaber und der Ruhe des toten Waljägers nicht würdig.

Langsam zog er den Toten zur rechten Kammerwand. Anschließend ging er zu dem Bewußtlosen.

Er hatte ihn fast zerquetscht und so hart mit der Tür getroffen, daß ihm die Sinne geschwunden waren. Da lag er nun vor ihm, pitschnaß, in Lumpenkleidung gehüllt, ein verwahrloster Galgenstrick. O’Lears Mordgeselle. Zu wem sollte er wohl sonst gehören?

Hasard bückte sich. Er wollte ihn entwaffnen und dann nach oben schleppen. Die Vorpiek war das richtige Gemach für einen gescheiterten Mörder, dort konnte er sich am stinkenden Bilgewasser erfreuen und Freundschaft mit den Ratten schließen.

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