Seewölfe - Piraten der Weltmeere 164

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 164
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-488-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Florinda Martinez Barrero konnte nicht schlafen. Sie kauerte in dem niedrigen, fensterlosen Schiffsraum – er wurde, wie sie sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrief, das Kabelgatt genannt – und hielt ihre Beine, die sie dicht an den Leib herangezogen hatte, mit den Armen umschlungen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte bedrückt, daß zwischen einem stickigen, düsteren Versteck wie diesem und einem richtigen Verlies tief unten im Kellergewölbe eines Gemäuers kein großer Unterschied bestehen konnte.

Tagsüber vermochte sie es hier unten einigermaßen auszuhalten. Dann drang etwas Licht durch die Ritzen des Schotts und an Oberdeck hantierten und lachten die Männer. Manchmal konnte sie die Stimme von Andrés heraushören. Allein ihr Klang erfüllte sie mit Freude und Zuversicht.

Die Nacht kündigte sich indessen, wie jetzt, mit dem Abebben der Geräusche an Deck an. Wenn die Finsternis wie eine große schwarze Spinne durch das Schiff kroch, fühlte sich Florinda von Schwermut, ja, von Verzweiflung befallen.

So stellten sich die dumpfen, drohenden Gedanken ein, alle jene seltsamen und bedenklichen Fragen, wie sie nur die Dunkelheit und das Alleinsein hervorrufen können. Florinda kämpfte gegen die deprimierenden Gefühle an und versuchte, sich zu bezwingen, unterlag aber immer wieder. Es war, als wollten die Geister der Nacht und der schier endlosen See sich an ihr rächen für das, was sie getan hatte.

So hatte sie nur selten geschlafen, seit sie Cadiz verlassen hatten. Entsprechend war es um ihren Gemütszustand bestellt. Sie erzählte Andrés, der jede unbeobachtete Minute wahrnahm, um sie zu besuchen, jedoch kaum etwas davon, denn sie wollte ihm die Sache nicht noch schwerer machen, als sie ohnehin schon war.

Andrés – seinetwegen hatte sie es getan. Aus Liebe zu ihm hatte sie den elterlichen Hof heimlich verlassen und war durchgebrannt, wie man sagte. Was sie für ihn empfand, mußte echte Liebe sein, denn sonst hätte sie es niemals auch nur bis hierher durchgehalten, soviel war ihr klar.

Ein neunzehnjähriges Mädchen an Bord eines Schiffes, als „blinder Passagier“ unter einer Meute von rauhen Männern – das war ungeheuerlich und verwegen zugleich. Aber es war auch weitaus weniger abenteuerlich und romantisch, als Florinda es sich daheim ausgemalt hatte. Mittlerweile hatte sie Furcht vor ihrer eigenen Courage bekommen.

Sie preßte die Lippen zusammen.

Durchhalten, sagte sie sich, du mußt durchhalten, um jeden Preis! Nur jetzt nicht verrückt spielen!

Das Knarren und Knacken im Schiffsleib war allgegenwärtig, das Rauschen des Wassers nahm sich bei Nacht überlaut aus. Irgendwo raschelte und knirschte es, und Florinda fragte sich voll Entsetzen, ob das wieder eine Ratte sei – wie jene, die gestern oder vorgestern durch das Kabelgatt gehuscht war.

Ratten greifen auch erwachsene Menschen an, dachte sie.

Du bist albern, sagte sie sich dann.

Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Die wievielte Nacht war dies nun? Sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen und konnte sie nur noch schätzen. Eine Woche mochte seit dem Auslaufen aus dem Hafen von Cadiz vergangen sein, vielleicht waren es auch anderthalb Wochen – oder gar schon zwei?

Wie viele Wochen noch, um die Neue Welt, diesen rätselhaften, faszinierenden Kontinent, zu erreichen? Viele Wochen. Zwei oder drei Monate. Manchmal konnten auch vier daraus werden, je nach Wetterlage. Andrés hatte es ihr gesagt, damit sie sich mit entsprechender Geduld für die Reise wappnete.

Er hatte ihr auch Einzelheiten über den Kurs des Schiffes, der „Gran Duque de Almeria“, mitgeteilt, wenn sie sich im Kabelgatt heimlich getroffen hatten, aber sie, Florinda, konnte sich der meisten Details nicht mehr entsinnen, weil ihr die erdkundlichen und nautischen Begriffe zu fremd waren.

Nur eins hatte sie behalten: daß die Galeone in dieser Nacht die Azoren passierte.

Florinda sehnte den Augenblick herbei, in dem Andrés zu ihr in das unbequeme Versteck schlüpfen würde, um ihr mitzuteilen: „Die Neue Welt ist in Sicht!“

Daran richtete sie sich innerlich auf. Es war ihre einzige seelische Hilfe. Die Hoffnung war ein großer weißer Schwan, der vor der „Gran Duque“ dahinrauschte und zielsicher auf die Küsten der Zukunft zustrebte.

Florinda überlegte, ob sie die Apfelsine essen solle, die sie sich aufbewahrt hatte, ganz einfach nur, um etwas zu tun. Sie gelangte aber zu dem Schluß, daß das Obst dazu viel zu wertvoll war. Die letzte andalusische Apfelsine, die sie mit an Bord des Schiffes genommen hatte – Florinda wollte sie doch lieber so lange wie möglich aufbewahren. Sie wußte ja nicht, wieviel Zeit noch verstreichen würde, bis sie wieder so etwas zu essen erhielt.

Die Verpflegung an Bord der Galeone bestand größtenteils aus Dörrfleisch und hartem Schiffszwieback. Andrés, der in unregelmäßigen Zeitabständen erschien und nie genau sagen konnte, wann er zurückkehrte, brachte stets etwas davon mit. Sie wußte, er sparte sich diese Bissen im wahrsten Sinne des Wortes vom Mund ab, denn sie waren Bestandteil der Mahlzeiten, die er täglich wie alle anderen als Ration empfing.

Sie war ihm unendlich dankbar und himmelte ihn an. Wie er sie in Cadiz an Bord geschmuggelt hatte – allein das war ein Meisterstück gewesen. Wie rührend er um ihr Wohlergehen bemüht war und wie er sie verehrte! Sie würde ihm seinen Mut und sein aufopferndes Verhalten nie vergessen. Sie wußte, daß er sein Leben riskierte. Die Strafen für ein Mannschaftsmitglied, das einem blinden Passagier eines Segelschiffes half, waren drakonisch. Sie hörte nicht auf, es sich vor Augen zu halten.

Aber bei allem, was sie für Andrés Nortes de Checa empfand, würde sie sich an dieses Gefängnis nie gewöhnen können. Der unerlaubte Aufenthalt an Bord war für sie gleichsam ein Schlüsselerlebnis. Sie würde dieses Schiff und die ganze Seefahrt immer hassen und niemals vertraut werden, mit diesen schwankenden Bewegungen und der Übelkeit, die sie hervorriefen, mit dem Knarren der Blöcke und Rahen, dem Schwappen und Gurgeln der Fluten an den Bordwänden. Sie war für dieses Leben nicht geboren. Auch in einer gemütlichen Kammer des Achterkastells stellte sie sich eine solche Überfahrt kaum erfreulicher vor.

Aber welche andere Wahl hätte sie gehabt? Ihre Eltern hatten ihr den Umgang mit Andrés, dem Abkömmling eines verarmten Adelsgeschlechts aus Algeciras, strikt verboten.

„Dieser Hidalgo!“ hatte ihr Vater gerufen. „Dieser Nichtsnutz, dieser andalusische Schweinehirt! Er kann dir keine Zukunft bieten, er wird dich nur noch auf die schiefe Bahn bringen!“

Ja, es stimmte: Andrés hatte wirklich keinen einzigen Escudo oder Real in der Tasche gehabt, als sie ihren Plan geschmiedet hatten. Das hatte ihn aber nicht seiner Tollkühnheit beraubt. Wenn er selbst kein Schiff in die Neue Welt ausrüsten konnte, so heuerte er eben irgendwo als kleiner, unbedeutender Decksmann an – auf der „Gran Duque de Almeria“ beispielsweise. In der Neuen Welt Amerika musterte er dann wieder ab und ging seine eigenen Wege.

Auf legale Weise hätte er Florinda niemals mitnehmen können, auch dann nicht, wenn sie verheiratet gewesen wären. Die Anwesenheit von Frauen auf einem Kauffahrteifahrer wie diesem war eine Ungesetzlichkeit. „Weibsbilder“ hatten hier nichts zu suchen. Nicht einmal der Kapitän durfte seine Frau während der Überfahrt im Achterkastell einquartieren. Sie hatte gefälligst zu Hause zu bleiben.

Nur hin und wieder wurde ein Konvoi mit Siedlern in die Neue Welt geschickt. Auf den Schiffen dieser Geleitzüge befanden sich Männer, Frauen und Kinder, die das spanisch-portugiesische Kolonialreich mit ausbauen sollten. Aber Florindas Vater hätte es zu verhindern gewußt, daß sich seine Tochter an Bord eines solchen Seglers begab. Die Ausreise aus Spanien hatte nur heimlich geschehen können, es war der einzige Weg gewesen.

Florinda hob den Kopf.

Schritte näherten sich dem Kabelgatt, langsame, etwas schlurfende Schritte. Gelbliches dämmriges Licht drang durch die Ritzen des Schotts. Jemand näherte sich mit einer Öllampe und verhielt direkt vor dem Schott.

Florinda wollte den Namen ihres Geliebten aussprechen, bremste sich aber im letzten Moment. Diese Schritte, diese schleppende Gangart! Unmöglich konnte es sich um Andrés handeln, es sei denn, er wollte ihr einen Streich spielen.

Florinda wartete nicht, bis der Besucher mit der Lampe das Schott aufgeriegelt hatte. Sie erhob sich, schlich durch das Dunkel, tastete sich an Taurollen und zusammengelegten Tampen vorbei und über sie hinweg und erreichte eine große Seekiste, in der nach Auskunft von Andrés Belegnägel, Marlspieker, Blöcke und anderes Rüst- und Handwerkszeug der Besatzung verstaut waren. Das Mädchen hockte sich hinter die Kiste, mit dem Rükken zur Wand.

 

Sie hielt den Atem an, als aufgeriegelt wurde und das Schott sich knarrend öffnete. Im Lichtschein der Öllampe erschienen die Gestalt und das Gesicht eines Mannes. Florinda spähte nur kurz über den Kistendekkel, dann zog sie den Kopf wieder ein. Sie hatte genug gesehen. Der Besucher war nicht Andrés, sondern nach den Beschreibungen, die er ihr von den wichtigsten Besatzungsmitgliedern gegeben hatte, der Waffenmeister des Schiffes – Luis Benavente.

Was hatte der in dem Kabelgatt zu suchen?

Andrés hatte Florinda ausdrücklich versichert, daß die Männer der „Gran Duque“ das Kabelgatt höchst selten, wahrscheinlich niemals während ihrer Reise aufsuchen würden. Hier lagen sämtliche Verholtrossen und das nicht im Gebrauch befindliche Tauwerk. Es mußte schon ein schweres Wetter über das Schiff hereinbrechen, bei dem etwas von dem laufenden und stehenden Gut beschädigt wurde und man folglich Materialnachschub benötigte. Glücklicherweise war dies bisher nicht der Fall gewesen. Auch mit einem Gefecht, bei dem die Galeone ramponiert werden konnte, war nach Andrés optimistischen Aussagen „absolut nicht zu rechnen“, da die „Gran Duque“ keine wertvolle Ladung führte und daher kein „Fressen“ für Piraten war. Solange oben auf Deck keine Ausbesserungsarbeiten nötig waren, brauchte man also nicht ins Kabelgatt hinunterzusteigen, soviel stand fest.

Was wollte dann dieser Luis Benavente?

Der Waffenmeister war ein großer, schwerer Mann mit breiten Schultern und derben Zügen. Er hielt die Lampe am ausgestreckten Arm vor sich hin, drückte mit der anderen Hand das Schott zu und sah sich aufmerksam um.

Florinda Martinez Barrero hockte wie paralysiert hinter der Seekiste. Sie hatte vorsichtig Luft geschöpft, als Benavente das Schott hinter sich geschlossen hatte. Jetzt, in der Stille, die nur von einem leichten Knarren und Plätschern unterbrochen wurde, hielt sie von neuem den Atem an.

Luis Benavente tat noch einen langen Schritt und stand nun in der Mitte des Raumes. Sein Gesichtsausdruck war halb verkniffen, halb verschlagen. Er hielt auf eine Weise Umschau, die das Mädchen schier zur Verzweiflung brachte. Wieder hatte sie seinen Kopf über den Dekkel der Kiste hinweg sehen können – und eigentlich wunderte es sie, daß er sie noch nicht entdeckt hatte.

Die Öllampe schien ihn ein wenig zu blenden. Anders konnte sie es sich jedenfalls nicht erklären.

„Komm ’raus!“ sagte er plötzlich.

Sie fühlte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Ihre schlimmste Ahnung war zur Gewißheit geworden. Benavente war nicht aus purem Zufall hier aufgetaucht. Irgendwie mußte er etwas in Erfahrung gebracht haben – oder der Kapitän José Manuel Ramos selbst hatte Andrés’ Geheimnis aufgedeckt und schickte nun einen seiner Männer, um nach dem Rechten sehen zu lassen.

Aus war der Traum von der Neuen Welt und der großen Freiheit.

„Komm ’raus“, wiederholte Benavente, der Waffenmeister. „Ich weiß, daß du hier bist. Du erleichterst mir die ganze Sache, wenn du jetzt aus deiner Dekkung hervorkriechst. Ich erspare mir das Herumsuchen – und du beweist, daß du klug genug bist, das Spielchen nicht auf die Spitze zu treiben.“

Florinda rührte sich nicht vom Fleck. Sie hütete sich auch, ihm eine Antwort zu geben.

„Ich weiß alles“, fuhr Benavente in dumpfem Tonfall fort. „Ich habe Andrés mehrmals beobachtet, wie er hierher schlich. Er dachte, daß seine Kameraden schliefen, aber da hat er sich getäuscht. Ich hab ein waches Auge auf ihn gehabt. Ich habe auch mal seine Sachen durchsucht, die er im Mannschaftslogis aufgehängt hatte. Prompt habe ich ein besticktes Seidentuch gefunden, mit dem Buchstaben ‚F‘ darauf. Da frage ich mich, was hat das wohl zu bedeuten, daß ein Kerl wie dieser Andrés mit einem verzierten Weibertuch durch das Schiff rennt …“

Er hielt mit dem Sprechen inne und holte tief Luft. Florinda spürte, wie sie am ganzen Leib zu zittern begann.

„Der blinde Passagier, den der gute Andrés hier versteckt hält, muß ein Frauenzimmer sein“, erklärte der Waffenmeister. „Anders kann es gar nicht sein. Mir ist nämlich auch bekannt, daß Andrés so ein Taschentuch noch nicht besaß, als er an Bord unseres Schiffes erschien. Der Zuchtmeister hat eine Liste sämtlicher Habseligkeiten aller Besatzungsmitglieder aufgestellt – daher weiß ich’s. Was sagst du jetzt, Mädchen?“

Florinda spürte eine beginnende Ohnmacht von sich Besitz ergreifen. Um sie herum begann sich alles zu drehen.

„Zeig dich und sei ein bißchen nett zu dem alten Luis“, sagte Benavente. „Dann verrate ich weder dem Kapitän noch sonst jemandem auf diesem lausigen Kahn, daß du hier untergeschlüpft bist. Also, mehr kannst du von mir wirklich nicht verlangen. Na los, nun komm schon, zier dich nicht so …“

Als sie immer noch keine Anstalten traf, seine Aufforderung zu befolgen, fing er an zu fluchen und schritt mit der schwankenden Lampe im Kabelgatt auf und ab. Er bediente sich der übelsten, lästerlichsten Ausdrücke.

Florinda bezwang das Gefühl der Ohnmacht. Sie blickte wieder über den Kistendeckel und erhob sich, sobald der große Mann ihr den Rücken zugewandt hielt. Auf unsicheren, wankenden Beinen umrundete sie die Kiste, lief zum Schott und streckte schon die Hände aus, um es aufzuzerren – da fuhr Benavente zu ihr herum.

Er reagierte sofort und war geradezu unheimlich schnell zwischen ihr und dem Schott. Florinda konnte sich nicht mehr bremsen. Sie prallte mit ihm zusammen. Sie wollte an ihm vorbei, aber er packte mit der freien Hand zu und hielt sie brutal am Arm fest.

„So“, sagte er. „Türmen wolltest du also. Das ist aber gar nicht klug von dir.“

„Lassen Sie mich“, stammelte sie. „Ich flehe Sie an …“

„Eine Nase drehen wolltest du dem alten Luis, statt mal so richtig nett zu ihm zu sein“, sagte der Waffenmeister. „So was Törichtes aber auch. Ich habe dich ja gewarnt. Was man dem guten alten Luis nicht freiwillig gibt, das nimmt er sich mit Gewalt.“

Sie begann zu keuchen. „So haben Sie doch Erbarmen …“

Rasch stellte er die Öllampe auf dem Boden ab, hielt sie dabei jedoch unverändert hart in seinem Griff fest, so daß sie keine Chance hatte, ihm zu entwischen.

„Du solltest mich mit ‚Senor‘ anreden“, erwiderte er grinsend. „Das gehört sich einer Respektsperson gegenüber.“

„Senor“, flüsterte sie. „Ich tue alles, was Sie sagen, wenn Sie mich nur loslassen.“

Er richtete sich wieder auf und blickte sie an. „Herrgott, ich müßte ja schön blöd sein, wenn ich darauf eingehen würde. Schlag mir noch so etwas vor, und ich fange laut an zu lachen.“

„Ich schreie!“

„Schrei nur, es nützt dir ja doch nichts.“

Sie öffnete tatsächlich den Mund. Aber im selben Augenblick legte sich eine seiner derben Hände auf ihre Lippen, mit der Geschwindigkeit, mit der er ihr auch den Weg verstellt hatte. Er war ein flinker, brutaler, unheimlicher Kerl, dieser Benavente, und Florinda spürte jede Hoffnung schwinden, sie könne ihn durch eine List noch übertölpeln.

Die jäh aufkeimende Panik verlieh ihr Kräfte. Sie stemmte sich gegen den Griff des Waffenmeisters, rang mit ihm, trat um sich, versuchte, ihn zu beißen.

Er lachte, hielt ihr weiterhin den Mund zu und drängte sie auf eine der Taurollen zu.

Der Vorhang hatte sich über den Masten der „Isabella VIII.“ geschlossen, bevor die Dunkelheit eingesetzt hatte. Der Himmel war wolkenüberzogen. Der Seewolf und seine Männer hatten keine Möglichkeit, sich während der Nacht an den Gestirnen zu orientieren und den Kurs ihres Schiffes genau festzulegen.

Der Wind blies aus Norden und hatte die Wolken von irgendwoher, aus kälteren Gefilden, bis über den vierzigsten Breitengrad hinausgetragen. Die „Isabella“ segelte mit Steuerbordhalsen und auf Backbordbug liegend westlichen Kurs in verhältnismäßig ruhiger See. Ihr Bug teilte die Fluten wie eine Pflugschar, die hurtig durch flaches Marschland gleitet und schwere schwarze Schollen auseinanderwirft.

Hasard stand auf dem Achterdeck in der Nähe des Ruderhauses und warf zum wiederholten Mal einen argwöhnischen Blick zum Himmel.

„Vielleicht kriegen wir keinen Sturm“, sagte er zu Ben Brighton. „Aber eines ist sicher: der Wind drückt uns langsam immer weiter nach Südwesten. Dagegen können wir ohne einigermaßen klare Ortung nichts unternehmen.“

„Nach meinen letzten Berechnungen geraten wir somit in die Nähe der Azoren“, erwiderte Ben.

„Wir rauschen genau in die Gruppe hinein. Dabei wollte ich sie meiden. Ich habe vorgehabt, sie im Norden zu passieren. Die Azoren dienen uns bei der Überfahrt zwar als eine Art Wegmarke, aber ich wollte sie wegen des Zeitverlustes nicht direkt anlaufen.“

„Dazu besteht ja auch kein Grund. Proviant und Trinkwasser haben wir in Plymouth zur Genüge an Bord genommen“, sagte Ben Brighton. „Schätze scheint es auf den Inseln auch nicht zu geben, alles in allem machen sie einen ziemlich trostlosen Eindruck. Aber solange die Wolkendecke nicht aufreißt, bleibt uns wirklich nichts anderes übrig, als uns vom Zufall leiten zu lassen.“

Old O’Flynn war zu ihnen getreten und meinte nun: „Richtig, und dieser Zufall wirft uns garantiert genau zwischen die verdammten Azoren-Inseln, wie Hasard befürchtet. Paßt mal auf, was ich euch sage: Wir laufen diese Nacht noch auf Grund, wenn wir nicht höllisch achtgeben …“

„Ach, Unsinn“, ließ sich jetzt Big Old Shane vernehmen, der nicht weit von ihnen entfernt am Backbordschanzkleid des Achterdecks stand. „So viele Untiefen und Riffe gibt es bei den Azoren überhaupt nicht, Donegal, du alte Nuke. Hör bloß mit deinen Weissagungen auf, die kennen wir zur Genüge.“

„Ich habe noch gar nicht richtig damit angefangen“, versetzte der Alte grimmig.

Shane wollte ihm eine entsprechende Antwort geben, aber in diesem Augenblick meldete sich Bill, der Ausguck, mit einem Ruf aus dem Großmars.

„Sir! Es ist so dunkel geworden, daß ich kaum noch den Bugspriet unsrer ‚Isabella‘ sehen kann!“

„Da haben wir’s“, sagte Old O’Flynn. „Wenn wir diesen Törn so weitersegeln, brummen wir auf die erste Insel, die uns in die Quere gerät, geradewegs drauf. Jawohl, unser stolzes Schiff wird plötzlich auf dem Trockenen liegen wie ein gestrandeter Wal und in der Mitte auseinanderbrechen, ich schwör’s euch.“

„Paß auf, daß dir nicht das Holzbein bricht!“ rief Shane drohend.

„Wir nehmen Zeug weg“, sagte der Seewolf. „Die Fock, das Großsegel und das Kreuzsegel genügen uns vorläufig. Gary Andrews soll als zusätzlicher Ausguck in den Vormars aufentern. Zwei Mann beziehen Posten auf der Back und halten ebenfalls die Augen offen, damit sich Donegals Prophezeiungen nicht bewahrheiten. Ben, gib die Befehle bitte weiter.“

„Aye, Sir.“

„Zum Dienst auf der Back melde ich mich freiwillig“, sagte der alte O’Flynn. „Ich schätze, Dan wird mich dabei gern unterstützen. Dan, he, Dan, wo steckst du, zum Teufel?“

„Hier“, meldete sich sein Sohn aus dem Ruderhaus. Er hatte Rudergänger Pete Ballie Gesellschaft geleistet und so mithören können, was Hasard, Ben, Shane und sein Vater gesprochen hatten. Er trat ins Freie und meinte: „In Ordnung, Dad, dann schieben wir jetzt am besten gleich ab. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.“

Der Alte trat zu ihm. Mit einem Seitenblick auf Big Old Shane bemerkte er noch: „Ja. Keiner soll mir nachsagen, daß ich nur unke und nichts tue, um uns vor Verdruß zu bewahren.“ Damit schritt er von dannen und stieg den Backbordniedergang zum Quarterdeck so gewandt hinunter, als trüge er statt seiner Prothese ein richtiges, gesundes Bein. Dan folgte ihm.

Shane mußte grinsen. „Also, mit dieser letzten Bemerkung hat der alte Barsch mir doch tatsächlich den Wind aus den Segeln genommen. Sonst hätte ich ihm nämlich noch mal kräftig meine Meinung gesagt.“

Hasard hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war nach vorn an die Schmuckbalustrade getreten und beobachtete die schattenhaften Gestalten der Männer, die im Dunkel der Nacht über Deck huschten. Sie geiten die Marssegel und die Blinde auf, und Gary Andrews enterte auf Ben Brightons Anordnung hin als Fockmastgast in den Vormars auf.

Würde es in dieser Nacht Komplikationen geben? Hasard stellte darüber keine Überlegungen an. Auf See gab es keine gültige Vorausschau, an die man sich halten konnte, man mußte auf jede Art von Überraschung vorbereitet sein. Ein Korsar wußte nie, was vor ihm lag, von einer Minute auf die andere konnte sich das Unheil in vielfacher Weise einstellen. Die Erfahrung, die man zur Bewältigung haarsträubendster Situationen benötigte, schöpfte man aus den Ereignissen der Vergangenheit.

 

Plymouth lag jetzt weit hinter ihnen, und die Erinnerung an England und die Abenteuer im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die glorreichen, unüberwindliche Armada verblaßte allmählich. Blacky hatte ein „Andenken“ ganz besonderer Art mitgenommen: Ihm war zum Abschluß eine Kiste aufs Bein gefallen. Er hatte sich den Knöchel gebrochen, und kein anderer als Doc Freemont hatte diese komplizierte Fraktur behandeln müssen, sonst hätte Blacky wahrscheinlich den Rest seines Lebens lang jämmerlich gehinkt.

Blackys Blessur hatte eine Verzögerung verursacht – die „Le Vengeur“ unter Jean Ribault und Karl von Hutten hatte den Hafen von Plymouth eher als die „Isabella VIII.“ verlassen und befand sich auf anderem Kurs auf dem Weg zur Schlangen-Insel.

Die Schlangen-Insel war auch Hasards Ziel. Dort wollten er und seine Crew sich wieder mit den Männern der „Le Vengeur“ treffen, dort hofften sie auch Siri-Tong, dem Wikinger Thorfin Njal und Arkana, der Schlangen-Priesterin, zu begegnen.

Ging dieser Wunschtraum wirklich in Erfüllung?

Hasard verscheuchte die Gedanken daran, seine Aufmerksamkeit wurde jetzt durch die Erscheinung Edwin Carberrys gefesselt, der quer über die Kuhl marschierte, den Niedergang erklomm und ihm etwas unter die Nase hielt.

„Da, Sir“, sagte der Profos. „Nun sieh dir das an.“

„Das ist eine Radschloß-Pistole aus unserer Waffenkammer.“

„Stimmt, Sir.“

„Und was soll daran Besonderes sein?“

„Ich sage nur: Der Teufel soll die verdammten Lausebengel holen“, schnaubte Carberry.

Hasards Stirn furchte sich. „Soll das heißen, daß die Zwillinge mit dem Schießeisen gespielt haben?“

„Richtig, und ich habe sie dabei ertappt, diese ausgekochten Himmelhunde.“

Der Seewolf nahm die Waffe an sich und unterzog sie einer genauen Untersuchung. „Gott sei Dank ist sie nicht geladen, Ed …“

„Sir! Die Bengel hatten sich auch Pulver und Kugeln besorgt und waren gerade dabei, die Pistole ziemlich fachmännisch zu laden“, stieß der Profos entrüstet aus.

„Wie war das, Ed?“

„Äh – ziemlich fachmännisch, sagte ich wohl.“

„Ja. Wer hat den Burschen das bloß beigebracht?“

„Keine Ahnung, Sir. Aber ich bin sicher, das Unglück gerade noch verhindert zu haben“, sagte Carberry. „Der eine hätte den anderen glatt über den Haufen geschossen, wenn das mit dem Laden geklappt hätte.“

„Und wieso hast du mir nun Meldung erstattet, statt ihnen gleich an Ort und Stelle gehörig den Hintern zu versohlen?“ erkundigte sich Hasard.

Carberry räusperte sich. „Sir, ich, äh – also, ich in meiner Funktion als Profos auf diesem Schiff sah es als meine verdammte Pflicht an, dich zu unterrichten, damit du deinen Söhnen mal wieder ordentlich den Marsch bläst. Wenn das von dir kommt, hat es mehr Gewicht, nicht wahr?“

Hasard lächelte. „Sei doch ehrlich, Ed. Du bringst es einfach nicht fertig, die Bürschchen übers Knie zu legen. Sie erzählen dauernd, was für ein Mordskerl und Draufgänger der Profos sei, und da schwillt dir die Brust vor Stolz, gib es doch zu.“

„Wer, ich? Ich war immer dagegen, diese Kleinkinder mit unsrer alten Lady durch die Gegend zu schippern, so wahr ich hier stehe!“

„Ja, aber jetzt hast du einen Narren an ihnen gefressen und weißt nicht, wie du sie zurechtstauchen sollst.“

Carberrys Gestalt straffte sich. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. „Sir, ich befürchte ganz einfach, ich bringe diese Rübenschweinchen glattweg um, wenn ich sie mal richtig verwichse. Das ist es.“

„Gut, das akzeptiere ich“, erwiderte Hasard mit todernster Miene. „Gehen wir jetzt. Ich knöpfe mir die beiden vor und mache ihnen klar, daß sie nicht mit Waffen herumzuhantieren haben. Weißt du was, Ed? Wir zeigen ihnen mal kurz das Kabelgatt, damit sie einen nachhaltigen Eindruck von dem kriegen, was ihnen bei Unbotmäßigkeit passieren könnte.“

„Eine gute Idee“, pflichtete Carberry sofort bei.

Die „Bengel“ und „Rübenschweinchen“ und „Lauselümmel“, wie der Profos sie zu nennen pflegte, hießen mit ihren richtigen Namen Philip und Hasard. Sie, die Söhne des Seewolfs, waren seit Plymouth wieder an Bord der „Isabella“, und der Seewolf war sich dessen bewußt, daß er sie erst noch wieder richtig „zurechtbiegen“ mußte. Tapfer waren die Zwillinge, das hatten sie bewiesen, und sie hatten auch das Zeug zu richtigen Teerjacken und Korsaren – nicht zuletzt deshalb hatte Hasard sich entschieden, sie mit auf die große Reise zu nehmen.

Aber sie mußten sich der Disziplin, die an Bord der „Isabella“ herrschte, von neuem unterordnen, voll und ganz. In den Tagen, die sie bei Doc Freemont verbracht hatten, hatten sie vielleicht etwas vergessen, daß sie innerhalb der Crew keinerlei Privilegien genossen und keine Extratouren reiten durften.

Jeder Mann an Bord mochte sie und kümmerte sich um sie, aber das durften die Zwillinge nicht ausnutzen. Sonst gab es Ärger. Hasard war in dieser Hinsicht unerbittlich.

Vater sein ist gar nicht so einfach, dachte er.

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