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Ron Müller



Vernarbt





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Prolog







Teil I







Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







Teil II







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Kapitel 22







Kapitel 23







Kapitel 24







Kapitel 25







Kapitel 26







Kapitel 27







Kapitel 28







Kapitel 29







Kapitel 30







Kapitel 31







Kapitel 32







Kapitel 33







Kapitel 34







Kapitel 35







Teil III







Kapitel 36







Kapitel 37







Widmung







Leseprobe »Zwillingsparadoxon«







Impressum neobooks







Prolog




Er schlug die Frau, die überall war - deren Teil ich war. Also schlug er auch mich. Und dabei wusste ich nicht einmal, was Schläge waren. Ich nahm nur die Angst auf. Sie drängte sich in ihr Blut und fraß sich durch die Nabelschnur zu mir. Es musste furchtbar sein da draußen.



Ich wollte in ihrem Bauch bleiben, ihren Herzschlag direkt über mir.



»Hast du wieder getrunken?«, fühlte ich sie mehr fragen, als ich sie hörte. Für die Hälfte einer Sekunde war es still.



Er log. Das tat er immer, wenn er nicht sofort antwortete. Es fehlte nicht mehr viel, bis sie beschließen würde, ihn nicht wieder zu sehen. Zu spät für ihr eigenes Heil aber rechtzeitig, damit ich ihn nie zu Gesicht bekommen musste. Dieses gute Haar sollte ich an ihr lassen.



Sämtliche ihrer Gedanken waren in meinem Kopf, nur, dass ich sie nicht verstand. Ich spürte aber jedes der Gefühle, das an den Gedanken haftete. Das reichte, ihr nah zu sein – der, die überall war.



Immer wenn es einen ihrer kranken Momente gab, durchfuhr dieser sie, wie auch mich. Ich war ein Auslöser und gleichzeitig ein Grund, der sie durchhalten und alles ertragen ließ.



Manchmal wachte ich auf und war inmitten der Einsamkeit, die diejenige begleitete, die um mich war. Ich konnte mich davon schließlich nicht lossagen und trug dieselben Empfindungen. Mir war, als hätte ich einen Teil der Schuld, weil ich alles mitbekam und nichts tat.



Mein Glück war, dass all die Erinnerungen, die keine Erinnerungen, sondern nur geteilte Gemütszustände waren, irgendwann verloren gehen würden. Dann, wenn ich selbst sehen könnte. Es fehlten nur noch Wochen.



Mein Unglück war, dass ich alles bereits aufgesogen hatte. Ich sollte vor allen anderen wissen, was Angst war, weil ich ihr begegnete, bevor ich sie ertragen konnte. Sie sorgte dafür, dass umso mehr Dinge später in meinem Leben wiederum in Angst enden würden. Doch wir konnten das nicht ändern - weder ich, noch die, auf deren Liebe ich hoffte.






Sie lebte für mich

, wird sie mir eines Tages sagen wollen – dann, wenn ich längst vergessen habe, dass ich genau das spürte, schon solange, wie ich in ihr war; solange, wie ich wusste, dass alles in ihrem Bauch nicht schwarz, sondern zinnoberrot war.





Teil I




»Zinnoberrot«





Kapitel 1




Als die Hebamme kam, war auch der Tod bei uns. Am liebsten hätte er mich gefressen, aber das warme Blut in mir ließ ihn mich nicht einmal berühren. Stattdessen warf er ein Auge auf meine Mutter. Etwas in ihr war gerissen, als sie mich gebar. Sie hätte nicht geschmeckt. Wir schmecken ihm alle nicht, wenn wir alt werden oder kraftlos sind. Aber meistens ist ihm der Geschmack egal, er nimmt die Menschen trotzdem mit, wenn ihm danach ist.



Am Tag meiner Geburt war ihm nicht danach.





Es gab wenig, dass mir von meinen ersten Monaten erzählt wurde. Eigentlich nur, dass ich ein Mädchen war, welches schnell lernte, wie wenig Sinn es hatte, lange zu schreien. Gewiss hätte ich mich anders entwickelt, wenn auf mein Brüllen immer jemand an mein Bett gekommen wäre, aber Mutter ging es nicht gut zu dieser Zeit. Man sagte mir später, sie sei oft nicht Herr ihrer Sinne gewesen und, dass sie der Jähzorn packte.



Ich war elf Jahre alt, als ich erstmals verstand, was die Leute damit meinten.




*




Es hatte sich die Nacht über eingeregnet. In der kleinen Stube bildete sich eine nasse Stelle an der Decke, welche sich ausbreitete, je länger es schüttete. An ihr löste sich der Putz. Man sah ihn nie herunter rieseln. Ich fand nur in regelmäßigen Abständen sandige Krümel auf dem Bett. Als die Stückchen größer wurden, verließ der stockende Geruch die Wohnung immer seltener. Damit gab es noch etwas, dass mich anekelte. Als ob der mit Efeu zugewucherte Giebel nicht schon reichte. Die Spinnen, die er beherbergte, ließen es mir kalt über den Rücken laufen. Sie krochen durch geöffnete Fenster in die Ecken der Räume, fraßen sich dort fett und warteten. Sobald ich eine in der kleinen Stube entdeckte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Was, wenn sie in der Nacht auf mich drauf oder mir in Nase kroch? Ich hatte gesehen, wie schnell sie laufen konnten. Nicht gerade die Weberknechte, aber die Kreuzspinnen und die kleinen Schwarzen.



Wenn ich - was selten genug vorkam - all meinen Mut zusammennahm, um eine von denen zu erschlagen, und sie unglücklicherweise nicht traf, dann krabbelte sie mit solcher Geschwindigkeit in die nächste Ritze, dass mir vor Schreck beinahe das Herz stehenblieb. Es setzte dann jegliche Vernunft aus. Ich musste schreiend aus dem Raum rennen, die Tür verrammeln und mit den Händen die Schultern und meine dünnen Arme abklopfen, um sie loszuwerden, falls sie doch auf mich gesprungen war. Die Stube betrat ich erst wieder, wenn die Spinne erschlagen und alles nach weiteren Tieren abgesucht war. Mutter tat mir selten diesen Gefallen, stattdessen wurde sie unwirsch und laut. »Mir hat früher auch keiner den Hintern gepudert«, fuhr sie mich bisweilen an, machte auf dem Absatz kehrt und gab mir zu verstehen, dass sie andere Sorgen hätte. Sie konnte sich nicht darum kümmern, wo ich schlief.



Das hielt ich aus. Notfalls verbrachte ich die Nacht auch auf dem Küchenboden - Hauptsache, ich wäre diesen ekelhaften Kreaturen nicht ausgeliefert. Am liebsten hätte ich den ganzen Sommer über nicht ein Fenster geöffnet, aber bei der Hitze war es nicht auszuhalten und Mutter fürchtete sich nicht vor Spinnentieren. Ebenso wenig wie vor nassen Flecken an der Zimmerdecke.

 



An jenem Morgen bin ich von einer rauen Stimme wach geworden. Der Kesselschmied hatte in aller Frühe so lange vor dem Haus gerufen, bis Mutter ihm öffnete. Er erzählte etwas von einem Sturm, der das Dorf bald erreichte, und half ihr, die verzogenen Fensterläden zu verriegeln, deren rostige Scharniere seit dem Unwetter im November nicht mehr bewegt worden waren. Dann hetzte er weiter, zum nächsten Haus und hatte seine Not, über die immer größer werdenden Pfützen hinweg auf trockene Stellen des Weges zu springen.



Als ich die Treppe herunterstieg, wechselte Mutter ihr Kleid. Fünf Minuten vor der Tür hatten gereicht, es völlig zu durchnässen. Ich machte einen Fensterladen aus, an dem zwei Lamellen fehlten, und erschrak, wie tief dahinter der Himmel hing. Wie eine Wand stand das Unwetter über dem Wald und sammelte seine Kräfte. Doch noch war es nicht bei uns. Wir spürten erst den Wind, einen Vorboten - einen starken zwar, aber bislang keinen stürmischen. Er zog an den Ästen der Bäume und versuchte sie in eine Richtung zu biegen. Das gelang ihm nur bei den Trauerweiden. Sie standen schräg hinter dem Haus an einer Uferseite des Flusses, der Nachbars Mühlrad ununterbrochen antrieb. Nach jedem Winter spülte die Strömung die Wurzeln mehr und mehr aus, bis die Hälfte von ihnen frei im Wasser stakte. Mit jedem Sommer wurden die Ruten schwerer, tauchten tiefer in den Fluss und zogen die Weiden noch bedrohlicher zur Wasserseite. Ich war mir sicher, dass es eines Tages einen gewaltigen Windstoß geben würde, dem sie nicht mehr standhalten könnten.



Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat.

 Immer, wenn es um den Wind ging, kamen mir Sätze wie dieser in den Sinn. Sie waren Teil einer Geschichte. Als ich klein war, bildete ich mir ein, dass der Wind sie mir selbst erzählt hatte. Mit der Zeit konnte ich jedoch immer weniger daran glauben, dass es tatsächlich so gewesen sein soll. Merkwürdig war nur, dass mir auch Jahre später nicht ein Wort dieser Geschichte verloren ging






Ich fege durch ein Windrad, dessen Stiel in einem Beet steckt, verfange mich darin, reiße es mit, um in einen Laubhaufen einzutauchen und ihn in sämtliche Richtungen zu zerstreuen. Ich bin etwas, dass die Welt dem Stillstand entgegenzusetzen hat.







»Mit dem Stillstand folgt der Tod«, hatten alle gesagt, die wie ich waren, als ich jung war. Bin ich noch immer jung?







Als ich das Laub abschüttle, fahre ich einer Frau durch die Haare, umschmeichele ihren Hals. Sie ist weich, zart oder etwas dazwischen.







Angetrieben von Unruhe, die mein Wesen zu sein scheint, zieht es mich an den Stadtrand. Dort reiße ich Blumentöpfe von Fensterbrettern und stoße einen alten Mann um, aber das befriedigt meinen Zerstörungsdrang nur zu einem Bruchteil.







Plötzlich bewegen sich die Baumwipfel hinter der letzten Hausreihe. Ich bin nicht mehr allein.







Der, den ich entdeckt hatte, lässt mich aufbrausen und schlagartig über das Vielfache meiner Kraft verfügen. Diese Reaktion gibt es immer, wenn ich mit meinesgleichen aufeinandertreffe. Wir schlagen zusammen, um uns in unserer Wut der Stadt zu bemächtigen, und sie die Nacht über, mit Sturm und Unwetter zu füllen. Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat.








Ich ziehe weiter, ohne zu wissen, mit wem ich gerungen habe. Das weiß ich nie, denn wir sehen einander nicht - nur das, was wir bewegen oder zerstören. Wir sehen ja nicht einmal uns selbst. Vielleicht gibt es nur ganz wenige von uns und ich gerate immer mit demselben aneinander.








Dann erblicke ich sie erstmals, schaue ihr fasziniert zu. Wage mich nicht zu ihr und wünsche mich doch in ihre Nähe.







Sie ist ganz anders. Es muss samtig sein, sie zu berühren. Als sie auf mich zukommt, greift sie behutsamer in die Blätter, als ich es je könnte,



und legt ein fortwährendes Rascheln über sämtliche Geräusche



.







Wir sprechen nicht. Alles, was wir tun, tun wir leise. Wir werden langsamer, brauchen die Geschwindigkeit mit einem Mal nicht mehr. Ich tue das, was ich für Umarmen halte, und plötzlich stehen wir still.







Und lösen uns auf.






*




Das Ungetüm vor dem Haus war beängstigend. Es hatte sich zu einem Vielfachen des vorgeschickten Windes aufgetürmt und dessen Tosen in ein tiefes Grollen umschlagen lassen. Sobald es in der Richtung drehte, peitschte es den Regen gegen das Holz und ich sah nichts mehr durch meinen Spalt. Dann aber hörte ich Mutter, die etwas vor sich hin murmelte - wohl einen Psalm des Pastors. Immer dieselben Sätze, immer wieder und wieder. Es klang unheimlich. Ich wollte sie umarmen, das hätte mich beruhigt, aber es ging nicht, wenn sie so abwesend war. Das konnte sie dann nicht aushalten. Also tat ich das Gleiche wie sie und ordnete in den Schränken das Geschirr. Wir machten das nicht, weil es etwas mit dem Sturm zu tun hatte, sondern weil es Mutter beruhigte.



Um acht brach er über uns herein. Das Haus könnte ihm wohl standhalten, egal wie stark er am Dach zerren würde. Doch binnen Minuten befanden wir uns auch in Reichweite des Gewitters. Und Gewitter waren etwas viel Unheimlicheres als Wind oder Sturm. Ich sah, wie die Blitze in den Wald einschlugen und mir wurde himmelangst. Ich griff nach Mutters Händen, damit sie mit dem Räumen aufhörte, und klammerte mich daran fest.



»Fürchtest du dich auch?«



»Ich kann nicht«, sagte sie. Sie zog ihre Hände an sich und ging in der Küche auf und ab. Die Pupillen hielt es nicht lange auf einer Stelle des Raumes. Sie sprangen von einer zur nächsten. Das kannte ich von ihr. Dann fing es an, ihr schlechter zu gehen.



»Mutter?«



»Ich kann nicht!Ich kann nicht! Ich …« Sie sagte diesen Satz immer fort, bis sie bei der Tür war. Dort schrie sie: »ICH MUSS HIER RAUS!«, und schlug mit den Fäusten dagegen.



»Bleib bei mir!«



»Ich kann nicht!«, fauchte sie mich an und kam meinem Gesicht bedrohlich nahe. Plötzlich war das Gewitter egal und ich bemühte mich nur noch, nicht zu weinen, um ihr keinen Grund zu geben, böse auf mich, statt auf den Sturm zu sein.



Sie versuchte den Schlüssel der Haustür zu drehen, da klammerte ich mich an ihren Rock und zerrte sie zurück.



»Lass mich!«



»Du musst bei mir bleiben.«



Sie wurde feuerrot und schrie mir etwas entgegen, das ich nicht verstand.



»Du kannst nicht raus«, flehte ich und hielt sie so fest, wie ich konnte. Aber sie schlug mit den Armen um sich, traf mich mit dem Ellenbogen an der Schläfe und riss die Haustür auf. Eine Böe ergriff die Küche und warf tosend alles von den Schränken. Sie zog die Halterungen der Vorhänge aus den Wänden. Es war so laut, dass es unmöglich wurde, auch nur ein Wort zu verstehen. Ich versuchte noch, etwas von Mutter zu fassen zu bekommen, aber ich griff ins Leere.



Sie war bereits in den Sturm gelaufen.




Als man mich am Abend oberhalb der Treppe fand, stand das halbe Haus verwüstet unter Wasser. Doch das interessierte niemanden. Die Leute aus dem Dorf versuchten herauszufinden, was mit uns geschehen war, aber ich sprach nicht. Nicht ein Wort. Egal, auf welche Weise sie es anstellten. Es ging nicht. Sobald ich den Mund aufgemacht hätte, wären sie wie die Geier über mich hergefallen und hätten jede Einzelheit aus mir herausgepresst. Auch als sie Mutter am darauffolgenden Tag in bemitleidenswertem Zustand fanden und in eine Anstalt brachten, blieb ich still. Sie lebte. Das reichte den Leuten aus dem Dorf, um mit den Fragen aufzuhören.



Ich kann nicht sagen, wie es mir zu dieser Zeit ging. Was macht es auch für einen Unterschied, ob

furchtbar

 ausreichte oder

hundeelend

 es besser traf. Manchmal hält das Gedächtnis Erinnerungen einfach nicht exakt fest, wenn es sie nicht begreift. Ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass es half, dass mich in der folgenden Zeit mein Onkel Karl zu sich nahm. Eigentlich war er nicht mein Onkel. Meine Großeltern hatten ihn kurz nach der Geburt aufgenommen und zwischen Mutter und ihm keinen Unterschied gemacht.



Mutter fehlte seit Jahren der Kontakt zu Karl. Wahrscheinlich, weil die Großeltern ihm und nicht ihr, dem leiblichen Kind, das Haus vermacht hatten. Es war viel kleiner als das, in dem ich aufgewachsen war - neben der Küche nur zwei Zimmer, aber trotz alledem war bei Karl der Raum, den ich brauchte. Er redete oft mit mir, dann, wenn er über mein braunes Haar strich oder wenn ich ihm beim Kochen über die Schulter sah. Es war gut, ihn zu hören, weil er in der ersten Zeit nichts von sich gab, das einer Antwort bedurfte. Ich konnte mir wenig vorstellen, dass zwangloser, dass heilsamer war und ich weiß noch, wie ich nach einigen Tagen das erste Mal reden musste, weil ich es nicht mehr aushielt.




»Wenn du noch öfter in der Gegend herum tapst, verpasst du die Hälfte der Nacht«, sagte er lächelnd an einem Freitagabend, als ich durch den Flur wollte.



Es war halb elf und es trieb mich zum zweiten oder dritten Mal in die Küche, um etwas zu trinken. Karl sagte immer

tapsen

, weil meine Füße etwas nach innen gedreht waren und es manchmal unbeholfen aussah, wenn ich ging.



»Ich kann nicht schlafen«, antwortete ich zögernd, weil ich nur zu gut Mutters Reaktion kannte, wenn ich nach meiner Zeit noch herumgeisterte.



»Das hat meist einen Grund. Den sollten wir herausfinden, sonst klappt das mit dem Einschlafen selbst nach Mitternacht nicht«, sagte er auf eine Art, die mir fremd war, weil er so viel Ruhe ausstrahlte. Er ließ mich zu sich auf das Sofa. Als ich in den Kissen versank, merkte ich, dass er jung roch. Hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen und an diesem Abend nur gerochen, ich hätte gewusst, dass er nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte. Sonst wäre sein Duft viel herber und nicht so angenehm gewesen.



»Na?«, fragte er. »Was geht dir durch den Kopf?«



Ich merkte, wie mir mein Herzklopfen die Stimme nehmen wollte. Also ich platzte damit heraus, bevor es mir unmöglich wurde, darüber zu sprechen.



»Ich will nicht, dass mir die Haare ausfallen!«



»Warum sollen sie dir ausfallen?« Karl hatte nicht mit solch einer Antwort gerechnet. »Das passiert doch nur Männern und auch nur, wenn sie älter sind. Meistens zumindest.«



»Und was ist mit Schneiders Erika?«, fragte ich.



»Stimmt,« überlegte er. »Sie hat tatsächlich verflucht wenig Haare, aber bei Frauen geschieht das sehr selten.«



»Ich weiß, warum sie ihnen ausfallen.«



»Ach ja?«



»Sie fallen bei denen aus, die Furchtbares getan haben. Sie bekommen den Kahlkopf zur Strafe.«



»Wer sagt dir denn so etwas?«



»Glaub' mir. Bei manchen dauerte es zwar einige Jahre, aber es passiert bei jedem, der es verdient.«



»Wie kommst du darauf?« Er drückte mich an sich. »Und was ist, wenn ich dir verspreche, dass dem nicht so ist?«



»Siehst du«, sagte ich, »mein Kopf erklärt mir die Welt auch schon auf eine fremde Weise; genau wie Mutters Kopf.«



»Davor hast du Angst?«



»Ich will nicht verrückt werden.«



»Komm her.«



Er hielt mich so lange fest und sagte mir so oft, dass mein Kopf völlig in Ordnung sei, bis ich es glaubte. Zumindest eine Zeit lang.




*




Am Sonnabend wusste ich nachmittags mit mir nichts anzufangen und saß im Garten auf einem der Steine, die das Rosenbeet umschlossen. Dem Tag ging es ebenso wie mir, er schleppte sich ohne Höhepunkt vor sich hin. Wenigstens hatte er an Sonne gedacht. In einem orangefarbenen Ton stand sie über dem Dorf und hängte allem lange Schatten an.



Auf dem Weg lief eine Ameise. Sie krabbelte hektisch in eine Richtung, drehte dann wieder um und ging woanders hin, um wenig später ein ganz neues Ziel zu verfolgen. Eines vermochte sie wohl nicht – stehenzubleiben. Es machte keinen Sinn, nach einem System in ihren Bewegungen zu suchen, aber es musste eines geben. Irgendjemand sagte diesen kleinen Kerlchen, was sie zu tun hatten, anders passte das tägliche Tun von Tausenden ihrer Art nicht zueinander.



Ich schreckte auf, bevor ich mir darüber weiter Gedanken machen konnte. Hinter mir schabte etwas. Karl hatte angefangen, den Weg zur Gartentür zu harken. Ich stand auf und versuchte, ihm zur Hand gehen, indem ich das Unkraut aus einem Beet zog.

 



»Fräulein!«, sagte er in harschem Ton. »Was hast du bis eben gemacht?«



»Ich hab vor mich hingeschaut«, antwortete ich und suchte nach einer Rechtfertigung. »Ich wusste doch nicht, dass wir heute etwas im Garten zu tun haben«, stammelte ich das zu Ende, was mir auf die Schnelle einfiel.



»Gut, dann wirst du dich dort wieder auf den Stein setzen!«



Ich hatte keine Ahnung, warum er das wollte.



»SETZ DICH HIN!!« Seine Worte klangen härter, als er sie wiederholte.



Ich warf das Unkraut beiseite, klopfte mir die Erde von den Fingern und ließ mich wortlos nieder. Es fehlte nicht viel, dass ich geheult hätte. Ich kannte ihn nicht in diesem bestimmenden Ton.



»Und jetzt schaust du wieder so vor dich hin«, sagte er. In diesem Moment konnte er sich das La