SplitterNacht

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SplitterNacht
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Roland Reitmair

SplitterNacht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel I / 1

I / 2

I / 3

Kapitel II / 1

II / 2

II / 3

II / 4

Kapitel III

Impressum neobooks

Kapitel I / 1

In den letzten Wochen war es schon sehr kalt.

Einmal hat das herbstliche Regenwetter sogar mit Schneeflocken aufgewartet.

Heute aber, mit dem lauen Südwind, ist es fast frühlingshaft mild.

Dunkelheit verbeißt sich noch zwischen den Häuserreihen.

Morgendliche Wolkenschleier am Himmel färben von Rot bis Rosa, die Flecken Himmel dazwischen leuchten fast Türkis.

Es tut gut, nach der schlaflosen Nacht die frische Luft zu atmen. Am Balkon lehnen, heißen Kaffee trinken, während in aller Ruhe der Tag anbricht.

Die Sonne scheint wie ein Feuerball kurz im diffusen Morgenlicht über den Dächern fest zu hängen, bevor es richtig hell wird.

Es muss irgendwas mit dem Föhnwind zu tun haben… angeblich wären, wenn viel Staub in der Luft ist, die Sonnenauf- und untergänge schöner.

Der Zeitungsausträger ist spät dran und schlägt die Autotür übertrieben laut zu, bevor er zum Hauseingang eilt.

Er hat es immer eilig und lässt den Motor laufen, während er seine Zeitungen in den Postfächern deponiert.

Jeden Morgen biegt er in diese Straße ein, blinkt gleich rechts, hält mitten auf der Fahrbahn. Gang heraus, Handbremse. Er springt aus dem Auto, schlägt die Türe zu, verschwindet für eine Minute unter dem kleinen Vordach des Hauseinganges, dann Laufschritt zurück, erster Gang, zu viel Gas.

Das Ritual wiederholt sich noch zweimal, bevor er dann – vielleicht hundert Meter weiter – direkt unter meinem Balkon hält.

Mich stören seine hektischen Bewegungen. Sie passen nicht zu den weichen Konturen des Morgens.

Einmal hab ich Kaffee verschüttet.

Unwillkürlich wich ich zurück, als er ärgerlich heraufschaute.

Es hätte ja auch sein können, dass ich den letzten Rest ohne es zu merken aus der Tasse leerte. Oder den kalten Kaffee absichtlich ausschüttete, jedoch nicht im Traum daran dachte, jemand könnte sich darunter befinden.

Seit ich hier wohne und das sind jetzt schon über vier Jahre, stört mich seine Hektik.

Der Kaffee verfehlte ihn und sein Bündel Zeitungen knapp, verteilte sich aber in dicken, braunen Tropfen über Windschutzscheibe und Motorhaube.

Wahrscheinlich um keine Zeit zu verlieren, betätigte er die Scheibenwischer erst nachdem er die Zeitungen zugestellt hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann Sinn für Kunst hat.

Er kam zurück, die Wischblätter bewegten sich und die Sache war, wie ich glaube, aus der Welt.

Manchmal überlege ich, ob ich es nicht wieder tun soll.

Ich brauche die Ruhe morgens, wenn die Stadt noch schläft oder gerade erst erwacht… die Straße menschenleer, kaum ein Auto.

Am Giebel putzen sich Tauben die Federn.

Krähen am Sims des Rauchfangs werfen erste, lange Schatten in die Dachrinne.

Es gab eine Zeit, da brauchte ich nach dem Frühstückskaffee unbedingt eine Zigarette. Seltsam. Gewohnheiten ändern sich.

Gierig inhalierte ich immer einige Züge, schnippte dann die halbfertig gerauchte Zigarette über den Balkon, wartete bis sie am Asphalt landete, um dann ins Büro zu eilen.

Fünf Stockwerke, kein Lift.

Manchmal zertrat ich auf der Straße die Kippe. Manchmal überlegte ich, dass dies der Platz wäre, wo man aufschlägt, wenn man über meinen Balkon stürzt.

Polizisten würden kommen und würden mit weißer Kreide die Stelle markieren.

Vielleicht würde der Zeitungsausträger trotzdem hier halten, der Kreide zum Trotz oder einfach nur wie jeden Tag.

Hier hat sich der Kaffee auf seinem Auto verteilt. Hier würde sich das Blut auf dem Asphalt verlaufen.

Ich habe mit den Kindern meiner Schwester einmal verschiedene Dinge vom Balkon geworfen, nur um zu sehen was passiert.

Manche Gegenstände springen hoch auf, faules Obst jedoch verteilt sich beim Aufschlag sternförmig.

Das war vor fast vier Jahren, damals habe ich noch geraucht und als ich die Zigarette vom Balkon schnippte, warfen die Kinder kleine Tonkugeln aus der Hydrokultur nach. Man konnte noch so gut aufpassen, es war kaum zu sehen wo die Kugeln landeten und - ich gebe zu - es war keine sehr gute Idee von mir, dass man etwa einen Apfel sicher besser sehen könnte.

Der Hausmeister erstattete Anzeige und beinahe hatte ich gleich wieder auszuziehen.

*

Als ich das erste Mal auf diesem Balkon stand und rundum die identen Wohneinheiten betrachtete, die gleichen Balkone Reihe um Reihe bis hinunter zum Gehsteig, das immer gleiche Küchenfenster daneben, fühlte ich mich alleine und beobachtet. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass diese Anonymität auch einen gewissen Schutz bietet.

Schutz. Nicht nur, weil sich Fremde in den gleichen Gängen der verschiedenen Stockwerke, auf den gleichen hässlich blauen Teppichen und dem gleichen Geruch nach Reinigungsmittel und Kunststoffboden, meist hoffnungslos verirren.

Hinter jeder dieser Balkontüren steckt eine Geschichte.

Ich denke oft daran, wenn ich nachts draußen stehe und in die Dunkelheit starre, wenn da und dort plötzlich Licht durch die Vorhänge schimmert.

Andere können auch nicht schlafen. Beruhigend.

Doch andere sind vielleicht Schichtarbeiter oder einfach nur Frühaufsteher. Oder die Kinder sind krank und besorgte Mütter sitzen im dünnen Nachthemd auf der Bettkante und streicheln fieberheiße Wangen.

Von außen, objektiv gesehen, ist da nur Licht, das durch den Vorhang schimmert.

Manchmal dringen diese Geschichten nach draußen und helfen die eine oder andere Unzufriedenheit zu dämpfen. Zu sehen, wie anderer Leute Fassade bröckelt, scheint eine Befriedigung zu sein.

Geteiltes Leid.

Wenn man selbst betroffen ist, schmerzt es dafür doppelt.

So war’s zumindest für mich, wie das damals mit Tante Sabine war.

Die Leute am Land sind anders, da weiß jeder alles vom Nachbarn.

Da wird mehr geredet, weil man natürlich weiß, wer der Vater war und der Großvater und man kennt die Geschichten vom angeblichen Halbbruder.

Aber der Onkel. Er würde sich hier wohlfühlen.

Hier könnte er in Gleichgültigkeit versinken, am Land war das nicht so einfach.

Vielleicht hätte ihm dieser Uniformismus überhaupt besser entsprochen, auch früher schon, davor.

Vielleicht wäre vieles anders gekommen.

Das letzte Mal sah ich den Onkel unten bei der Bahnbrücke. Er lehnte gegen den Betonpfeiler und starrte in den Hochwasser führenden Fluss.

Er hat mich nicht gesehen, oder zumindest so getan, als sähe er mich nicht. Auch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als ich ihn erkannte. Drehte mich wie zufällig in die andere Richtung. Bemühte mich unbeschwert zu wirken.

Sieben Jahre mochten einen Menschen schon verändern, ich erkannte ihn trotzdem sofort.

Er hatte diesen gleichen seltsam mitleidigen Blick wie früher, der nicht zu ihm passte und nur seine arrogante Überheblichkeit verriet.

Er schaute hinüber zu einer dicken, weißhaarigen Frau, die sackweise altes Brot für die Enten, Schwäne und sonstigen Vögel anschleppte.

Ganz aufgeregt kamen die Tiere heran und es waren viele.

Sie flatterten und schienen übers Wasser zu laufen, während sie schnatterten und lärmten und sich gegenseitig die Augen aushackten.

Etwas Väterliches lag in diesem Blick, und doch auch wieder nicht.

Verständnis und Abscheu gleichzeitig spiegelten sich dann in Onkels Augen, Verächtlichkeit.

So hatte er immer Tante Sabine angeschaut, so schaute er sicher auch an jenem Sonntagabend...

Ich hatte nicht gewusst, dass er vorzeitig aus der Justizanstalt entlassen worden war.

Er lehnte am Pfeiler, wie früher draußen am Balken des Vordachs. Die Zeitung in der Jackentasche, eine Pfeife in der Hand, immer schien er ein wenig beleidigt.

Er lachte nie, er war ruhig und schweigsam.

Nur manchmal am Sonntag, wenn er erst abends vom Frühschoppen heim kam, war er wie ausgewechselt.

Da spielte er manchmal mit uns, mit meinen Freunden und seinem Neffen, oder zeigte uns alte Fotos, während er undeutlich und mit traurigen Augen lange Geschichten erzählte.

Manchmal kam er aber auch heim, da passte ihm rein gar nichts. Das Essen war kalt oder die Suppe versalzen, irgendwas hat er bestimmt gefunden.

 

Anreden durfte man ihn dann besser nicht, sonst konnte er ganz gut aufbrausen. Und als ob er nur darauf gewartet hätte, teilte er dann Gehässigkeiten aus. Mokierte sich über meine zerschlissenen Jeans, die ich zum Statussymbol erheben würde, wie mein Vater.

Oder lästerte über die lässige Bluse seiner Frau. Sabine gäbe sich, als wäre sie fünfzehn … lieber einen Knopf mehr zumachen, anstatt so offenherzig durch die Gegend zu flanieren.

Aber, was quäle ich mich schon wieder mit den alten Geschichten.

Katharina hatte in diesem Punkt völlig recht – und wenn man von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang am Balkon steht und grübelt – es gibt einfach Dinge, die wird man nie verstehen.

Ich vermisse Katharina. Mein Leben ist leer geworden ohne sie. Wenn ich wieder einmal schlecht geschlafen hatte und halb durchgefroren über die Dächer schaute… sie konnte mich vieles vergessen machen.

Sie brachte heißen Kaffee, zog sich den alten Bademantel enger, fragte nicht lange. Sie legte ihre Hände um meinen Nacken und war einfach nur da.

Katharina hat mich verstanden, auch wenn ihr letzten Endes diese meine alten Geschichten zu viel wurden.

Auch wenn sie sich bei unserer Trennung schäbig verhalten hat. „…mach’s gut...“, sagte sie mit glasigen, übermüdeten Augen, ihre Finger berührten noch flüchtig meinen Rücken. Kein letzter Kuss, keine Erklärungen. Stille, viel zu lange Sekunden. Dann war sie weg.

Ich denke oft an sie. Sie ist Teil meiner alten Geschichten geworden und es ist gut, dass sie das nicht weiß.

*

Der Hausmeister. Der Herr Hausmeister.

Sein Name ist mir wieder entfallen.

Zuerst sieht man immer nur den Bauch. Jeden Tag um die selbe Zeit, steht er gut zehn Minuten lang unter dem kleinen Vordach beim Eingang und schaut die Straße entlang, manchmal taucht auch sein Kopf kurz auf, wenn er irgendwelchen Bekannten im vorbeifahrenden Auto zunickt.

Er hat eine nette Frau.

Kurz nachdem die Polizei geläutet hatte, stand sie plötzlich vor meiner Tür.

Es sei zwar nicht in Ordnung Gegenstände vom Balkon auf die Straße zu befördern, schließlich würden auch Kinder den Gehsteig benützen, so weit sollte man also denken, ihr Mann würde jedoch oft überreagieren...

Im Sinne einer guten Nachbarschaft würde sie hoffen, dass solche Dinge nicht mehr vorkommen und sie wünschte mir noch einen guten Tag.

Ich sehe sie gelegentlich im Treppenhaus und frage mich jedesmal, was diese Frau an ihrem schwitzenden, rasenmähenden Teddybären findet.

Sie ist so etwas wie der Prototyp der Barmherzigkeit wahrscheinlich. Hat ihn aus Mitleid geheiratet. Prototypen haben immer Fehler.

Außerdem ist sie ein fürchterliches Tratschweib.

*

Über die Straße, gegenüber lebt eine alte Frau. Sie wohnt im gleichen Stockwerk wie ich und winkt mir manchmal zu.

Ich denke sie ist einsam. Zumindest habe ich noch nie jemanden anderen als sie in der Wohnung gesehen. Nur einmal kamen Möbelpacker und brachten ein Spinett.

Wenn die Vorhänge zur Seite sind, kann ich es drüben an der Wand sehen. Ich weiß noch, dass ich ziemlich neugierig war, wem die Leute, die es aus ihrem Möbelwagen hoben, das Instrument wohl bringen würden.

Sie verschwanden im Hauseingang, mein Blick wanderte die Balkone entlang und ich dachte, dass die Antwort für mich ein Geheimnis bleiben würde. Umso überraschter war ich, als ich beobachtete, wie die Herren ihre Last in der Wohnung der alten Frau abstellten.

Sie kommt mir irgendwie bekannt vor, nicht nur, weil mich ihre langen, weißen Haare und die rote Schürze an die Großmutter erinnern… Ich weiß, dass diese Dinge zumeist Einbildung sind, aber ich könnte schwören, die Frau früher schon einmal gesehen zu haben.

Irgendwie herrscht über die Distanz der Straße, fünf Stockwerke über dem Asphalt, eine seltsame Vertrautheit zwischen uns. Auch sie steht manchmal schon sehr früh, schon vor dem Tageslicht am Balkon, streut Vogelfutter in das eine leere Blumenkistl am Eck des Geländers und beobachtet die Straße unter sich.

*

Die Nacht lässt einen vieles klarer sehen.

Der Lärm ist auf ein Minimum reduziert.

Dunkelheit umgibt einen wie seltene Vertrautheit, die man höchstens noch aus glücklichen Kindertagen kennt.

Und doch ist sie trügerisch.

Ähnlich wie Wasser, wie ein Hochwasser führender Fluss, zieht einen die Dunkelheit in Bann.

Die Gedanken werden klarer, aber hoffnungsloser. Je länger die Nacht dauert, je näher der Morgen kommt, desto unausweichlicher wird die Wahrheit.

Mit dem Licht kommt Realität und mit Realität die Ernüchterung.

Der Alltag holt dich ein - Erkenntnis, dem engen Korsett nicht entkommen zu können.

Vielleicht ist es gar nicht die Dunkelheit, die Selbstmörder in die Tiefe zieht. Vielleicht ist es der drohende Morgen. Wenn graue Schatten aus der Ruhe treten und erwachende Geräusche die Hoffnung strangulieren.

Du lehnst am Balkon, schaust hinunter in den grauen Asphalt. Dunkelheit.

Dann kommt der Morgen.

Du springst nicht. Du lässt los, bevor das Licht die Träume raubt.

Schaurige Momente, in denen zwei Systeme kollidieren und verschmelzen.

Momente, wo zwei Welten ineinander greifen.

Eine Erfahrung, die nicht erspart bleibt.

Ich kannte sie von früher, aus anderen Situationen. So wie bei Tante Sabines Beerdigung, wo die Welt des Kindes nicht zur Welt der Erwachsenen passen wollte.

Wir standen vor der Aufbahrungshalle zwischen den Gräbern und die Freude des dreijährigen Sohnes meiner Schwester über die vielen Sandkisten war echt. Zu viele Tränen hatte er an dem Tag gesehen.

Meine Schwester klopfte ihm die Erde fester als notwendig aus der Hose. Auch seine Tränen waren echt.

Manchmal denke ich, Katharina war froh, dass ich die Nächte großteils am Balkon verbrachte.

Mein Traum machte ihr Angst.

Manchmal glaube ich, sie träumte ihn auch…

Jedesmal derselbe Bahnsteig, irgendein blöder Vogel hoch in der Luft.

Die Leute schleichen in Zeitlupe dahin, schlurfen auf und ab.

Plötzlich dann kommt dieser Zug, kommt viel zu schnell … bremst abrupt.

Alle steigen ein.

Der Zug beschleunigt. Vor dem Fenster ziehen Hochhäuser vorbei, Kühe, Autos, Hochspannungsmasten und immer wieder seltsame Blumen. Schneller und schneller geht die Fahrt.

Mitreisende vermuten der Zug würde entgleisen, die Lok sich neben dem Bahndamm tief ins Erdreich bohren.

Wagone sich überschlagen. Menschen, Gepäck, Fahrräder, Sitze und Eisenteile sich in einem wüsten Durcheinander verstreuen.

Aber nichts dergleichen. Irgendwo spielt noch ein Radio blecherne Fetzen eines Liedes.

Dann plötzlich fehlt eine Brücke oder ein Gleisanschluss und ich scheine zu fallen, alleine schneller und schneller in irgendein graues Nichts zu fallen.

Ich schlage nie auf. Ich sitze jedesmal mit durchgeschwitztem T-shirt im Bett.

Katharina konnte dann nicht schlafen, sie brachte mir oft kalte Milch.

„Wieder der Zug?“, fragte sie, während sie nickte und sich selbst Antwort gab.

Ich erlebte noch nie das Ende des Traums. Keine Toten, kein Blut.

Das T-shirt klebt wegen der Geschwindigkeit an der Haut.

Wegen dieser lähmenden Beschleunigung, mit der ich immer tiefer und schneller falle.

Jetzt zittern meine Hände.

Heute ist so ein Tag, an dem ich dieses haltlose Gefühl habe, wenn ich mich ans Geländer lehne. Dieses Gefühl als könnte ich jederzeit über den Balkon kippen, weil ich nur mehr aus Rumpf bestehe.

Die Gliedmaßen sind taub. Der Körperschwerpunkt existiert nicht mehr und der bleierne Brustkorb zieht mich über den Balkon. Unfähig mich zu bewegen starre ich wieder und wieder auf die zitternden Hände, als könnte mein starrer Blick mich vor dem Schicksal bewahren.

*

Die Sonne geht immer im Osten auf.

Ich mochte den Onkel nicht, wenn er so oberlehrerhaft war.

Seinem vierjährigen Neffen ging’s damals schon so. Von mir aus mochte die Sonne im Süden oder Norden aufgehen. Oder jeden Tag wo anders, ganz wie sie wollte.

Der Onkel aber wollte immer jedem alles vorschreiben. Das machst du so und jenes so. Und jedesmal seine apokalyptisch-kryptischen Drohungen.

„Du wirst schon sehen…“ und gleich darauf:

„Ich hab’s dir ja gesagt.“ Das befriedigte Onkelgesicht, ohne jede Schadenfreude, wenn eintrat was er prophezeit hatte.

Nostradamus, dachte ich, als ich alt genug war. Der war auch psychisch krank mit seinen Visionen. Aber noch bedienter sind jeweils die Jünger – ich würde der Faszination krankhafter Persönlichkeiten nicht erliegen, nicht aus Mitleid und nicht aus Tradition. Mochte der Onkel seinen Kult und Glauben pflegen.

Doch ich schaffte es nicht, ihm gegenüber gleichgültig zu bleiben. Ich warf alles was er tat auf die Waagschale, stellte alles in Zusammenhang.

Wenn seine Frühschoppen zum Stammtischabend wurden zum Beispiel. Wenn er entweder mit leiser, erstickter Stimme erzählte oder aber vehement und viel zu laut Rechtfertigung forderte.

Das passte nicht, da holte ihn das Verdrängte ein, seine tiefsten Instinkte.

Das enge Korsett seiner Moral schnitt tief in seinen Körper und zeichnete hässliche Striemen auf seine Seele.

Und jeder Schluck Alkohol spülte ein Stück dieser Seele an die Oberfläche, Stücke ursprünglichen Menschseins, roher Logik – ungelernter Triebhaftigkeit.

Vorbei war’s mit dem ruhigen, bedachten Intellektuellen. Asche fiel aus seiner Pfeife, die Zunge wurde schwer und gelegentlich sackte ihm der Kopf auf den Küchentisch. So saß er dann manchmal bis zum Frühstück.

Arme Sabine. Sie sollte ihn auch noch verstehen, ihn trösten und das Tier zähmen.

An manchen Tagen ist die Erinnerung lebendiger als sonst.

Katharina war der Meinung, dass ich meinen Verfolgungswahn, wie sie sagte, nur dann loswerde, wenn ich mich den diffusen Ängsten stellte und Abstand gewänne.

Wir mieteten diese Wohnung. Fünfter Stock. Kein Lift.

Katharina behielt recht. Der Balkon wurde mir zum Schlüssel, zum Zugang zu den verdrängten Erlebnissen von damals.

Ich stand stundenlang im Freien, halbe Nächte, ganze Nächte.

Ich rauchte Zigarette um Zigarette.

Oft mitten in der Nacht weckte ich Katharina, um ihr meine Gedanken mitzuteilen. Um ihr zu sagen, dass ich ja mit schuld war, immer schon unfähig Entscheidungen zu treffen...

Sie entschied sich. Sie wollte wieder ruhig schlafen. Katharina waren meine Geschichten zu viel geworden.

Ich weiß nicht, ob ich sie liebte. Ich weiß nur, sie war der einzige Mensch in meinem Leben, der außer Sabine mein Vertrauen verdiente.

Es ist leer ohne sie.

Seltsam, als sie ging, verfiel ich weder in Depressionen, noch änderte sich mein Lebensrhythmus gravierend.

Ich dachte sogar mit mehr Konsequenz nach.

Es gab keine Hoffnung mehr auf ihre verständigen Arme und so konnte ich mich aus der Umklammerung meiner Erinnerungen lösen.

*

Wenn sich die Stadt nach und nach aus der Dunkelheit schält und sich plötzlich die Sonne hundertfach in den gleichen Fenstern spiegelt, ist das immer ein beklemmender Moment.

Die meisten Menschen verpassen ihn. Sie sitzen im Büro, bevor sie richtig munter sind, schleppen sich in die Routine.

Entweder war die Fahrt mit dem Auto ein Wahnsinn wegen dem Regen oder es wird heute sicher heiß, vielleicht wäre ein Tag Urlaub gut.

Egal wie sich das Wetter präsentiert, sie sagen die gleichen Dinge vor sich hin. Es sind nur andere Worte, andere Sätze, die gleichen paar Freundlichkeiten. Ein verbindliches Lächeln.

Diese Menschen haben keine Zeit und sie haben nicht einmal die Ruhe sich eine halbe Stunde auf nichts außer auf den Sonnenaufgang zu konzentrieren. Vielleicht scheuen sie die Gefahr dieses Moments. Wenn sich zwei Welten berühren.

 

Doch es ist so, als würde sich das Kind selbst für den Kaiserschnitt entscheiden, für die Möglichkeit schmerzlos in das Licht geholt zu werden. Und nicht die Notwendigkeit, sondern Angst und Vorsorge treffen die Entscheidung.

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