Buch lesen: «Musikdramaturgie im Film», Seite 7

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»Die Fabel orientiert sich, wie Lessing es in seiner Interpretation des Aristoteles nannte, an ›Ketten von Ursachen und Wirkungen‹. […] Im Rahmen meines Modells handelt es sich hier eindeutig um konzeptuell geleitete Strukturen, die sich beim Erzählvorgang auf die Kausal-Ketten zwischen den dargestellten Ergebnissen stützen. Damit wird auch erkennbar, dass die traditionelle Dramaturgie im Grunde generell auf Überlegungen beruht, die sich an diesen Strukturtyp heften. Ihre hermeneutische Verfahrensweise legt nahe, den roten Faden des Films als eine homogene Erscheinung aufzufassen, als einen bewusst erlebten Sinnzusammenhang, der sich mit der Kausalkette der Geschehnisse zu entrollen scheint. Das vorgeschlagene Modell hingegen rechnet damit, dass der rote Faden der Filmgeschichten inhomogen und in sich differenziert ist, also potentiell auch unbewusste Komponenten enthalten kann, ja gelegentlich sogar auf solchen beruht. Eine umfassende Narrativik des Films hätte jedenfalls auch andere Verknüpfungsprinzipien als die Ketten von Ursachen und Wirkung in Erwägung zu ziehen und sie auf ihre Fähigkeit zur Kohärenzbildung zu überprüfen, etwa solche, die auf Strukturangebote im Perzeptions- und Stereotypenbereich beruhen.« (Wuss 1993/1999, S. 91)

Fabeln mit Kausalketten gehören im Modell von Peter Wuss zu den »konzeptgeleiteten« Strukturen mit maximaler Auffälligkeit. Die »perzeptionsgeleiteten« Strukturen beruhen auf unbewusst hergestellten Zusammenhängen mit zunehmender Auffälligkeit. Nach Wuss haftet diesem Strukturtypus eine »bemerkenswerte sinnliche Kraft« (Wuss 1993/1999, S. 58) an. Filmfabeln, die mehr auf perzeptionsgeleiteten Strukturen basieren, reihen z. B. Motive eines gemeinsamen Themas aneinander. Wuss führt dafür den Begriff der »Topik-Reihe« bzw. »topikalen« Reihe ein.86 In einer offenen Handlungskomposition werden Ereignisse durch mehrfache Wiederholungen und dabei unbewusst ablaufende Vergleiche und Invariantenbildung semantisch stabilisiert, von ihrer Vordergründigkeit abgelöst und im Sinne des Themas der Geschichte verallgemeinert. Bei Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009) findet sich ein weiteres offenes Konzept der Fabel, in welchem die »Logik des Poetischen«87 den Zusammenhalt herstellt und bei welchem über Assoziationen die Beziehung zwischen den Handlungselementen und zu einem generellen Thema entsteht. Eine Filmfabel nutzt laut dem Modell von Wuss für die Strukturbildung insgesamt drei Basisformen der Narration und Arten der Verknüpfung und Kohärenz, die je nach Geschichte oder Stil unterschiedlich stark gewichtet auftreten können:

 1. Stereotypengeleitete Strukturen beruhen auf permanenten kulturellen Lernprozessen. So können mit wenigen Mitteln, die mitunter auf Klischees reduziert werden, inhaltliche Komplexe abgerufen werden, die eine variable Stabilität aufweisen. So entstehen Stile und Gattungen, die durch Wiederholungen im kulturellen Repertoire verankert sind.

 2. Konzeptgeleitete Strukturen sind narrativ wirksame Ereignisse, die singulär in einem Film und dessen Handlungslogik funktionieren. Mit ihnen lassen sich Kausalketten bilden, ohne die eine traditionelle Erzählung kaum auskommt. Bei Wiederholungen von konzeptgeleiteten Strukturmomenten entstehen allerdings Redundanzen, die mitunter als Spannungsabfall empfunden werden. Daher bleiben Kausalketten nur dann interessant, wenn in einen solchen Handlungsablauf weitere, meist konventionelle Strukturelemente wie Intrige und Gegenintrige, Handlungsumschwünge (plot points) und retardierende Momente zu einer auf das Ende hin orientierten Spannungskurve integriert sind.

 3. Perzeptionsgeleitete Strukturen sind im Gegensatz zu den beiden anderen Typen wenig evident und bedürfen sogar der Wiederholung, um zunächst unbewusste Prozesse zur Aufschlüsselung der Vorgänge in Gang zu setzen, die nach und nach ins Bewusstsein treten. So entstehen Topik-Reihen, die in offenen Erzählformen Strukturen herausbilden, die als Ersatz für eine meist fehlende offensichtliche Handlung bzw. Handlungslogik dienen.88

Auch für neuere Dramaturgien und Filmdramaturgie ist der Fabelbegriff anwendbar, wenn er nicht nur auf die Kausalkette und ihre raumzeitliche Organisation begrenzt bleibt, was Wuss (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987) belegen. Das Universelle des Fabelbegriffs, das ihn für Filmfabeln geeignet werden lässt, liegt in der Möglichkeit, darunter ganz unterschiedliche Bindungsgesetze, Strukturtypen und Wechselbeziehungen zwischen Figur, Konflikt und Handlung zu verstehen. So ergibt sich die Fabel als ein Prinzip, bei dem sich verschiedene grundlegende Fabeltypen unterscheiden lassen. Die Eigenart und Entfaltungsformen einer Filmfabel sind insofern mediumspezifisch, weil sie durch Zusammenwirken visueller und auditiver Mittel mitbestimmt werden und inhomogene, in sich differenzierte Anteile einschließen. Das Konzept der Fabel eignet sich für die Filmanalyse und Filmmusiktheorie insbesondere deswegen, weil der »ganzheitliche Zusammenhang des Kunsterlebens im Auge […] behalten« werden kann,

»während man Teilmomente der Komposition betrachtet […]. Die Einsicht in die Dialektik von Teil und Ganzem wurde erleichtert durch das Zustandekommen von Sinnbezügen, die zur Kohärenz des Werkes führten, zugleich nachvollzogen, vergegenwärtigt und erklärbar gemacht.« (Wuss 1990, S. 91)

Dass für all die genannten Komponenten ein alternativer Begriff zu Fabel zur Verfügung stünde, ist mir bisher nicht bekannt. Trotz des historischen Ballasts soll der Begriff Fabel daher für die Musikdramaturgie im Film Verwendung finden.

1.1.7 Das Fabel-Sujet-Begriffspaar

Fabel und Sujet sind als dialektisch funktionierendes Paar zu verstehen, bei dem die Fabel das abstrakte, einheitsstiftende Prinzip zur raumzeitlichen Handlungsorganisation einerseits und das Sujet die Auswahl möglicher Motive und konkrete Ausgestaltung unter den äußeren und medialen (z. B. filmischen) Bedingungen andererseits darstellt. Der Begriff »Sujet« wird hier also nicht in der auch mit »Milieu« zu verstehenden Bedeutung verwendet, auch wenn es bezüglich der Konkretisierung der Handlung und ihrer visuellen Erscheinung im Film eine Schnittmenge gibt. Die Fabel ist materiell kaum präsent und korrespondiert nur in wenigen, aber entscheidenden Momenten mit der offensichtlichen Handlung. Im Sujet konkretisiert sich die Handlung, die in ihrer Grundrichtung der Fabel folgt. Das Sujet bestimmt aber die konkreten Bedingungen und die äußere Erscheinung der Vorgänge.

Léon Moussinac charakterisierte in der frühen Filmtheorie das Sujet als ein einen »Vorwand« gebendes »visuelles Thema« (Moussinac 1925, S. 77). Hierauf kann wiederum ein Grundkonflikt, der durch die Fabel bestimmt wird, aufbauen, denn das Sujet liefert eine konkrete Variante für die den Konflikt auslösende Grenze. Sie zeigt die konkrete Seite eines in der Fabel nur abstrakt angelegten Konfliktes und wie er durchgeführt wird.

Jurij Lotman beschreibt die Grenzen, die das Sujet vorgibt, genauer und lässt die dramaturgische Relevanz erkennen:

»Gerade die Überschreitung einer Verbotsgrenze bildet bedeutungstragende Elemente im Verhalten einer Person, d. h. das EREIGNIS [H. i. O.]. Da die Zweiteilung des Sujetraums durch eine Grenze ja nur die elementarste Form der Gliederung darstellt (viel häufiger haben wir es mit einer Verbotshierarchie unterschiedlicher Bedeutungshaltigkeit und unterschiedlichen Werts zu tun), wird die Durchbrechung der Verbotsgrenzen in der Regel nicht als einmaliger Vorgang, als Ereignis, sondern als eine Kette von Ereignissen, als Sujet realisiert.« (Lotman 1977, S. 102)

Im Märchen sind oft Reichtum und Armut, Standesgrenzen, Gut und Böse solche sujetbedingten Grenzlinien. Im Modell der Heldenreise wird besonders anschaulich, wie eine Fabel selbst schon universelle Grenzlinien und Gesetze beinhaltet, diese aber in unterschiedlichen Sujets bzw. Handlungen individuell umgesetzt werden können.89 Generell ließe sich von charakteristischen, den Figuren konkret zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen sprechen, wenn die Bedeutung des Sujets beschrieben werden soll.

Einen wesentlichen Einfluss auf die Begriffsprägung hatte die russische Literaturtheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf die auch Bordwell zurückgreift. Er verwendet sogar die englisch umschriebene russische Aussprache des ursprünglich französischen Wortes Sujet (sjužetsyuzhet). Die russischen Formalisten führten zur genaueren Erläuterung dessen, was eine Fabel ausmacht, den Begriff des »Motivs« ein, benannten Auffassungen darüber, wie Motive verknüpft werden und installierten das Fabel-Sujet-Begriffspaar. Wie Schmid darstellt, changieren aber die Bedeutungen dieses Begriffspaares (Schmid 2014, S. 205–222). Das trifft auch auf die vonseiten der französischen Strukturalisten gebildeten Analogien histoire und discours (Todorov und Jakobson 1966) zu, die zur Überwindung der in dieser Dichotomie begründeten Reduktionen entwickelt wurden und auch zu Genettes Ideen zur Narratologie führten (Kuhn 2011, S. 128–131). Immer wieder wird auch Chatman in der Literatur- und Filmtheorie zitiert. Er definierte story (analog – aber nicht identisch – zu Fabel) und discourse (analog – aber nicht identisch – zu Sujet) vereinfachend so: »In simple terms, the story is the WHAT in a narrative that is depicted, the discourse the HOW. [H. i. O.]« (Chatman 1978, S. 19). Genette prägte zudem analog – aber nicht identisch – zu Sujet den Begriff récit (Genette 1972/dt. 1994).90

Im Sinne der russischen formalistischen Theorie der 1920er Jahre bildet die Fabel ein Schema für die vom Erzählmedium unabhängigen Ereignisse. Das Sujet bildet dagegen ein Schema für die Ausarbeitung des Werkes. Wie Schmid darlegt, gab es schon von Anfang an grundsätzliche Probleme beim Fabel-Sujet-Begriffspaar, speziell dabei, ob das Sujet auch die mediumspezifischen Mittel enthält:

»Die handliche Fassung, die Tomaševskij dem formalistischen Fabel-Sujet-Paar gab, kann nicht das grundsätzliche Problem verdecken, das der Dichotomie von Anfang an innewohnte, nämlich die Ambivalenz beider Begriffe. Der Fabelbegriff oszillierte zwischen zwei Bedeutungen: (1) Material im Sinne des vorliterarischen Geschehens, (2) mit Anfang und Ende versehene und auch intern strukturierte Folge von Motiven in ihrem logischen, kausal-temporalen Zusammenhang. Der Sujetbegriff schwankte zwischen den Bedeutungen (1) energetische Kraft der Formung, (2) Resultat der Anwendung verschiedener Verfahren. In der zweiten Bedeutung blieb unklar, welche Verfahren Anteil haben sollten und in welcher Substanz das Sujet zu denken sei, ob es bereits als in der Sprache der Kunst (der Literatur, des Films, der Musik usw.) formuliert oder als medial noch nicht substantiierte Struktur vorgestellt werden müsse.« (Schmid 2014, S. 218)

Thompson und Bordwell schließen die mediumspezifischen, strategisch eingesetzten Mittel im Begriff syuzhet nicht mit ein, sondern eröffnen dafür eine neue Kategorie: style (Bordwell 1985, S. 49f.). Die Definitionen von Fabel, Sujet und style lauten bei Bordwell demnach so:

»The imaginary construct we create, progressively and retroactively, was termed by Formalists the fabula (sometimes translated as ›story‹). More specifically, the fabula embodies the action as a chronological cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field. […] A film’s fabula is never materially present on the screen or soundtrack. […]

The syuzhet (usually translated as ›plot‹) is the actual arrangement and presentation of the fabula in the film. […] ›Syuzhet‹ names the architectonics of the film’s presentation of the fabula. […] Logically, syuzhet patterning is independent of the medium; the same syuzhet patterns could be embodied in a novel, a play, or a film.

[…] ›style‹ simply names the film’s systematic use of cinematic devices. Style is thus wholly ingredient to the medium. Style interacts with syuzhet in various ways; […]« (Bordwell 1985, S. 49–50)

Auffällig ist hier die eingrenzende Auffassung davon, dass die Fabel lediglich die Einheit der Handlung als raumzeitlich geordnete Kausalkette verkörpere. Bordwell relativiert damit den noch grundsätzlicheren Charakter der Fabel. Er blendet in der Rückbesinnung auf die dialektische Konstruktion des Begriffspaares auch die interne Diskussion der russischen Formalisten und späterer Theoretiker (Todorov und Jakobson 1966, Eco 1973/1977, Lotman 1977) aus. Gleichzeitig verliert sich das Potenzial dieses dialektisch interagierenden Begriffspaares, wenn das Sujet als eine Teilmenge der Fabel verstanden wird.

Auf Grundlage von Bordwells Lesart von Fabel und Sujet in seinem filmnarratologischen Modell entsteht eine Bedeutungsverschiebung. Der Begriff Fabel bzw. fabula bezeichnet nicht mehr das Prinzip und nicht die qualitativen Merkmale, nach welchem die relevanten Motive von den möglichen Motiven für die Organisation der Handlungskomposition ausgewählt und angeordnet werden. Dann wären die präsentierten Handlungen (das Sujet) lediglich die Teilmenge von etwas Größerem: der Fabel. Diese Abgrenzung unterscheidet also hauptsächlich quantitativ. Als qualitatives Kriterium bleibt bei dieser Deutung des Begriffs Fabel nur die Kausalkette. Das Prinzip der Auswahl von Motiven, aus denen dann eine Handlung zusammengesetzt wird, ist aber ein entscheidendes qualitatives Merkmal, ohne das der Handlungszusammenhang, vor allem dann, wenn er ohne Kausalkette hergestellt wird, nicht beschrieben werden könnte. Der Begriff Fabel geht bei Bordwell u. a. dafür verloren zu erklären, warum die Auswahl der Motive in einer bestimmten Weise erfolgte. Zugleich erhält der Fabelbegriff mit der Prägung »kausal-temporale Ordnung« eine Überschneidung mit dem Diegesebegriff. Mit einem so geprägten Diegesebegriff kann zusammen mit der Terminologie aus Fabel und Sujet anscheinend nicht konsistent gearbeitet werden. Daher hat sich Souriau wohl von vornherein auch nicht auf das Begriffspaar (fable/fabula und sujet) eingelassen. Genette folgte Todorov und bediente sich eines neuen Begriffs für Fabel: histoire.

Mit der Übertragung auf den Film ist diegetische Filmmusik im Sinne Bordwells und Gorbmans eigentlich ein Widerspruch: Die präsentierte Handlung (Sujet) ist eine Teilmenge der Diegese. Die Diegese wiederum ist das übergeordnete Prinzip, das in dieser Lesart allerdings Gemeinsamkeiten mit der Fabel hat. Verkürzt lässt sich der Widerspruch bei Bordwell so darstellen:

Fabula = kausal-temporale Anordnung möglicher Handlungen ≈ Diegesediegetisch = Auswahl und konkretisierte Präsentation der Handlung = syuzhet.

Zwar hat schon Gorbman die Schwierigkeiten bei der Übertragung des Begriffs Diegese auf den Film thematisiert (Gorbman 1987, S. 20–22), doch ihn deswegen nicht fallen gelassen. So greift sie zur Klärung dieser Schwierigkeiten auf die Differenzierung zwischen narration und narrative (als Substantiv) zurück. Die Bedeutung der Begriffe Diegese bzw. diegetisch, wie sie auch für die Analyse von Filmmusik relevant ist, wird dadurch allerdings nicht klarer, die Begriffe nicht aussagekräftiger. Die inzwischen lange geführte Diskussion zur Terminologie verdeutlicht dies.

Bei Auslassung des Diegesebegriffs (nach Souriau u. a.) und mit der aristotelischen Bedeutung von Fabel bzw. mythos ergibt sich ein einfacheres, für den Film taugliches und konsistentes System, das erlaubt, das dialektische Begriffspaar Fabel und Sujet konstruktiv weiter zu verwenden:

Fabel (mythos) = einheitsbildendes Prinzip (abstrakt, Anlage, Kriterien für Auswahl)

versus

diegetisch (diegesis) + mimetisch (mimesis) = Modi der Nachahmung von Handlungen mit mediumspezifischen Mitteln → Sujet (konkret, Ausarbeitung, Präsentation).

Auch das Wirken der filmischen Montage führt in Bordwells Konzept zu Widersprüchen bei der Zuordnung zu seiner Terminologie. Montage ist ein mediumspezifisches Mittel und würde daher in seiner Systematik dem style zugeordnet werden. Da aber die Präsentation der Handlung durch Montagetechniken erfolgt, müsste sie zugleich ein Aspekt vom syuzhet sein. Filmische Montage ist zudem mehr als die linear-narrative Konstruktion des Handlungsraumes und könnte als Mittel der spezifischen Entfaltung der Fabel gelten. Sie müsste daher ebenso zur Kategorie der fabula gerechnet werden.

Offene Erzählformen werden manchmal »sujetlos« genannt, also ohne eigentliche Handlung.91 Die Ereignisse (Handlungen) sind durch die Abstraktion eines Themas verknüpft und bedeuten nicht zwangsläufig das, was sie zeigen. Konfliktkonstellationen, die sich aus einem Sujet ergeben würden (z. B. bei der Liebesgeschichte eines Paares), werden bei sujetlosen bzw. offenen Erzählformen und Fabeltypen bewusst nicht dafür verwendet, die Handlung voranzutreiben (z. B. eine dritte Person bringt das Gefüge der Paarbeziehung durcheinander). Vorschnelle Prognosen und Erwartungen führen auf einen falschen Weg oder zur falschen Interpretation der Vorgänge. Offene Erzählformen leuchten das Wesen ihrer Protagonisten und deren Lebensumstände aus. Ein vordergründiger Konflikt, der als Antrieb der Handlung benötigt wird, würde hier nur ablenken und die Lücken, die in einer solchen Erzählung bleiben, mit zu einfachen Antworten füllen. Handlungen und Ereignisse, deren Bedeutung manchmal nur erahnt werden können, reihen sich in offenen, sujetlosen Erzählformen so aneinander, dass sich oft erst am Ende ein Netzwerk der verwendeten Motive erschließt. Mit diesem Netzwerk der Motive müssen sich die Rezipierenden in offenen oder sujetlosen Erzählformen in Beziehung setzen. So entsteht ein Zusammenhang mit mehreren Deutungsmöglichkeiten.

Das Fabel-Sujet-Begriffspaar kann in einer modernisierten Variante, die flexibel auf unterschiedliche Erzählformen anwendbar ist, für die Filmmusikforschung produktiv werden. Veröffentlichungen, die Fabel und Sujet für Untersuchungen zur Filmmusik nutzen, sind bisher selten und weisen nicht alle die gleiche Lesart dieser Konzepte auf.92 Royal S. Brown gebraucht mit »Mythos« die im aristotelischen Sinne korrekt übersetzte Vokabel. Seine Verwendung des Wortes mythos changiert zwar, enthält aber wesentliche Aspekte, die ich im modernisierten Konzept der Fabel sehe, und er erinnert daran, dass die englischsprachige Erzähltheorie dafür das Wort story verwendet:

»One thing that all of my uses of the concept of myth have in common, however, is the element of the paradigmatic. In other words, the degree to which a given character, object, or situation escapes from the moment of time and piece of space in which he/she/it appears in a given narrative (keeping in mind that mythos = story) to link with other characters, objects, and situations from other narratives, and the degree to which that character, object, and/or event escapes from a causal or historical determination of that moment of time and piece of space, is the degree to which the moment in the narrative becomes mythic.« (Brown 1994, S. 9)

Brown zitiert in seinem Filmmusikbuch auch einen Text von Lotman und untermauert das Fabel-Sujet-Begriffspaar, allerdings mit der ins Englische übersetzten Terminologie von Lotman:

»I also find extremly useful an article by Russian semiotician Jurij Lotman entitled ›The Origin of Plot in the Light of Typology‹. In this key study, Lotman examines the differences between the mythic text and what he refers to as the ›plot text‹.« (Brown 1994, S. 9)

In der englischen Übersetzung von Lotmans Text erscheint plot bzw. plot text im Sinne von Sujet in der Ergänzung zu mythos bzw. mythic text im Sinne von Fabel. Browns Orientierung an diesen erzähltheoretischen Grundlagen blieb in der Filmmusikforschung bisher weitgehend unbeachtet.

Die folgende Tabelle, die im Bereich Narratologie auf eine von Schmid gegebene Übersicht zum Begriffspaar Fabel und Sujet aufbaut (Schmid 2014, S. 222), zeigt Begriffsvarianten und die Anwendung in anderen Wissenschaften, darunter in der Filmmusiktheorie. Auch wenn die Lesarten, Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen nicht in einer solchen Übersicht im Detail erfasst werden können, die Vergleichbarkeit nicht vollständig gegeben ist und immer die zugrunde liegenden theoretischen Hintergründe berücksichtig werden müssen, gibt sie doch einen Überblick zu diesem viel diskutierten Feld der Narratologie. (s. Abb. 5)

Abb. 5: Begriffsvarianten für Fabel und Sujet

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