Musikdramaturgie im Film

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1.1.5 Narratologie, narration und Filmdramaturgie

Aus dem in dieser Untersuchung verfolgten Ansatz ergibt sich unter anderem, auf die Schnittmengen zwischen Narratologie und Dramaturgie einzugehen. Hiermit sind inhaltliche Schnittmengen aus Sicht der unterschiedlichen Disziplinen gemeint, aber auch sprachliche Besonderheiten, wenn z. B. im angloamerikanischen Raum mit narration Aspekte von Dramaturgie mit behandelt werden.

Das Wort dramaturgy existiert zwar im Englischen, wird aber in der Regel für die praktische Tätigkeit des Ins-Werk-Setzens genutzt oder steht im schlimmsten Fall nur für einen allgemeinen oder beliebigen Bezug zu Handlung und Bauform. Hinter dem Sprachgebrauch von narration in der englischsprachigen und in der Folge Narration in der deutschsprachigen Literatur zum Film und zur Filmmusik findet sich vieles, das vonseiten der Theater- und Musikwissenschaft und von Filmpraktikern (darunter Filmmusiker) mithilfe der Vokabel »Dramaturgie« verhandelt wird.

In der Filmtheorie von Bordwell und Thompson ist ein nicht zu unterschätzender dramaturgisch zu nennender Theorieanteil erkennbar, so die Verbindung von Struktur und Aktivität des Publikums bzw. seine Verstehensleistung: »The spectator’s comprehension of the story is the principal aim of narration.« (Bordwell 1985, S. 30). Auch ist z. B. eine psychologische Komponente, die für den Begriff Narration charakteristisch zu sein scheint, in Bordwells Begriff primacy effect (Bordwell 1985, S. 38) enthalten. Unter primacy effect ist das Öffnen eines Registers zu verstehen, in das nachfolgende Reize eingeordnet werden. Der Begriff Narration wird so als eine gewählte Art der Vergabe von Informationen zum Verständnis der Handlung erklärbar, durch die auch die Struktur eines Films analysiert werden kann.

Von Bordwell und Thompson werden explizite dramaturgische Basisbegriffe wie fabula (Fabel) und syuzhet (Sujet) sowie implizite dramaturgische Strategien berücksichtigt, die sie mit den Begriffen style (die filmspezifischen ästhetischen Mittel) und mit excess (ein »Mehr« oder »Überschuss«) umreißen.49

Michaela Krützen (Krützen 2004) versteht den Aufsatz von Kristin Thompson zum cinematic excess so, dass der »Überschuss« zwar nicht die Narration beträfe, aber entscheidend sei, um Besonderheiten in Form und Qualität, in bzw. mit der eine Geschichte erzählt wird, zu erkennen.

»Der Exzess darf nicht als Störung abgetan werden. Bei der Analyse eines Films müssen Lücken und Sackgassen in der Erzählung berücksichtigt werden. Um die besondere Qualität dieser Lücken und Sackgassen in der Erzählung geht es Kristin Thompson. […] Thompson will die Aufmerksamkeit auf den Exzess lenken, um vor einer Überbewertung des Narrativen zu warnen: ›An awareness of excess may help change the status of narrative in general for the viewer. One of the great limitations for the viewer in our culture has been the attitude that film equals narrative (…). Such a belief limits the spectator’s participation to understanding only the chain of cause and effect.‹ (Thompson 1986, S. 140) Das Narrative und das Exzessive müssen in einem Zusammenhang gesehen werden.« (Krützen 2004, S. 299 f.)

Der auf Thompson zurückgehende Hinweis auf den cinematic excess, der sich später auch bei Bordwell findet (Bordwell 1985), kann als wichtiger Teil von Dramaturgie ernst genommen werden. Allerdings stehen Narration bzw. explizite Dramaturgie und »Überschuss« bzw. implizite Dramaturgie nicht gegeneinander, wie der zitierte Ausschnitt vielleicht suggeriert, sondern wirken zusammen und ergänzen sich, wodurch die Komplexität eines Kunstwerkes erst möglich wird.

Claudia Gorbman hat den Narrationsbegriff von Bordwell für die Filmmusikforschung übernommen. Sie verwendet den Terminus dramaturgy selten und zudem allgemein bleibend:

»The repetition, interaction and variation of musical themes throughout a film contributes much to the clarity of its dramaturgy and to the clarity of its formal structures.« (Gorbman 1987, S. 91)

Der Satz steht im Kontext von Max Steiners Vorgehensweise, nach der er auf Grundlage der Sichtung eines Rohschnitts musikalische Themen für die Hauptcharaktere und wesentlichen Ideen des Films skizziert, um sie dann in die gesamte Anlage der Filmmusik zu integrieren und entsprechend auszuarbeiten. Da Gorbman nicht näher darauf eingeht, was Dramaturgie ist, bleibt allerdings offen, was die Merkmale solch einer »klaren« oder »anschaulichen« Dramaturgie sind. Es kann vermutet werden, dass die epische Anlage bestimmter Filme als dramaturgische Besonderheit angesehen wird, die den Einsatz von Leitmotiven sinnfällig und manchmal vielleicht sogar nötig werden lässt. Bei Berücksichtigung ihrer Beispiele scheint mir wahrscheinlicher zu sein, dass die Informationsdistribution gemeint ist und der Begriff narration synonym verwendet werden kann.

Eine Filmnarratologie, die sich auch auf international verhandelte Theorien zum Thema bezieht, fassen im deutschsprachigen Raum Barbara Flückiger (Flückiger 2001/2007, S. 371–381) und Markus Kuhn zusammen. Kuhn (Kuhn 2011) referiert Ansätze der Erzähltheorie, deren verzweigte Ursprünge hier nicht dargestellt werden können. Das Problem, wie sich ein Erzähler im Film eigentlich konstituiert, wird nur theoretisch thematisiert. Die in der Filmpraxis sich sehr vielgestaltig zeigende Autorschaft bewirkt jedoch, dass eine eindeutige Abstufung von Erzählinstanzen (reale Autorinnen, idealer oder impliziter Autor, auktorialer und figuraler Erzähler) im Film schwer vorzunehmen oder an konkrete filmische Mittel gebunden ist, geschweige denn, dass Merkmale, die eine Erzählinstanz eindeutig markieren, narratologisch immer konsequent angewendet werden. Im Gegenteil: Die Dramaturgie eines Films verlangt für die wirkungsvollste Umsetzung von Thema und Geschichte Inkohärenzen in Bezug auf die Erzählinstanzen.50

Kuhn reflektiert speziell mit Blick auf eine Filmnarratologie das durchaus schon bei Genette komplexe Modell der Fokalisierung. Es handelt sich um ein System zur Differenzierung der Erzählperspektive und das Verhältnis zwischen dem Wissensstand einer Erzählerebene und einer Figur. 1. externe Fokalisierung: Der Erzähler gibt weniger Informationen preis als der Einblick der Figuren ist, 2. Null-Fokalisierung oder »auktorial«: Der Erzähler gibt die Informationen, die auch die Figuren haben, sorgt für den »optimalen« Überblick und nimmt dafür keine bestimmte Perspektive ein oder 3. interne Fokalisierung: Der Erzähler nimmt eine bestimmte Figurenperspektive ein und lässt dafür weg, was diese Figur nicht wissen kann.51 Das Konzept der Okularisierung (für visuelle Aspekte der Wahrnehmung) wird auch auf Teile der auditiven Schicht angewendet. So entsteht ein Modell der Aurikularisierung (für auditive Aspekte der Wahrnehmung), das Kuhn entsprechend Genettes Vorlage in Nullaurikularisierung, externe und interne Aurikularisierung unterteilt.52

Für die Analyse von Filmmusik legt Guido Heldt Diskussion und Forschungsstand der narratologischen Terminologie ausführlich dar. Gerade das umfassende Schrifttum an englischsprachigen Veröffentlichungen zum Thema wird von ihm produktiv reflektiert.53 Der zu beobachtende Übergang von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie bzw. Filmnarratologie führt in der Weise, wie Kuhn es zusammenfasst bzw. entwickelt und wie Heldt mit speziellem Blick auf die Filmmusik darlegt, zu einem äußerst differenzierten System, das narrative Instanzen beschreibt, welche für die Distribution von für die Handlung relevanten Informationen verantwortlich sind und Zuordnungen von Musik zu diesen Ebenen der Narration weitgehend erklärt. Im Kern bleibt es ein auf den Gesetzmäßigkeiten der Sprache beruhendes Konzept, das auf nichtsprachliche Anteile des Films erweitert wurde.

Die narratologische Terminologie zielt auf differenzierte narrative Ebenen und Erzählinstanzen ab, die im Film nicht die gleiche Eindeutigkeit haben wie in der Literatur. Schon Flückiger merkt an, dass die Fokalisierung im Film parallel auf mehrere Schichten durch Kamera, Stimme und Ton für das Publikum erfahrbar gemacht werden kann und daher sich die Gestaltungsmittel vervielfältigen (Flückiger 2001/2007, S. 373 f.). Da sich sprachliche, visuelle und klangliche Mittel im Film vielfältig ergänzen und innerhalb dieser Polyphonie der Mittel die Eigenständigkeit einer Ebene zu insgesamt anderen Erzählformen führen kann, ist der Fokus der Musikdramaturgie ein anderer.

Aus Perspektive der Dramaturgie tritt in das Beziehungsgeflecht von Perspektive und Wissensstand zwischen Erzählerebene und Figuren das Publikum ein und wird sogar zum Zentrum der Beurteilung dieser Verhältnisse. Für eine Theorie der Musikdramaturgie im Film entsteht daher die Notwendigkeit, ein Modell der auditiven Ebenen zur Verfügung zu haben, das Auskunft über die Einbindung des im Film Klingenden in dramaturgische Strategien geben kann, die letztlich darauf abzielen, dass jedes klingende Element der Tonspur im Sinne von Geschichte, Struktur und Wirkung ausgerichtet ist.

Wenn man auf die Ursprünge der von vielen Autorinnen und Autoren bereits diskutierten und zum Teil weiterentwickelten Kategorien zur Differenzierung der Klangschicht im Film blickt, stellt sich heraus, dass in Narratologie, Filmtheorie und Dramaturgie ein etwas anderes Verständnis zu den Begriffen Diegese, Fabel und Sujet sowie zu mimesis und diegesis besteht.54 Da im Besonderen das für die Filmmusik häufig verwendete Begriffspaar diegetische/non-diegetische Musik davon betroffen ist und die hier ausgebreiteten Ideen zur Wirkungsweise von Fabel und Sujet für den Einsatz der Filmmusik von Bordwells Rezeption der Terminologie und damit verbundenen Konzepten abweichen, folgt ein Exkurs und ein eigenes Kapitel dazu.

 

Exkurs 2: diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis

Das filmmusikalische Vokabular wurde wesentlich durch das Wisconsin Project (Bordwell und Thompson 1979) und Gorbman (Gorbman 1987) beeinflusst. Es beruht auf einem in den 1950er Jahren in Frankreich begründeten interdisziplinären Forschungsprojekt – der »filmologischen Schule«. Anne und Étienne Souriau führten dort erstmals den Begriff diégèse bzw. diégétique ein (Souriau 1951/dt. 1997). Nicht nur Gerard Genette baute u. a. darauf das Vokabular eines Theoriegerüstes auf. Genette unterscheidet allerdings zwischen diegesis (mit dramentheoretischem Ursprung) und Diegese (eine narratologische Umdeutung).55 Einige Konzepte seines Modells wurden durch Bordwell und Thompson 1979 für den Film und von Gorbman 1987 für die Filmmusik adaptiert.

Die Souriaus führten den aus der antiken Rhetorik und Dramentheorie stammenden Begriff diegesis bzw. diégèse in die Filmwissenschaft ein, unterschieden aber nicht in diegetisch und nicht-diegetisch, worauf schon Kessler, Fuxjäger und andere hinweisen,56 sondern in »diegetisch« (diégétique), »leinwandlich« (écranique) und »filmophanisch« (filmophanique) und andere sogenannte »filmische Realitäten« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144). Damit sind Diskursräume bzw. Schichten der Existenz eines Films wie z. B. seine profilmische Existenz, sein physikalisch bedingter Ablauf und die Mittel seiner Vorführung, der virtuelle Ort eines Geschehens in der Geschichte, die Filmzeit, die sich von der erzählten Zeit unterscheidet, und die Interpretationsleistung des Publikums gemeint. Das Theoriegebäude sollte filmästhetische Spezifika hervorheben, eine wissenschaftliche Filmanalyse begründen und eine damit einhergehende Anerkennung filmwissenschaftlichen Arbeitens bewirken.57

Souriau zielte unter anderem darauf ab, dass der imaginative Handlungsraum, in dem auch Musik als Ereignis erklingt bzw. ihre Quelle hat, von den Mitteln seiner Darstellung getrennt werden muss. Imagination von Handlungsrealität, Handlungsraum und Handlungszeit sind von der filmisch umsetzenden Realität zu unterscheiden:

»Dies ist der Raum, in dem sich die Geschichte abspielt. Beide Räume sind streng voneinander geschieden. Um sie nicht zu verwechseln, werden wir ihnen Namen geben […] Der erstgenannte ist der ›leinwandliche‹ [écranique] Raum. Den anderen nennen wir ›diegetisch‹ [diégètique] (abgeleitet vom griechischen diegesis, Diegese: Bericht, Erzählung, Darstellung). Damit haben wir also zwei Räume: 1.) Der leinwandliche Raum mit dem Spiel von Licht und Dunkelheit, den Formen, den sichtbaren Gestalten. 2.) Der diegetische Raum, der nur im Denken des Zuschauers rekonstruiert wird (und der zuvor vom Autor des Drehbuchs vorausgesetzt oder konstruiert wurde); in ihm sollen alle Ereignisse, die man mir zeigt, sich abspielen, in ihm scheinen sich die Figuren zu bewegen, sobald ich die Szene verstehe, an der man mich teilhaben lässt.« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144)

Wenn man sich auf die philologische Deutung der aktuellen Aristoteles-Forschung (Schmitt 2008) stützt, wird deutlich, dass dieser Diegesebegriff die bei Platon und Aristoteles wesentliche Unterscheidung der direkten Nachahmung (Charaktere, die ihre Handlungen selbst ausführen) und indirekten Nachahmung (der Bericht von den Handlungen der Charaktere) ignoriert. So geht auch verloren, dass eine jeweils andere Rezeptionshaltung erzeugt werden kann: Struktur und Wirkung ergeben sich in wirklichkeitsnaher Präsenz oder mit spürbaren Eingriffen einer vermittelnden Instanz in die Abläufe.

Hätte Souriau statt von »erzählter Welt« von »gezeigter Welt« gesprochen, die im Film ausschnitthaft präsentiert wird und durch Imagination vervollständigt und kohärent wird, wäre die ursprüngliche dramaturgische Unterscheidung von zeigender und erzählender Nachahmung erhalten geblieben. Dies wäre zum einen logischer, insofern die imaginierte Welt nicht verbal erzählt, sondern im Film tatsächlich (und noch wirklichkeitsnäher als im Theater) »gezeigt« wird. Zum anderen erreicht ein Film seine Wirkung in der sehr flexiblen Abwechslung von direkter und indirekter Nachahmung bzw. dramatischen und epischen Mitteln.

Der Suche nach einem geeigneten Begriff für die Unterscheidung der dargestellten Welt von den Mitteln, die sie darstellen, liegt also eine geringe Bewertung von dramaturgisch wirksamen Erzählmodi zugrunde. »Erzählt« (diegesis) wird im Film mit vielen Mitteln, darunter Musik. Das Erzählen begrenzt sich nicht darauf, eine Welt zu imaginieren, in der Figuren handeln.58 Die gezeigte Welt ist nur ein Teil davon und sollte den Begriff Diegese daher nicht für sich allein beanspruchen, wie es bei der Übertragung auf die Terminologie der Filmmusik geschieht.

Der Begriff diegetische Filmmusik wird in der Filmmusikforschung als Folge dieser Ungenauigkeit für die Musik im Film verwendet, die Teil der direkt nachschöpfenden, gezeigten Handlungen ist, d. h. für Musik mit einer Ursache im imaginativen Handlungsraum. Um einen Gegenpol dazu zu schaffen, ergänzen Bordwell und Thompson (Bordwell und Thompson 1979, S. 254 ff.) sowie Gorbman (Gorbman 1987, S. 22) den Begriff non-diegetic und ersetzen damit auch Genettes Begriff extra-diégétique (Genette 1972/dt. 1994). Auch hier wird deutlich, dass der Diegesebegriff eigentlich nicht geeignet ist, denn die Aussagekraft über die von Genette ausführlich differenzierte Fokalisierung und den Zugriff auf Informationen zur Handlung entfällt dann (Wer hört? Wer weiß wovon im Vergleich zur kompletten Information des auktorialen Erzählers? Wer spricht bzw. hört?). Allerdings unterscheiden sich literarische und filmische Fokalisation in der Flexibilität, und abgesehen davon wird nicht klar, wie eine »nicht-erzählerisch« eingesetzte bzw. »nicht-erzählte« Musik zum Verständnis des Filmdramas beitragen könnte.

Bordwell greift noch weiter zurück auf Platon und Aristoteles, um die Unterscheidung von diegesis (telling) und mimesis (showing) zu untermauern:

»Diegetic theories conceive of narration as consisting either literally or analogically of verbal activity: a telling. This telling may be either oral or written. […] Mimetic theories conceive of narration as the presentation of spectacle: a showing. Note, incidentally, that since the difference applies only to ›mode‹ of imitation, either theory may be applied to any medium.« (Bordwell 1985, S. 3)

Doch schon wenige Seiten später vermengt Bordwell Neues und Altes aus den zum Teil unterschiedlich übersetzten und schwer zu deutenden historischen Quellen:

»›Diegesis‹ has become to be the accepted term for the fictional world of story. Calling one tradition of narrative theory ›diegetic‹ brings out the linguistic conception underlying Plato’s formulation. For Plato, both pure narrative and theatrical imitation presuppose the priority of the poet’s voice; in drama, the poet simply makes his own speech like that of another.« (Bordwell 1985, S. 16)

Gerade dann, wenn externe (nicht in der Handlung gezeigte) Musik als Beiordnung und erzählerisches Mittel bemerkbar und wirksam wird, wenn unstrittig ist, dass sie zum filmischen Diskurs gehört und auch mit ihr die Vorgänge strukturiert werden können (d. h. dass Filmmusik fokussiert, interpretiert und auf eine ordnende Instanz verweist), wird sie heute – eigentlich unpassend – als non-diegetisch (= »nicht-erzählend«?) bezeichnet. Wäre damals das Wort »virtuell« populär gewesen, hätte Souriau anstatt »diegetischer Raum« vielleicht diesen Begriff gewählt für den imaginativen (virtuellen) Handlungsraum. Dann wäre die Musik, die in dieser virtuellen Welt erklingt, von Gorbman vielleicht als »virtuelle Musik« bezeichnet worden, die beigeordnete Musik als »nicht-virtuell« (oder doch der Unterscheidung Platons folgend: »erzählend« bzw. »diegetisch«, was als Gegenteil zum derzeitigen Gebrauch zu bezeichnen wäre).

Dieter Merlin benennt in einem Aufsatz das begriffstheoretische Problem als »diegesetheoretisches Paradoxon« (Merlin 2012, S. 125). Ob ein Element zur erzählten Welt oder zum filmischen Diskurs gehöre, könne nicht bestimmt werden, ohne dieses mit Elementen zu vergleichen, die bereits Teil der erzählten Welt sind (Merlin 2012, S. 125). Es wird klar, dass die Reduzierung der Begriffe diegetisch/nicht-diegetisch auf den Aspekt des Raumes einige (zum Teil besonders schöne) filmspezifische Bauformen und Wirkungsmechanismen nicht erfassen kann. Merlin zitiert Fuxjäger (Fuxjäger 2007), der den Aspekt der Nachahmung bereits berücksichtigt und mit zeichentheoretischen Unterscheidungen einen modifizierten Diegesebegriff entwickelt (Merlin 2012, S. 121 ff.), sowie weitere Autorinnen, die aus bestimmten Gründen kritische Reflexionen zur Terminologie liefern.

Die Verwendung des Diegesebegriffs tendiert zu einer Absolutheit – einer 100-prozentigen Konsistenz des raumzeitlichen Universums der fiktiven Welt –, die allerdings filmdramaturgisch nicht notwendig ist. Tobias Plebuch beschreibt das Problem so:

»Die Begriffe ›diegetisch‹ und ›nondiegetisch‹ können sich in der Analyse als zu scharfe Werkzeuge erweisen, wenn sie begrifflich zwei Modi der Beziehung von Musik und Handlung trennen, die auf das Gleiche hinauslaufen: auf das Verständnis des Filmdramas.« (Plebuch 2014, S. 80)

Alleinstehend könnte Diegese als erzählte oder besser: gezeigte Welt verstanden werden, d. h. als eine Welt, die uns die Figuren, aber auch Musik und Ton mit dort verankerten Quellen zeigen. Aus dramaturgischer Sicht sind aber die Modi der direkten oder indirekten Nachahmung für die Filmanalyse von hohem Wert – auch für Erkenntnisse zur Wirkungsweise von Filmmusik. In der Paarung diegetisch/nicht-diegetisch geht diese Möglichkeit allerdings verloren. Ich plädiere daher dafür, den Diegesebegriff für die Analyse der klingenden Ereignisse im Film fallen zu lassen.

Etwas seltener wird im Diskurs zur Anwendung narratologischer Terminologie für den Film Chatman zitiert, der in »Coming to Terms« sowohl Bordwell als auch Genette ausführlich diskutiert und kritisiert (Chatman 1990). Chatman entwickelte ein Modell der Filmnarratologie, das mit dem Begriffspaar diegetic und mimetic im eben beschriebenen Sinne arbeitet. Er sieht mimesis und diegesis nicht als Gegenpole, sondern als zwei Modi, wie eine Geschichte »kommuniziert« wird.59 Es wird damit anschaulich, dass im einen Fall von den Ereignissen berichtet wird und eine mehr oder weniger bemerkbare, vermittelnde Erzählinstanz zwischen Geschichte und Publikum tritt (diegetic). Im anderen Fall werden die Vorgänge ohne diese Instanz direkt durch die Figuren vorgeführt (mimetic).60 Obwohl Chatman immer wieder zitiert wird, ist mir nicht bekannt, dass die durch ihn weiter verwendete Lesart von mimesis und diegesis als narratologische Basis für die Filmmusik herangezogen worden wäre. Im Unterschied zu Chatman würde ich jedoch in Betracht ziehen, dass eben diese Modi der »Kommunikation« beide im Film (als Mischform aus Roman und Drama) anzutreffen sind und nicht auf Romane/Epen (= diegetisch) bzw. Dramen/Filme (= mimetisch) begrenzt sind.61

Die notwendige Unterscheidung zwischen Bericht und Zeigehandlung muss aber außerdem in Zusammenhang mit dem qualitativen Sprung im Verständnis des Mimesisbegriffs gesehen werden, der zwischen Platon und Aristoteles liegt. In der von Filmmusikforschenden zitierten Erzähltheorie wird die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs mimesis bei Platon und bei Aristoteles offenbar als unbedeutend eingeschätzt. Möglicherweise liegt aber in dieser Differenz ein Grund für die Schwierigkeiten mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch. Das führt dazu, dass mimesis bei Bordwell mit dem in Platons Verständnis enthaltenen Wahrheitsanspruch interpretiert wird und den von Aristoteles eingeführten Wahrscheinlichkeitsanspruch ignoriert.62 Bordwell sieht offenbar daher mimesis und diegesis als Gegenpole (Nachahmung vs. Erzählung) anstatt als zwei Arten der Darstellung durch Modi der Nachahmung mit ihren jeweils eigenen Wirkungen auf das Publikum.63 Aristoteles übernimmt zwar die Unterscheidung zwischen »Erzählen« und »Zeigen« von Platon. Die entscheidenden Neuerungen wurden aber oft überlesen. Zu nennen sind:

 

 – Nachahmung ist nicht Imitation, sondern ein nachschöpfender Vorgang, der nicht die Wirklichkeit abbilden soll, sondern das Wahrscheinliche zeigt.

 – In der Nachahmung erkannte Dinge befriedigen den Erkenntnisdrang und dienen zur Aneignung der Welt.

 – Mimesis und diegesis sind unter dieser Voraussetzung Modi der Nachahmung (im genannten Sinne eines schöpferischen und nicht eines imitierenden Vorgangs).

 – Die Definition und Bewertung der Begriffe bei Aristoteles werden davon bestimmt, wie Werke bei der Rezeption wirken, anstatt wie bei Platon normative Kategorien widerzuspiegeln. Das Publikum rückt damit erstmals ins Zentrum poetischer Theorie und charakterisiert damit einen Kernpunkt von Dramaturgie.

In seinem Artikel »Aristoteles« beschreibt der Philologe Ulrich Fleischer das, was bei Aristoteles neu ist, so:

»In der Kunsttheorie geht Aristoteles von der Lehre Platons aus, daß das Wesen des Kunstwerkes als ›Nachahmung‹ zu verstehen ist. Quelle der künstlerischen Nachahmung ist nach Aristoteles der Nachahmungstrieb, die dem Menschen eigentümliche Freude an Nachahmungen, die Aristoteles bezeichnenderweise auch dort feststellt, wo der nachgeahmte Gegenstand als solcher häßlich ist. Die Freude an der Nachahmung führt Aristoteles auf das Streben nach Erkenntnis zurück: In der Nachahmung wird das Dargestellte wiedererkannt, erschlossen, und dabei der dem Lernen eigentümliche Genuß gewonnen. […] Nachahmung kann [1.] die Gegenstände darstellen, wie sie sind, [2.] wie sie erscheinen und [3.] wie sie sein sollen. Hauptaufgabe der Kunst ist Darstellung des Seinsollenden, weswegen sie nicht so sehr das Einzelne als vielmehr das Allgemeine und das ideale Wesen der Dinge zum Vorbild nimmt.« (Fleischer 1989, S. 634)

Vor diesem Hintergrund ist mimesis zu verstehen als der direkt (von agierenden Figuren) ausgeführte, nachschaffende Modus, diegesis als der indirekt (durch eine Erzählinstanz vermittelte) nachschaffende Modus der Nachahmung. Beide zielen auf das ideale Wesen der Dinge und werden in der Erzählkunst zur Aneignung (nicht zur Imitation) der Wirklichkeit nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit angewendet. So wirkt auch laut Aristoteles das Scheitern eines Charakters (in der Tragödie) besonders eindrücklich, weil ihm trotz seiner herausragenden Eigenschaften, die der Grund sind, überhaupt von seinen oder ihren Taten zu berichten und ihn oder sie vom Publikum abheben, Fehler unterlaufen, die ihren Ursprung zugleich in diesen herausragenden Eigenschaften haben. So wird der Held/die Heldin zutiefst menschlich, sei die Geschichte noch so idealisiert oder fantastisch. Die Modi mimetisch und diegetisch erzeugen auf ihre jeweils eigene Weise den zu beobachtenden Genuss, der auch auf einem Lernprozess beim Publikum beruht.64

Wie die Übersetzung von Aristoteles’ Poetik von Fuhrmann (1982), die Übersetzung und Kommentare von Schmitt (2008) und Fleischer (Fleischer 1989) zeigen, ist die oben geschilderte Bedeutung des Mimesisbegriffs um den für die Dramaturgie entscheidenden Aspekt der schöpferischen Teilnahme des Publikums und Lust am Lernen, (Wieder-)Erkennen und Sich-Erschließen der Welt zu erweitern. Mit der so gewichteten Terminologie kann, solange der seit Souriau geläufige Diegesebegriff außen vor bleibt, die besondere Qualität und Überzeugungskraft der sich im Film abwechselnden Modi der Nachahmung ausgedrückt werden.

Für die Filmmusiktheorie sind nicht nur die Begriffe diegetisch und nicht-diegetisch aus Souriaus Vorstoß zur Diegese abgeleitet worden. Claudia Gorbman erwähnt mit Verweis auf Genette auch den Begriff meta-diegétic.65 Der Begriff soll eine weitere, untergeordnete Erzählinstanz bezeichnen, z. B. wenn eine Figur aus ihrer Perspektive von den Ereignissen erzählt und deren Ordnung verantwortet. In der aktuellen Filmmusiktheorie wird oft jene Musik damit bezeichnet, die (wie auch die Gedankenstimme) aus der subjektiven Perspektive einer Figur erklingt, d. h. »im Kopf«, als Gedanke, Erinnerung oder auditive Vision, z. B. Musik in Komponierszenen, die von anderen Figuren nicht gehört wird. Bei Genette bezeichnet meta-diegetisch den Modus, der als »Geschichte in der Geschichte« funktioniert, bei Wolf Schmid heißt dies »zitierte Welt« (Schmid 2014, S. 46).

Souriaus »diegetischen Raum« könnte man zur dramaturgischen Differenzierung der unterschiedlichen Wirkungsbereiche als imaginativen Handlungsraum bezeichnen und so den Begriff mimesis nicht nur als Nachahmung, sondern als »zeigende Darstellung« verstehen. Das Wortfeld Diegese/diegetisch könnte dann die Bedeutung von diegesis (»erzählende Darstellung«) behalten.66 Die Filmmusik in der Handlung (konventionell: diegetische Musik) könnte dann mimetische Filmmusik genannt werden, weil die Musik auditiv »gezeigt« wird (sowohl in der Ausführung durch Figuren als auch in jeder anderen Form, z. B. durch Wiedergabegeräte). Von außen kommende Filmmusik würde dann (allerdings genau anders herum als bisher üblich) als diegetisch bezeichnet werden, denn sie zeigt nicht, sondern »erzählt« und ist Teil des Berichts über die Ereignisse mit musikalischen Mitteln. Filmmusik, die nicht als Teil der Szene verstanden wird, gehört dann logisch zur indirekten, berichtenden statt zeigenden Art der Nachahmung, verweist zugleich auf eine mal deutlich, mal weniger deutlich erkennbare, von außen steuernde Erzählinstanz.

Bei Filmmusik, die sich wie z. B. beim underscoring im Genrekino oder beim mickey mousing in starkem Maße affirmativ zur Zeigehandlung verhält, zeigt sich sehr anschaulich, wie die soeben abgesteckte, zur derzeit üblichen Praxis umgedrehte Bedeutung der Terminologie die dramaturgische Bedeutung der Filmmusik zum Ausdruck bringen könnte. Denn mit dem Begriff »diegetisch« im ursprünglichen dramaturgischen Sinn würde das Offensichtliche erklärt werden können: dass externe Musik auch nachahmend ist. Da sie allerdings als von außen kommend verstanden wird, geschieht dies nur indirekt und wird ganz selbstverständlich als durch eine vermittelnde Erzählinstanz verantwortete Musik erkannt. Auch weniger affirmative Musik ist in dieser Logik nachahmend, hat aber gleichzeitig eine Tendenz zum Kommentar. Ben Winters (Winters 2010) schlägt für diese Unterscheidung externer Musik (die er extra-fictional music nennt) die Begriffe extra-diegetic music (ohne Bezug zu Aktionen der Protagonisten) und intra-diegetic music (mit [affirmativem] Bezug zu den Aktionen der Protagonisten) vor.

Die theoriegeschichtlich gewachsenen Probleme mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch werden durch immer neue Varianten eines Modells, dass den von vielen Seiten als problematisch angesehenen Diegesebegriff nutzt, nicht gelöst. Vor allem die daraus resultierende Illusion von Trennschärfe zwischen diegetisch und nicht-diegetisch ist als Problem oft diskutiert worden. So plädiert z. B. Gregg Redner für einen stufenlosen Übergang zwischen diegetisch und nicht-diegetisch (Redner 2011). Jeff Smith (Smith 2009) bemerkt zunächst völlig zutreffend, dass die durch Schnitte meistens nicht eindeutig zuzuordnenden Phänomene beim Einsatz von Musik im Film solange irrelevant sind, wie sie der Glaubwürdigkeit der erzählten Welt entsprechen oder zumindest nicht widersprechen. Er verwendet für diese dem Filmton eigene, variable Genauigkeit die Bezeichnung »fidelity of music« (Smith 2009, S. 15 f.), die auch Bordwell und Thompson nutzen. Auf sie beruft er sich auch bei der Unterscheidung von fabula und syuzhet und mahnt die Unterscheidung von narrativ und narration an (Smith 2009, S. 7), die auch bei Gorbman zu finden ist. Bei allen Schwierigkeiten, die aus der Übersetzung dieser Vokabeln ins Deutsche bestehen, kann gesagt werden, dass mit narrativ (als Substantiv: das Narrativ) die Anlage der erzählten Welt gemeint ist und aus meiner Sicht im Fabelbegriff enthalten ist. Narration (Narration als Vorgang) bezeichnet dagegen die strategisch dosierte Vergabe von Informationen für ein angestrebtes Verständnis der Geschichte durch ein ideales Publikum sowie die gezeigten, strukturierten und konkreten Handlungen.