Musikdramaturgie im Film

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Exkurs 1: Geschlossene und offene Form

Die in Fachkreisen gebräuchlichen Bezeichnungen »geschlossene« oder »offene Dramaturgien« gehen zurück auf die Typologie von Dramen in geschlossener oder offener Form von Volker Klotz (Klotz 1960/1999). Sein Modell, das überhistorische Stiltendenzen aufzeigen soll, kann prinzipielle Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen Handlung, Zeit, Ort, Figuren, Komposition und Sprache verdeutlichen. Für die Filmdramaturgie wurde das Konzept von offener und geschlossener Form von Kerstin Stutterheim adaptiert (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, Stutterheim 2015). Dass das Modell von Klotz kritisch gesehen und bzw. angewendet werden müsse, bemerkt und begründet B. Asmuth (Asmuth 2004, S. 48–50). Eine Übertragung auf die Filmdramaturgie gelingt nur mit Berücksichtigung filmästhetischer Prämissen, zu denen auch die Klangschicht mit der Filmmusik gehört.

Als geschlossene Form werden von Klotz Aufbau und Ausformung von Dramen bezeichnet, die eine in Struktur und Deutung vollständige Erzählung ausformen. Die Erzählweise orientiert sich hierbei meist auf eine Hauptfigur und einen Kontrahenten und bezieht gegebenenfalls Begleiterfiguren ein. Nebenhandlungen sind der Haupthandlung klar untergeordnet. Die geschlossene Form organisiert die Handlung so, dass sie exemplarisch oder als Ausschnitt für das Thema steht und die aristotelischen Ideale von Überschaubarkeit von Handlung, Zeit und Ort, die Unversetzbarkeit der Teile und die logische Aufeinanderfolge von Anfang, Mitte und Schluss größtenteils realisiert. Eine Szene hat ihre Bedeutung immer im Hinblick auf das Ganze.

Die offene Form erzählt vom Thema dagegen in lückenhafter Weise. Eine Szene steht für sich selbst und kann in der Reihung als Variante oder als Kontrast zu anderen Szenen gesehen werden. Das eigentliche Thema muss hinter der Handlung erst abgeleitet werden. Die Handlung kann unvermittelt beginnen, sie kann statt logisch z. B. assoziativ angeordnet oder gereiht werden und muss nicht zwingend in sich abgerundet sein.

»Das Ganze in Ausschnitten: Die äußere Handlung drängt über die Grenzen, die durch Anfang und Ende des Dramas gegeben sind, hinweg. Das Geschehen setzt unvermittelt ein, und es bricht unvermittelt ab. Innerhalb dieser Scheingrenzen verläuft es nicht kontinuierlich schlüssig, sondern punktuell interruptiv, nicht einer Entwicklung folgend, sondern Gleichwertiges reihend.« (Klotz 1960/1999, S. 217)

Außer Handlungskomposition, Zeit und Raum der Geschichte systematisiert Klotz auch typische Figurenkonstellationen als zur geschlossenen oder offenen Form gehörend: Figuren in geringer vs. großer Zahl, Ständeklausel vs. keine soziale Beschränkungen, eindeutige Bedürfnisse vs. komplexes Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt. Die Konflikte der Figuren werden in der offenen Form ausgestellt und nicht wie in der geschlossenen Form als spannungssteigerndes Element einer Kausalkette genutzt. (s. Abb. 2)


Abb. 2: Zentrale Aspekte im Modell der geschlossenen und offenen Form im Drama nach Klotz (nach: Jochen Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft [W. Fink Paderborn 2008]).

Offene Formen und Dramaturgien lassen sich weniger gut systematisieren, haben aber gemeinsame Merkmale: Beginn und Ende sind voraussetzungslos bzw. nicht abgeschlossen. Lose verknüpfte Episoden werden durch Assoziationen oder Zufälle zusammengehalten und gehören mehr oder weniger zu einem übergeordneten Thema. Das Publikum muss selbst aktiv werden und Sinn stiftend das Geschehen deuten oder es einer übergeordneten Idee zuordnen.

Dieser Teilaspekt des Modells zeigt Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des »offenen Kunstwerks« von Umberto Eco, mit dem die »offene Form« aber nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden darf. Hinter der Offenheit des Kunstwerkes stehen für Eco die besonderen Möglichkeiten der Teilhabe:

»Die Poetik des ›offenen‹ Kunstwerks strebt danach, im Interpreten ›Akte bewußter Freiheit‹ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpflichen Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerkes vorschriebe« (Eco 1973/1977, S. 31)

Hiermit kommt ein wichtiger Aspekt zur Sprache, der mit dem auch allgemeinsprachlich genutzten Wort »offen« kaum erfasst wird und daher auch Missverständnisse produziert.42 Andererseits wird mit dem von Eco geäußerten Gedanken auch deutlich, warum Filmmusik einen großen Anteil daran haben kann, ob geschlossene oder offene Erzählkonzepte funktionieren können. Denn Musik (insbesondere Instrumentalmusik) vertieft bei entsprechender Zuordnung den Inhalt im Sinne einer geschlossenen Form, bleibt aber dennoch ungegenständlich und bietet so auch die Möglichkeit, Form und Deutungen zu öffnen, zumindest wenn stereotype Kopplungen vermieden werden.

1.1.3 Explizite Dramaturgie

Die Abgrenzung zwischen den expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen soll eine weitere Möglichkeit zur Differenzierung der Formen und Wirkungsstrategien eines Werkes ermöglichen. Explizite und implizite Dramaturgieanteile wirken im Verbund und sind gemeinsam für Aufbau, Umsetzung und Wirkung eines Werkes verantwortlich.

Die expliziten Dramaturgieanteile ließen sich mithilfe der Kommentare und der erläuternden Zusätze von Arbogast Schmitt in seiner Übersetzung der Poetik des Aristoteles (sie konkretisieren in geschweiften Klammern die Deutungsspielräume des griechischen Textes) auch als die »konstitutiven« Teile eines Werkes bezeichnen. Aristoteles formulierte für die Nachahmung von Handlung folgende Bedingung:

»[…] die Anordnung der Handlungsteile muss so sein, dass das Ganze sich ändert und in Bewegung gerät, wenn auch nur ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Das nämlich, was da sein oder nicht da sein kann ohne erkennbaren Unterschied, ist kein {konstitutiver} Teil des Ganzen.« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 8, 1451a30)

Die Nähe zum Konzept der geschlossenen Form ist unverkennbar: Die Unverrückbarkeit der Teile eines Werkes und ihre daraus resultierende konstituierende Eigenschaft sind wichtige Merkmale der expliziten Dramaturgie. Zur expliziten Dramaturgie gehören alle Elemente des Handlungsaufbaus und der an der Oberfläche stattfindenden Handlung. Dazu gehört auch das Sujet, das ein Prinzip für die konkrete Ausgestaltung der Handlung und die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten kann, darstellt. Das Sujet konkretisiert das Umfeld und setzt den Figuren und Ereignissen charakteristische Grenzen. Dies zusammen sind die an der Oberfläche sichtbaren handlungs- und strukturbezogenen Gestaltungselemente und Parameter. Sie sind als konstitutiv anzusehen, da eine Veränderung dieser Bestandteile die Logik der Entfaltung der Geschichte verändern würde.

Gliederung und Form (Anfang – Mitte – Schluss), Strukturen, Unverrückbarkeit der Teile, der zweckmäßige Umfang eines Werkes und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung sind die grundlegendsten Elemente der expliziten Dramaturgie. Dies ließe sich mit den Worten Aristoteles’ auch so formulieren:

»Wir haben {als Ergebnis} bereits festgehalten, dass die Tragödie die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung ist, die einen gewissen Umfang hat. Es kann etwas nämlich auch ein Ganzes sein, ohne einen nennenswerten Umfang zu haben. Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist, was selbst nicht aus innerer Notwendigkeit auf etwas Anderes folgt, nachdem aber naturgemäß etwas Anderes ist oder entsteht. Ende dagegen ist, was selbst nach etwas Anderem ist, und zwar entweder notwendig oder meistens, nach dem aber nichts anderes {folgen muss}. Mitte ist das, was selbst nach etwas Anderem ist, und nach dem etwas Anderes ist. Wer also eine Handlung zusammenstellen will, darf nicht von irgendwoher, wie es sich gerade trifft, anfangen, noch, wie es sich gerade ergibt, irgendwo enden, sondern muss sich an die genannten Kriterien halten. […] Bei welcher Größe es sich ergibt, dass die mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgenden Handlungsschritte zu einem Umschlag vom Glück ins Unglück oder vom Unglück ins Glück führen, dies ist die hinreichende Begrenzung der Größe.« (Aristoteles 2008, S. 12; Kap. 7, 1450b24)

Hier werden von Aristoteles neben Umfang, Strukturfragen und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung auch die Wirkungsqualitäten der Wendepunkte angesprochen, die auch zur expliziten Dramaturgie gehören.

Explizite Dramaturgie kann sowohl ein Sammelbecken für Normen sein, als auch – wie Dahlhaus auf das Musiktheater bezogen schrieb – eine Reihe »begrifflicher Hilfsmittel« zur Verfügung stellen,

»deren Funktion es ist, dem Verständnis der einzelnen Werke in ihrer Besonderheit den Weg zu bahnen. Die ›explizite Dramaturgie‹, die als Theorie oder Theoriefragment formuliert wurde, bildete keinen Kodex […], dem die Werke sich fügen mussten, sondern gleichsam ein kategoriales Gerüst, mit dem man sie umstellte und das man wieder abriss, sobald es seinem Zweck, der Rekonstruktion der ›impliziten‹ Poetik individueller Werke, gerecht geworden war.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 468)

Explizite und implizite Dramaturgie unterscheiden sich auch bei der Darstellung und Erzeugung von Komik und Humor. Während Komik (wie wir sie aus Filmen von Buster Keaton, Charles Chaplin u. a. kennen) überwiegend auf der expliziten Ebene funktioniert, z. B. durch Mittel der Unangemessenheit, Körperlichkeit, Übertreibung, Verwechslung und Eskalation, entfaltet sich Humor hauptsächlich implizit durch Erkennen von Zusammenhängen oder Anspielungen. Deren Entschlüsselung bereitet eine andere Art von Vergnügen als die Unmittelbarkeit der Komik. Als Beispiel für einen solchen humorvollen Einsatz kann die Verwendung von Strauss’ Also sprach Zarathustra in WALL•E (USA 2008, R. Andrew Stanton) genannt werden. Das Hinzudenken des inzwischen bei einem Großteil des Publikums bekannten audiovisuellen Kontextes des Stückes führt bei der Entschlüsselung zum Schmunzeln, während der Ernst der Szene (die Menschheit kehrt endlich zurück zur Erde, um sie wieder zu begrünen) erhalten bleibt.

 

1.1.4 Implizite Dramaturgie

Implizite Dramaturgie befasst sich mit Bedeutungsanteilen, die einen Film (oder ein anderes Kunstwerk) auf tiefergehender Ebene oder alternativ verstehbar werden lassen. Nicht selten sind diese Anteile in Andeutungen oder Codes versteckt und beziehen sich auf den gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Hintergrund. Hinweise zu Teilaspekten oder zum Umfeld des gewählten Themas, des Films, der Filmschaffenden oder des Publikums können zu besonderen Wirkungen führen, wenn sie als spezielle Teilmomente in die Strukturen der hauptsächlich erzählten Geschichte eingearbeitet sind.43

Die gesellschaftlichen oder künstlerischen Bezüge müssen bekannt sein und passend übersetzt werden, um ein Werk umfassender zu verstehen und »zwischen den Zeilen« zu lesen. Der Aktualitätsbezug eines Werkes beruht in starkem Maße hierauf. Bei Inszenierungen von Klassikern am Theater oder an der Oper werden die Strategien der impliziten Dramaturgie durch das sogenannte »Regietheater« besonders deutlich, die entweder für ein tiefergehendes Verständnis der Vorlage oder für den Aktualitätsbezug eines Werkes, den es bei seiner Entstehung nicht haben konnte, stehen. Es werden so gewisse Teilaspekte des in einer Geschichte verhandelten Themas akzentuiert, aber ohne diese direkt anzusprechen.

Der implizit herbeigeführte Aktualitätsbezug oder zusätzliche Bedeutungsebenen einer erzählten Geschichte sind für die Dramaturgie von großer Bedeutung und können auf allen Ebenen des darstellenden Erzählens realisiert werden. Oft betrifft dies Fragen des Zeitgeistes oder die Einbettung eines Werkes in ein bestimmtes persönliches, künstlerisches Umfeld oder in aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse. Generell akzentuiert das Konzept der impliziten Dramaturgie die Verstehensleistung des Publikums und markiert damit jene Anteile der Wirkung eines Kunstwerkes, die durch kollektive oder individuelle Aufschlüsselungen und Deutungen von Teilelementen entstehen, die bei alleiniger Untersuchung der expliziten Strukturen und Gestaltungselemente unbeachtet bleiben würden. Die Kategorien der impliziten Dramaturgie stellen damit auch Hilfsmittel zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen Kunstschaffenden und Publikum über das Kunstwerk zu untersuchen.

Hegel betitelte in seiner Ästhetik einen Abschnitt, der sich mit solchen Aspekten befasst, die in der hier verwendeten Systematik der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind, mit der »Äußerlichkeit des idealen Kunstwerkes im Verhältnis zum Publikum«:

»Wie sehr es [das Kunstwerk] nun aber auch in sich eine übereinstimmende und abgerundete Welt abbilden mag, so ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht FÜR SICH, sondern FÜR UNS, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und genießt. […] Nun ist zwar das wahrhafte Ideal in den allgemeinen Interessen und Leidenschaften seiner Götter und Menschen für jeden verständlich; indem es seine Individuen jedoch innerhalb einer bestimmten äußerlichen Welt der Sitten, Gebräuche und sonstiger Partikularitäten zur Anschauung bringt, tritt dadurch die neue Forderung hervor, dass diese Äußerlichkeit nicht nur mit den dargestellten Charakteren, sondern ebensosehr auch MIT UNS in Übereinstimmung trete.« [alle H. i. O.] (Hegel 1818–29/1984, S. 259, Bd. 1)

Die Voraussetzungen, die Hegel dafür nennt, wie ein Kunstwerk »mit uns in Übereinstimmung« zu bringen sei, sind den Aspekten der heute implizit genannten Dramaturgieanteile sehr nahe: »ein breiter Apparat geographischer, historischer, ja selbst philosophischer Notizen, Kenntnisse und Erkenntnisse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1). Hegel benennt auch Spezifikationen des »Partikulären«, also der konkreten fiktiven bzw. realen Umstände, und fragt hierfür, »wie ein Kunstwerk in betreff auf die Außenseite des Lokals, der Gewohnheiten, Gebräuche, religiösen, politischen, sozialen, sittlichen Zustände gestaltet sein müsse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1), um verstanden zu werden und das Publikum im Innern zu berühren. Diese Gedanken zeigen besonders deutlich, dass Strukturmodelle (als expliziter Dramaturgieanteil) allein kein Garant für eine gelungene Dramaturgie sein können.

Im Vorwort einer interdisziplinär angelegten Veröffentlichung, die sich dem Thema implizite Dramaturgie widmet, schreibt Rolf Rohmer von den Schwierigkeiten und Vorteilen der Forschungsmethode:

»Die erste Gruppe der vorliegenden Studien geht dem Phänomen der ›impliziten Dramaturgie‹ nach. Sie erkundet das Wirken dramaturgischer Strategien und Effekte insbesondere dort, wo sie weder reflektiert oder verbal behauptet noch konzeptionell ausgewiesen sind, sondern wo sie einfach stattfinden. Hier mussten bewährte Fragestellungen aufgegeben, erprobte Instrumente verworfen, sichere Wege und Methoden verlassen werden. Gleichzeitig konnten bestimmte Grenzen – Kunstgattungen wie Kommerz betreffend – nicht weiter gelten. Nun ließen sich dramaturgische Implikationen surrealer Filmsequenzen, kommerzieller Musicalpräsentationen, personaler Regiestrategien aufdecken, konnten neue kontextuale (Entertainment, Happening, Zitat) wie internale dramaturgische Sachverhalte (Rhythmus, musikalische Strukturen, metrische Potenziale, filmische Bildsprache) angegangen werden.« (Rohmer 2000, S. 8)

Doch wie lässt sich nun der Begriff der »impliziten Dramaturgie« definieren? Einige Passagen aus Rohmers Text enthalten zusammenfassende Beschreibungen:

»Freilich bestimmen solche einzelnen Sachverhalte [die der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind] auch wenn sie gehäuft auftreten nicht die Gesamtstruktur des Werkes, sie bilden nicht ihr ›Gerüst‹. Sie haben aber doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Sie verweisen auf oft nicht bemerkte dramaturgische Dimensionen in der Gesamtstruktur, präzisieren oder gewichten einzelne ihrer Teile bzw. Zusammenhänge und werden damit wichtig für die Deutung der Werke. […] ›Implizite Dramaturgien‹ sind spezielle Strukturelemente von unterschiedlicher, häufig grundsätzlicher Bedeutung, zwar in die Texte eingeschrieben, aber auffällig durch eine Art Sonderstellung im sich entfaltenden Textmaterial. Oft sind sie aus dem philosophischen, kulturgeschichtlichen, biografischen und sonstigen Umfeld des Autors in die Texte transponiert und dort gewissermaßen als Knotenpunkte festgemacht.« (Rohmer 2000, S. 15)

Der vielleicht offenkundigste Unterschied zur expliziten Dramaturgie ist dadurch erkennbar, dass die Strategien der impliziten Dramaturgie speziell die über die Handlung hinausweisende Sinnkonstitution befördern. Implizite Dramaturgie beeinflusst die Deutung eines Werkes durch Präzisierungen. Das gelingt durch Strukturelemente, die mit alltäglichen und medialen Erfahrungen der Rezipierenden verknüpft werden. Bezogen auf Filmwerke schreibt Christine Lang:

»Implizite Dramaturgien […] sind […] mit den historisch ein Filmwerk umgebenden ästhetischen Diskursen, mit technischen Innovationen und gesellschaftspolitischen Umständen verbunden.« (Lang und Dreher 2013, S. 35)

Das Funktionieren dieser Sinnkonstitution (die Gewichtung und Präzisierung von inhaltlichen Zusammenhängen) durch implizite Dramaturgie ist daher abhängig von den »Lesefähigkeiten« des Publikums, welche wiederum regional und historisch ganz unterschiedlich sein können:

»Implizite Dramaturgie [ist] nicht zuletzt und zum größten Teil für die Realismus-Wirkung und die Authentisierung des Erzählten verantwortlich. Stil und Humor sind immer zeit- und kontextabhängige Phänomene, und wenn etwa Metaphern und Verweise auf das Welt- und Alltagswissen medial erfahrener Rezipierender nicht stimmen, können ein Film oder eine Fernsehserie schnell ahnungslos oder naiv wirken.« (Lang und Dreher 2013, S. 34)

In Ergänzung zu expliziten dramaturgischen Mitteln, mit denen eine Form von Glaubwürdigkeit innerhalb der Handlung erreicht wird,44 wirken Geschichten erst dann überzeugend, wenn Inhalte und ästhetische Mittel durch Strategien der implizite Dramaturgie mit dem kulturellen, sozialen und sonstigen Hintergrund des Publikums verknüpft werden. Die Digitalisierung der Medienwelt erlaubt zudem sehr weitreichende oder verzweigte Bezüge, denn sie führt zur ständigen Verfügbarkeit von nahezu allen künstlerischen Werken bzw. ihren Reproduktionen, ihren Stilen und ihrer Ästhetik. Durch Digitalisierung kann permanent und umfänglich Bezug auf künstlerische oder gesellschaftspolitische Diskurse genommen werden. Die Bezugnahme zu Erfahrungen des Publikums mit anderen künstlerischen Werken oder Alltagserfahrungen aus einer Vielzahl anderer Lebensbereiche ist somit sehr leicht herzustellen, sodass künstlerische Strategien darauf aufbauen können. Die auf solche Weise erzeugten Bedeutungszusammenhänge sind für Inszenierung, Aufschlüsselung und Deutung eines Werkes – insbesondere im sich stets von wandelnder Technik beeinflussten Medium Film – nicht selten essenziell.

In der Theatertheorie und -dramaturgie ist die Unterscheidung in einen expliziten und einen impliziten Wirkungsradius der Gestaltungselemente geläufiger als in anderen Disziplinen, die sich mit dem darstellenden Erzählen befassen. Im Handbuch der Filmdramaturgie von Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser wird diese Terminologie erstmals auf die Filmdramaturgie übertragen (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 57–60). Aber schon Kristin Thompson (Thompson 1986) untersuchte in diesem Sinne implizit zu nennende Dramaturgieanteile im Film.45 Auch Dahlhaus unterschied in seiner Opern- und Librettotheorie (Dahlhaus 1992) bereits explizite Dramaturgie und implizite Poetik, wie das Zitat im vorigen Kapitel belegt.46

Für die Filmmusikforschung wurde die Differenzierung in explizite und implizite Dramaturgieanteile bisher noch nicht angewendet. Da aber insbesondere die Digitalisierung im Bereich des Films (d. h. die Verfügbarkeit zahlloser Medien, die Intertextualität und Verweisketten zulassen) zu einer Potenzierung der künstlerischen Möglichkeiten und damit einer vermuteten größeren Bedeutung der impliziten Dramaturgie geführt hat, kann dieser heuristische Ansatz auch für die aktuelle Filmmusikforschung sinnvoll und fruchtbar werden. Die Strategien der expliziten und impliziten Musikdramaturgie sollten aber nicht verabsolutiert, sondern in ihrem Zusammenwirken gesehen werden. Erst dann entfaltet sich der Sinn der Differenzierung in explizite und implizite dramaturgische Wirkungsbereiche. Die hier vorgeschlagene Systematik, mit der explizite und implizite Anteile der Musikdramaturgie differenziert werden können, ermöglicht es, verdeckt eingearbeitete Bestandteile und Strategien mit einem weiter reichenden Wirkungsradius zu analysieren und diese als Teildramaturgien zu verstehen.

Teilaspekte der impliziten Dramaturgie im Film, die aus Sicht der film-, fernseh- und medienwissenschaftlichen Forschungszweige besonderes Interesse erlangt haben, wurden bisher untersucht, ohne die hier verwendete Terminologie zu verwenden. Intertextualität oder ein abgegrenztes ästhetisches System (wie z. B. in den Filmen von Quentin Tarantino) berufen sich auf Regeln und Kontexte, ohne die das Werk kaum zu entschlüsseln ist. Am Beispiel der Fernsehserie BREAKING BAD hat Christine Lang implizite Dramaturgie bereits als spezifischen analytischen Zugang angewendet.47 Intertextualität als Teilaspekt der impliziten Dramaturgie spielt vor allem bei Untersuchungen zu Popmusik als Filmmusik, präexistenter Musik und musikalischen Zitaten im Film bereits eine bedeutende Rolle.48 Der Beitrag der Filmmusik zu einer so gewonnenen Komplexität eines Filmwerkes ist ein mehr und mehr bearbeitetes Forschungsfeld, in welchem noch viele Fragen und Bereiche ausgelotet werden können.