Musikdramaturgie im Film

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Danksagung

Für ihre wertvolle Hilfe durch Gespräche, Anmerkungen, generelle und spezielle Hinweise oder sonstige Unterstützung danke ich den folgenden Personen (in alphabetischer Reihenfolge) sehr: Prof. Jens Becker, Ornella Calvano, Franziska Döhler, Prof. Dr. Hartmut Fladt, Stephanie Hörnes, Dr.in Anna Igielska, Prof. Dr. Georg Maas, Dr. Dieter Merlin, Prof. Peter Rabenalt, Pascal Rudolph, Prof. Dr.in Monika Suckfüll, Prof. Dr.in Kristin Wardetzky, Prof. Dr. Peter Wuss, Rita Ziller.

Besonderer Dank gilt dem Team der Hochschulbibliothek und Mediathek der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, darunter ganz besonders für ihre engagierte Hilfe: Uwe Figge, Kirsten Otto und Susanne Reiser.

Unschätzbar wertvoll war und ist der Austausch mit den Studierenden der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, insbesondere aus den Studiengängen »Sound«, »Sound for picture«, »Drehbuch/Dramaturgie« und »Filmmusik«. Dieses Buch habe ich auch (wie es sinngemäß Arnold Schönberg einmal ausdrückte) von ihnen gelernt.

Teil I Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Im Film kann Musik als ein wesentliches Element der Dramaturgie einen faszinierenden Anteil an der Wirkung haben. Doch wie kann dieser analysiert, beschrieben und erklärt werden? In der Musik selbst stecken bereits Anteile dramaturgischer Gesetzmäßigkeiten, z. B. eine kalkulierte Verlaufswirkung, der Zusammenhalt der musikalischen Mittel untereinander oder das Einbeziehen von Publikumswissen. Beim Zusammentreffen verschiedener Kunstsysteme, die ihre eigenen Gesetze zu Sprache, Musik und Bild einbringen, prägt der Film eigene Spezifika aus.

Die Kapitel des I. Teils sollen die Grundlage bilden, um diesen Dingen nachzugehen und eine Bestimmung des Begriffs »Musikdramaturgie im Film« zu ermöglichen. Kapitel 1–3 bewegen sich im interdisziplinären Umfeld der Filmmusik, beginnend mit der Frage, was unter Dramaturgie, Filmdramaturgie und filmischer Narration verstanden werden kann. Der changierende Begriff »Dramaturgie« wird hinterfragt, die wesentlichsten Aspekte zur Filmdramaturgie werden erläutert. Danach richtet sich der Blick auf musikgeschichtlich gewachsene Konnotationen zwischen Musik und außermusikalischen Inhalten, narrative Analogien in der Musik, psychologische Anteile der Filmwahrnehmung und Grundlagen der emotionalen Teilnahme am Film. Die Beschäftigung mit den filmästhetischen Bedingungen, unter denen Musik im Film wirkt, folgt der Ansicht, dass Dramaturgie auch eine ästhetische Theorie beinhaltet, die Inhalt, Struktur und Wirkung zueinander in Beziehung setzt.

Die verschiedenen Blickwinkel in den ersten drei Kapiteln sind durch Querverweise und Rückfragen miteinander verbunden, auch um nach geeigneter Terminologie für ein Konzept der Musikdramaturgie im Film und die musikdramaturgische Analyse von Musik im Film zu suchen.

1. Dramaturgie und Musik
1.1 Dramaturgie
1.1.1 Begriffsbestimmung Dramaturgie

Eine Begriffsbestimmung für den Terminus »Dramaturgie« vorzunehmen, die alle mit Dramaturgie praktisch oder theoretisch in Berührung kommenden Bereiche, Kunstformen, Wissenschaftsdisziplinen usw. gleichermaßen berücksichtigt (und die Ansichten der Vertreterinnen und Verfechter ausreichend berücksichtigt), ist nach eingehender Untersuchung der Materie kaum möglich. Es stellt sich sogar die Frage, ob Dramaturgie überhaupt als Begriff taugt. Ähnlich verhält es sich bei der Diskussion, wie weit der Begriff »Filmmusik« zu fassen sei, wodurch einige Schwierigkeiten für eine wissenschaftliche Betrachtung von Musikdramaturgie im Film entstehen.

In diesem Kapitel wie auch in der gesamten Untersuchung finden sich Gedanken, Definitionen und Tendenzen wieder, die einen Dramaturgiebegriff untermauern, der praktische, analytische und theoriebildende Aspekte berücksichtigt. Die Gewichtung dieser Anteile kann je nach Kontext, in dem das Wort Dramaturgie gebraucht wird, sehr unterschiedlich ausfallen. Zusammengehalten werden die genannten Aspekte durch die Ästhetik des darstellenden Erzählens, zu dem auch die Kunstform Film gezählt werden kann. Der hier dargelegte Dramaturgiebegriff greift Grundlagen der Theaterdramaturgie auf, schließt dabei antike, klassische und zeitgenössische Prägungen ein und öffnet sich auch den Erkenntnissen und Kategorien der Narratologie, die für die Filmwissenschaft und Filmmusikforschung immer bedeutsamer geworden sind.

Ein aus der Belletristik stammendes Zitat zeigt anschaulich und kompakt die vielen Anteile, die Dramaturgie als Theorie und Praxis der Erzählkunst hat, und rückt einen noch nicht genannten Aspekt in den Mittelpunkt: dass der/die Erzählende um das Wissen des Publikums weiß und die eigene Sichtweise auf Thema und Geschichte zwar nicht vollständig offenlegt, aber dennoch durchblicken lässt:

»Ich selbst genoss meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft für das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, dass man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen musste, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im Übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wusste, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dieses Wissen war die Grundlage meines Berichts.«

Thomas Bernhard, Ein Kind (Bernhard 1982/2012, S. 35 f.)

Dramaturgie ist ein Bereich der Praxis (Erfindung und Umsetzung) und zugleich der Theorie (Analyse und Reflexion der Regeln). Um eine Brücke zwischen theoretischen und praktischen Anteilen von Dramaturgie zu schlagen, kann man grundsätzlich sagen, dass Dramaturgie als eine Form des kreativen Durchdenkens einer Sache mit den Mitteln der poetischen Gestaltung zeitbasierter Künste verstanden werden kann. Daraus ergibt sich, dass Dramaturgie kein geschlossenes oder homogenes System darstellt – in diesem Sinne sollten die zitierten Definitionen oder Anmerkungen verstanden werden. Unterschiedliche Auffassungen zu und Anforderungen an Aufbau, Umsetzung und Rezeption einer Geschichte lassen Dramaturgie als vielfältiges und keineswegs normatives Gefüge begreifbar werden. Dieses Gefüge besteht aus in der Praxis gewonnenen und erprobten Strukturen und Wirkungsstrategien, die sich nicht selten zu erzählerischen Modellen und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen zu Wahrnehmung und Aufschlüsselung von narrativen Werken verfestigt haben. Hierauf aufbauend entwickelte und entwickelt sich Dramaturgie als künstlerische und – wenn auch noch vereinzelt – zunehmend wissenschaftliche Disziplin, die unterschiedliche theoriebildende Ansätze und Forschungstraditionen bedient oder nutzt.

Der im Folgenden ausgebreitete Dramaturgiebegriff berücksichtigt, dass Dramaturgie Strukturen und Wirkungen hervorbringt, aber mit ihrer Hilfe dieselben zugleich auch analysiert werden können.1 Ein solcher Dramaturgiebegriff lässt Strategien und Wirkungen als (bewusst oder unreflektiert) auf einer in Werken und Theorien überlieferten Basis sich entfaltend begreifbar werden. Aber auch nicht vollständig benennbare und dennoch praktizierte Strategien und funktionierende Wirkungsmechanismen sind Teil von Dramaturgie. Der Dramaturg und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière spricht sogar von einem »Geheimnis«, das dem Erzählen innewohnt, und verortet damit Dramaturgie indirekt in einem Bereich, wo nicht alle Gestaltungselemente und Wirkungsweisen entschlüsselbar sind, aber dennoch in der Praxis existieren.2

Der Terminus »Dramaturgie« zielt insgesamt auf drei wesentliche Aspekte des darstellenden Erzählens ab:

 1. die Tätigkeit der Fertigung und Aufführung von Dramen (in der Philosophie »Poiesis« genannt, altgriechisch: für zweckgebundenes Handeln),

 2. die Lehre von den Regeln und Prinzipien für die Umsetzung im Rahmen der dem Medium entsprechenden Kriterien (»Poetik«)

 3. eine Theorie, die Rechtfertigungen und Analysemethoden für die postulierten Regeln liefert und systematisiert.3

Aus der Perspektive, Dramaturgie als Werkzeug der Umsetzung wie auch Analyse zu betrachten, hat, als Beispiel, Gotthold Ephraim Lessing auf zeitgenössische Dramenaufführungen geblickt. Seine »Hamburgische Dramaturgie«4 enthält neben den Analysen implizit auch eine Theorie der Theaterdramaturgie. Er greift dabei unter anderem auf den von Aristoteles mit »Mythos« titulierten, in der Folge aber mit »Fabel« übersetzten Terminus (Schmitt 2008, S. 222) für die Organisation der Einheit der Handlung zurück und führt den Begriff »Intrige« ein (Lessing 1767/69, S. 163 f.). »Intrige« steht in manchen Dramentheorien für das Prinzip der »Fabel«, in anderen für den Teil der Geschichte, der durch meist entgegengesetzte Interessen und daraus resultierende Konflikte eine Handlung vorantreibt. Lessing knüpft an das aristotelische Paradigma an, dass die Handlung aus Notwendigkeit und nach Wahrscheinlichkeit voranschreiten solle (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35), und führt es mit den Ideen der Aufklärung zusammen. Die Katharsis, meist als Reinigung von den Affekten Furcht, Schaudern und Mitleid bzw. als Ausgleich dieser Affekte verstanden,5 transferiert Lessing demnach zu einer Verwandlung hin zu einem tugendhaften und aufgeklärten Geist.

 

Von Brecht wurden die inhärenten Grundlagen der aristotelischen Dramaturgie und des bürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie z. B. die Einfühlung in Protagonisten und Konflikte sowie die schicksalhafte Unabänderlichkeit der Umstände, in denen eine Geschichte angesiedelt ist, scharf kritisiert. Doch auch er verwendet den Begriff »Fabel« und sieht ihn als einen zentralen dramaturgischen Terminus an. Zu Brechts Verständnis eines reformierten Fabel-Begriffs gehört die Idee, dass das Wesen des Menschen sich durch sein gesellschaftliches Handeln zeige.6 Dramaturgie ist aus dieser Sicht nicht nur die Lehre vom Drama (in allen seinen Formen und Medien), sondern immer auch eine Form der Lehre vom Menschen.7

»Fabel« bzw. »Intrige«, »Figur« und »Konflikt« sind zentrale Kategorien der traditionellen Dramaturgie. Normative Dramaturgien überlieferten zudem für den Dramenaufbau Vorgaben, so z. B. die überschaubare Einheit von Handlung, Zeit und Raum. Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl an Begriffen für Handlungskomposition, Figurenrede und die sinnlich erfahrbare Darbietung. Auch hier findet sich die theoretische Basis schon bei Aristoteles, der sechs Ebenen eines Dramas benennt: Einheit der Begebenheiten als Handlungskomposition (mýthos), Charaktere (ēthos), sprachliche Gestaltung (lexis), Denkweise (diánoia), die Aufführung (ópsis) und Lieddichtung (melopiía)8 (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a10). Das, was heute als Handlung bezeichnet wird, entsteht aus der Verflechtung dieser Ebenen. Aristoteles unterschied dafür Handlungen (pragmata) und das Geflecht aus Handlungen (praxeis). Der Begriff »Drama«, aus dem das Wort Dramaturgie seinen Ursprung hat, bezeichnet dagegen die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darstellende.

Die Handlungskomposition wird in vielen Übersetzungen »fabula« oder »Fabel« genannt. Der Handlungsaufbau enthält gegebenenfalls normierte Stationen bzw. Momente für den Anstoß oder die Fortsetzung der Handlung, z. B.: »Kollision«, »Umkehr« bzw. »Peripetie« (auch: Handlungs- oder Glücksumschlag), »Erkennung« (anagnṓrisis) sowie »erregendes« und »retardierendes Moment« oder »steigende« und »fallende« Handlung (Freytag 1863) als Pendant zu Aristoteles’ »Schürzung des Knotens« und »Lösung des Knotens«. In Schmitts Übersetzung der Poetik von Aristoteles: »Verwicklung« und »Lösung« (Schmitt 2008).

Gustav Freytag, wie auch Otto Ludwig in seinen von Nationalismus getragenen »Shakespeare-Studien« (Ludwig 1874/1901), beharrte auf einem Fünf-Akt-Schema, das nur auf einen eingeschränkten Korpus angewendet werden kann9 und welches das aristotelische Ideal erweitert. Damit einhergehend konnten gelockerte Regeln für eine Tragödie erfasst werden, z. B. für die Anzahl der handelnden Figuren oder für Handlungsorte. Auch Nebenhandlungen und Neben- oder Begleiterfiguren konnten im fünfaktigen Drama ausführlicher in Erscheinung treten. Einer Geschichte können so zusätzliche Bedeutungsebenen verliehen werden. Die bisher genannten Basisbegriffe sind – wie sich in den Untersuchungen zeigen wird – auf den narrativen Film produktiv anwendbar.10

Zu den Bereichen des darstellenden Erzählens, die mithilfe der Dramaturgie erfasst werden können, gehören nicht nur die Strukturen und Wirkungen, sondern auch die Figuren und ihr äußeres Erscheinen sowie ihr innerer Charakter und »sozialer Gestus« (Becker 2012, S. 4). Hier hinein fließen auch soziologische und psychologische Aspekte. Figuren lassen sich dann in »Charaktere« und »Typen« unterscheiden, deren physische Erscheinung sichtbar, deren geistige Eigenschaften dagegen unsichtbar sind (Becker 2012, S. 3 f.) – nicht zuletzt für die Filmmusik und Musikdramaturgie ein möglicher Ansatzpunkt. »Charaktere« sind individuell angelegt, komplexer gezeichnet und können Veränderungen durchlaufen. Im Handeln der »Charaktere« zeigen sich immer auch der überdauernde Teil der Figur und ihre ethischen Grundsätze. Davon kann das Pathos eines »Charakters« abgegrenzt werden, der den augenblicklichen Gemütszustand oder Affektausbruch zeigt. »Typen« sind Figuren, die sich im Verlauf der Handlung nicht ändern, die exemplarisch für überpersönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen stehen und meist in Zusammenhang mit feststehenden Sujets, Genres und Situationen auftreten. Nicht selten sind Nebenfiguren als »Typen« zu bezeichnen.

Dramaturgie berührt auch die Inszenierung eines Werkes. Auf den Film übertragen bedeutetet dies allerdings, dass eine Inszenierung während vieler Phasen der Filmherstellung stattfindet: während des Drehs in der Arbeit mit Schauspielerinnen und bei der sogenannten »Auflösung« einer Szene (Position der Kamera, Kamerafahrten, Position der Schauspieler im Setting u. a.), bei der Montage und Bildbearbeitung sowie bei der abschließenden Filmmischung. Die Filmmischung ist nicht die Vervollständigung der Tonspur, sondern dient der Entscheidung und Festlegung dazu, wie Musik und Ton »inszeniert« werden. Erst im Zusammenwirken entfaltet alles seinen dramaturgischen Sinn. Hier mögen die Auffassungen darüber, wie weit Dramaturgie reicht, auseinandergehen. Die Musikdramaturgie im Film wird vom abschließenden Arbeitsschritt, der Filmmischung, entscheidend mitgeprägt. Hier werden alle auditiven Gestaltungselemente zueinander in Beziehung gesetzt, es wird ihre »sensorische Qualität«11 bestimmt und alles Klingende in endgültiger Form in Beziehung zur Geschichte gesetzt.

Bei der Suche nach einer Definition von Dramaturgie finden sich einerseits solche, die die Breite der Thematik und Anwendungsbereiche abzudecken versuchen, dabei naturgemäß sehr allgemein bleiben, zum anderen Definitionen, die z. B. nur auf das Theater beschränkt sind, einen in anderer Weise eingeschränkten Dramaturgiebegriff fortschreiben oder bestimmte Teilaspekte in den Vordergrund rücken. Einige seien an dieser Stelle zitiert, gerade weil keine Definition allein für diese Arbeit tragfähig erscheint.

»Dramaturgie ist angewandte Poetik […], die sich der Beziehung zwischen dem zugrunde liegenden Text, den konzeptuellen Überlegungen, die einer Aufführung oder der Vorführung vor Publikum vorangehen und deren Realisierung widmet. […] Dramaturgie ist als eine Teildisziplin der Ästhetik eine tradierte praxisbezogene wie praxisbasierte Wissenschaft, die sich dem Geheimnis des Erzählens widmet und gleichermaßen analysiert wie darstellt, was ein das Publikum unterhaltendes wie anregendes narrativ-performatives Werk ausmacht. Als Methode kann man Dramaturgie im übertragenen Sinne auch als Dialektik des darstellenden Erzählens verstehen. Die Begriffe und Kategorien der Dramaturgie werden in der dramaturgischen Tätigkeit – sei es die Analyse oder das ›Ins-Werksetzen‹ – mit dem konfrontiert, was mit ihnen ausgedrückt wird, und so stets in der Praxis überprüft.« (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 15)

Zur Ergänzung zitieren die Autorinnen aus Standardwerken, z. B. aus dem »Metzler-Lexikon Theatertheorie«, um weitere Anteile der Definition von Dramaturgie zu nennen, die in der Regel im Vordergrund stehen: Dramaturgie umfasst demnach auch

»[…] das Wissen um und die Kenntnis der semantischen Dimension wie auch der strukturellen Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit von Texten, die dazu geschaffen sind, in eine Bühnenhandlung transformiert zu werden.« (Weiler 2005, S. 80).

Dass Dramaturgie nicht nur Strukturmodelle für die Schaffung eines Werkes benennt, sondern zugleich auf ein Publikum ausgerichtete Strategien einschließt, wird im selben Artikel weiter ausgeführt:

»Darüber hinaus umfasst Dramaturgie die Reflexion auf ein zu erwartendes bzw. vorwegzunehmendes Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschehen auf der Seite der Zuschauer. Diese Reflexion kann sich durch den Reflexionsprozess in allen theatralen Elementen visuell oder lautlich manifestieren. So gesehen ist Dramaturgie durchaus als Strategie zu bezeichnen.« (Weiler 2005, S. 80)

Die hierin bereits angesprochene Fähigkeit des Publikums, eigene Prognosen zu Verlauf oder Inhalt bei der Filmwahrnehmung zu bilden und operativ weiter zu verwenden, wird nicht unerheblich von Musik bzw. Einsatzformen von Musik im Film beeinflusst – ein Gedanke, der die Argumentation in den folgenden Kapiteln stets begleitet.12

Eine Sicht, die verschiedene Dramaturgieanteile zur Gesamtdramaturgie eines Werkes des darstellenden Erzählens vereint sieht, vertritt unter anderen Eugenio Barba.13 Er ist Theatermacher und Theoretiker, der die Interaktionen der unterschiedlichen Gestaltungsebenen als Teil der Dramaturgie reflektiert:

»In a performance, actions (that is, all that which has to do with the dramaturgy) are not only what is said and done, but also the sounds, the lights and the changes in space. At a higher level of organization, actions are the episodes of the story or the different facets of the performance, between two changes in the space – or even the evolution of musical score, the light changes, and the variations of rhythm and intensity which a performer develops […].« (Barba und Savarese 1991, S. 68)

So unscharf und teilweise vage (wie auch hier bei Barba) die Terminologie zur Dramaturgie aufgrund ihrer Position zwischen Praxis und Theorie ist und im Falle des Films in besonderem Maße auch im Spannungsfeld der ökonomischen Kräfte steht, führen doch wichtige Begriffe immer wieder zu Aristoteles. Dessen Poetik (entstanden nach 335 v. d. Z., zuletzt von Arbogast Schmitt 2008 neu übersetzt und sehr ausführlich kommentiert) gibt für viele Basisbegriffe der Formtypen, Fabelkonstruktion, Figuren- und Konfliktkonstellationen, Wirkungsmuster und Affektdispositionen die Grundlage ab. Mit dem Wort »action« benutzt Barba vermutlich ganz bewusst ein Wort, das auf Aristoteles’ Gebrauch des Begriffs »Drama« rekurriert.14

Aristoteles ist als Quelle auch deshalb von Bedeutung, weil er in seiner Poetik immer wieder die von Homer und anderen antiken Autoren in eine Form gebrachten antiken Erzählungen einer ursprünglich oralen Tradition würdigt. Gerade dann, wenn Kino als zeitgemäßer Ort des Erzählens aufgefasst wird, ist der zu den oralen Erzähltraditionen zurückschauende Blick von Interesse. Aristoteles verweist auf die Kunstfertigkeit, die diese nunmehr fixierten Erzählformen in sich tragen. Sie besteht, wie die Erzählforschung belegt,15 außer in den gewählten Versformen, die auch dem Memorieren dienten, noch grundlegender auch im Arrangement der Episoden, der Verschachtelung vieler auch separat existierender Geschichten innerhalb einer Haupt- oder Rahmenhandlung, dem Einweben von thematisch bestimmenden Grundmotiven über Episoden hinweg, moralischen Akzentuierungen als Kommentar zur aktuellen Lebenswelt der Adressaten,16 gegebenenfalls im Aufschub des weiteren Geschehens zur Spannungssteigerung (Retardierung) und Ähnlichem mehr. Es ließe sich demnach selbst dann von Dramaturgie sprechen, wenn es sich nicht um Dramen handelt, sondern zugehört oder gelesen wird, weil Strategien hierzu (Strukturierung, Spannungsaufbau, das Wissen um das Wissen des zuhörenden oder lesenden Publikums) die Grundlage bilden, bei Leserinnen oder Zuhörern Interesse und Unterhaltung hervorzurufen.

 

Die bereits oben genannten Klassiker der Dramaturgie können aufgrund ihrer analytischen Fähigkeiten und ihres Beitrags zur Theoriebildung immer wieder konsultiert werden, insbesondere um die dramaturgische Basis des darstellenden Erzählens zu untersuchen. Die historischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen diese Theorien entstanden, haben sich zwar geändert, doch bleiben universelle Gesetzmäßigkeiten, Ergebnis unzähliger praktischer Erfahrungen, erhalten. Dazu gehört, wenngleich Gewichtung und Vokabeln dafür unterschiedlich sein können,

 – dass eine Handlung begrenzt wird durch einen Ursprung, Anstoß und ein darauf bezogenes Endigen,

 – dass Figuren sich durch ein sie charakterisierendes Handeln zeigen, das deutlich macht, was sie vorziehen zu tun oder was sie vermeiden wollen,

 – dass Handlungen eine innere Notwendigkeit (in Übereinstimmung mit dem Charakter der Figur) und eine größtmögliche äußere Wahrscheinlichkeit haben, d. h. immer auf einen Figurenkonflikt oder einen anderen Ursprung der Handlung bezogen sind, der zu seinem logischen Ende geführt wird,

 – die Beachtung einer allgemeinen Ökonomie der Mittel (Verwendung der geeignetsten, prägnantesten Motive und Konzentration auf Zusammenhänge, die der gesamten Handlung dienen),

 – dass eine Handlungskomposition die eindrücklichste Anordnung dieser Handlungen darstellt

 – dass das Publikum die positiven oder negativen Sachverhalte, die eine Figur betreffen, mitempfindet und ggf. wegen der Konsequenzen bangt,

 – dass Umkehrpunkte in der Handlungskomposition (Wendungen in der Handlung, die unumkehrbar sind), Kulminationspunkte, beschleunigende oder retardierte Mittel den Verlauf strategisch gliedern,

 – dass tragische, komische und tragikomische Gattungen eigene Gesetze für Fabel, Figuren und Lösung der Konflikte haben,

 – dass Referenzen zu Alltag, Publikumswissen, Zeitgeist oder anderen künstlerischen Werken der Entstehungszeit oder aktuellen Zeit eine Entfaltung oder Aufschlüsselung des Werkes beeinflussen.

Im Begriff Dramaturgie steckt neben der strukturellen auch eine wirkungsästhetische Dimension, denen sich diese Kriterien beugen müssen. Dabei spielen wahrnehmungspsychologische Phänomene eine wesentliche Rolle, die eng mit den Wesensmerkmalen der Verlaufskünste zusammenhängen:

»In allen prozessualen Künsten (Musik, Tanz, Theater, Film) beziehen sich die in langer Geschichte entstandenen künstlerischen Formen neben ihrem subjektiven individuellen Ausdruck eines bestimmten sozial und historisch gebundenen Zeitgeistes auch auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung von zeitlich ablaufenden Ereignissen. Elementare physiologische und psychologische Konditionen wie Erregung und Entspannung, Aufmerksamkeit und Ermüdung, Erwartung und Enttäuschung, Bestätigung und Überraschung werden in der Strukturierung der gestalteten Abläufe berücksichtigt.« (Rabenalt 2011, S. 32)

Zum empirisch-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Wesen von Dramaturgie gehören demnach nicht nur tradierte, funktionierende Grundmuster des Formaufbaus eines Dramas, nicht nur Modelle für die Konstruktion und Entfaltung der Fabel, die Strukturierungen der gestalteten Abläufe in unterschiedlichsten Formen, sondern auch die wirkungsästhetische Frage, wie dies alles in der Wahrnehmung des Publikums unter den gegebenen Bedingungen der Rezeption funktionieren kann und zum Nachvollziehen der Geschichte einlädt.

Die hieraus erwachsende Frage, was Spannung in der Dramaturgie bedeutet, ist aber noch nicht beantwortet. Carl Dahlhaus schrieb mit Blick auf das Musiktheater:

»Den trivialen Begriff von dramatischer Spannung zu berücksichtigen, der sich in der Vorstellung von raschem Tempo, dichter Ereignisfolge und einer Häufung von unaufhaltsam einer tragischen oder komischen Katastrophe entgegen treibenden Vorgängen erschöpft, dürfte überflüssig sein.«

Entscheidend sei vielmehr

»die Konfiguration der Personen und Affekte: eine Struktur, deren innere Spannung in jedem Augenblick fühlbar und nicht geringer als die Spannung einer Verkettung von Vorgängen ist, bei denen das Moment der Prozessualität in den Vordergrund tritt.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Spannung entsteht demnach, wenn Affektdarstellungen sich ergänzend kontrastieren und einander durchkreuzen. Dies kann – dem Alltagsgebrauch des Wortes »dramatisch« für ereignisreiche, spannende oder ergreifende Phasen des Erlebens ganz klar widersprechend – sowohl mit dramatischen, epischen als auch lyrischen Mitteln geschehen. Dahlhaus fügt hinzu:

»Eine dramatisch besonders wirksame Form der Spannung ist der Gegensatz zwischen manifesten und latenten Vorgängen, wie er aus Ibsens und Tschechows Schauspielen als Kontrast zwischen einer scheinbar harmlosen Konversation und den tragischen Ahnungen, die gleichsam in den Rissen des Dialogs einen Augenblick lang sichtbar werden, bekannt ist.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Dramaturgie dient dem Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und auditiven Mitteln. Dabei darf Spannung aber nicht als allein prozessorientierte Verdichtung oder affektiv aufgeladener Vorgang missverstanden werden. Die durch dramatische, lyrische oder epische Mittel erzeugten Bezüge zwischen »äußerer« Handlung (suspense bzw. Verkettungen von Vorgängen handelnder Figuren) und »innerer« Handlung (tension bzw. sich durchkreuzende Affektdispositionen) lassen wirksame Formen der Spannung entstehen.