Buch lesen: «Ressentiment»
Das Ressentiment ist ein hoch komplexer psychologischer Mechanismus mit weitreichenden individual- und sozialpsychologischen Implikationen. Es eignet demjenigen, dem die eigene Identität sowie der Wert derselben zutiefst fragwürdig geworden ist – der aufgrund fortwährend scheiternder Selbstbehauptung an einem beschädigten Selbstverhältnis leidet. Es äußert sich im verzweifelten wie fehlgeleiteten Versuch, Ohnmacht in Macht und Selbstzweifel in Selbstgewissheit zu verkehren – auf Kosten des ›Anderen‹, der aufgrund der eigenen Schwäche gar nicht mehr anders denn als Bedrohung wahrgenommen werden kann. Die Feindbildkonstruktion ist die zentrale Funktion des Ressentiments, die Freund/Feind-Logik das zentrale Prinzip einer vom Ressentiment versehrten Gesellschaft.
Das Ressentiment ist eine Denk- und Gefühlsstruktur, die prädestiniert dafür scheint, von Populisten als Machttechnik instrumentalisiert zu werden. Darum ist die Auseinandersetzung mit ihm – gerade in Anbetracht der teils dramatischen Erfolge des politischen Populismus – für die in die Defensive geratende Demokratie so eminent wichtig.
Dr. ROBERT MÜLLER lebt und arbeitet als freier Autor in Erfurt. Er hat über den Nihilismusbegriff bei Nietzsche und dessen radikalen Gegensatz – Bedeutung im emphatischen Sinn – promoviert. „Vom Verlust der Bedeutungsschwere: Eine Zeitdiagnose des Nihilismus“ (2015) ist ebenfalls bei Text & Dialog erschienen.
Robert Müller
RESSENTIMENT
Wiege des Populismus
Verlag Text & Dialog
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E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
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ISBN 978-3-943897-48-7 (E-Book)
ISBN 978-3-943897-47-0 (Print)
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
1. Ressentimentbildung, primär Ohnmacht, Affekthemmung, Selbstvergiftung
2. Ressentimentbildung, sekundär Entrealisierung Selbstbildstabilisierende Maßnahmen Selbstinduziertes Leiden, selbstinduzierte Ressentimentbildung Das Ressentiment als ›Zweite Natur‹
3. Ressentiment, individualpsychologisch Primat der Emotionen Leidphänomen Primat der Retrospektive Ressentiment als ›besinnungsloser‹ Zustand Primat der Negativität
4. Ressentiment, sozialpsychologisch Intrasubjektiv, intersubjektiv Mikrosoziologisch Makrosoziologisch Die überindividuellen Qualitäten des Ressentiments
5. Ressentiment als Machttechnik Mobilisierung und Modellierung von Ressentiments durch den Populismus Ressentimentale Gesellschafts(de)formationen
6. Philosophische Implikationen des Ressentiments Oder Die Geburt der europäischen Kultur aus dem Geist des Ressentiments Herrenmoral, Sklavenmoral Das asketische Ideal, der asketische Priester Die Bewahrung (und Verkleinerung) des Lebens Der Fluch der ressentimentalen Umwertung Der Segen der ressentimentalen Umwertung Ressentiment & Nihilismus
7. Kritik des Ressentiments Religion Sozietät Moral
8. Wider das Ressentiment Das Ressentiment im Anderen Das Ressentiment in mir
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Endnoten
VORWORT
Eine Philosophie, die nicht bei den Menschen ihrer Zeit beginnt, die nicht ihre drängenden Fragen, ihre Nöte und Ängste bedenkt, ist obsolet. Sie muss mit dem Leben der Menschen, über die und für die sie nachdenkt, intim sein. Nur dann werden spezialisierte Philosophensorgen zu Menschheitsangelegenheiten. Aktualität und Praktikabilität sollten aber nicht der alleinige Fokus der Philosophie sein – ihr Ursprung gleichwie ihr Ziel sind grundsätzlicher, vollumfänglicher. Sie darf sich nicht in den Fragwürdigkeiten ihrer je spezifischen Zeit erschöpfen – gerade in ihrem weit darüber hinaus reichenden Horizont scheinen Perspektiven, ja Antworten auf, für die das ›Tagesgeschäft‹ oft blind ist.
Emblematisch zeigt sich dies am Phänomen des Ressentiments. Das maßgeblich von Nietzsche in den philosophischen und schließlich allgemeinen Sprachgebrauch eingebrachte Theorem gilt nicht nur aus moralphilosophischer, sondern auch aus sozialpsychologischer, religionssoziologischer und politologischer Perspektive als einer der wichtigsten Beiträge zur modernen Kultur- und Geistesgeschichte. Zugleich schillert in diesem Begriff eine Tagesaktualität, die greifbarer kaum sein könnte. Heute erleben wir den politischen Aufstieg des Populismus bis ins Herz der vormals stabilen westlichen Demokratien. Das Ressentiment ist zweifelsfrei ein Aspekt in einer immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Gemengelage, der diesen Aufstieg begünstigt. Gerade darum ist es heute eminent wichtig, sich mit ihm auseinanderzusetzen – aber eben nicht verkürzt auf die Spezifika der aktuellen Inkarnationen der Populisten, sondern grundsätzlich und grundphilosophisch. Denn das Ressentiment ist keine Neuerung und der Populismus nicht seine einzige Folge. Es ist ein unheimlicher Gast, um mit Nietzsche zu reden, der wohl schon, so hartnäckig wie ungebeten, unter Menschen weilt, seit Menschen Gemeinschaften bilden. Erst von hier aus – vom umfassenden Verständnis des Ressentiments – ergibt sich ein umso klarerer Blick auf die gegenwärtige Situation.
Ressentiment und Populismus stehen in einer tiefgreifenden, wechselseitigen Beziehung. Augenscheinlich ist, wie gesellschaftlich bestehendes Ressentiment so hemmungs- wie verantwortungslos von den Populisten als Machttechnik instrumentalisiert und somit potenziert und radikalisiert wird. Bei näherer Betrachtung erweist sich umgekehrt das Ressentiment als eine Denk- und Gefühlsstruktur, die Voraussetzung und Grundbedingung für den Populismus ist und ihn wesentlich hervorbringt. Ressentiment fungiert solcherart als Wiege des Populismus. Es eignet demjenigen, dem die eigene Identität sowie der Wert derselben zutiefst fragwürdig geworden ist – angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher Unrechtserfahrungen, Verwundungen, Erniedrigungen, und scheinbar unüberwindbarer Ohnmacht. Es äußert sich in dem verzweifelten wie fehlgeleiteten Versuch, Ohnmacht in Macht und Selbstzweifel in Selbstgewissheit zu verkehren – auf Kosten des Anderen, des Fremden, des noch Schwächeren und erst recht Machtlosen. Die Feindbildkonstruktion ist die zentrale Funktion des Ressentiments, die Freund/Feind-Logik das zentrale Prinzip der ressentimentversehrten Gesellschaft.
Die vorliegende Studie untersucht das Ressentimentphänomen sowie die schrittweise Ausweitung der Kreise, die es zieht: es ist ein primär individualpsychologisches Phänomen. Daher sind zunächst die intrasubjektiven Mechanismen, die Ressentiment hervorrufen, und die Art und Weise, wie sie die Persönlichkeit überformen, Gegenstand der Betrachtung. Es hat darüber hinaus wesentlich ein sozialpsychologisches Potenzial. Folgt man ihm auf die intersubjektive Ebene, kommen seine sich zuerst im mikro- und schließlich im makrosoziologischen Raum entfaltenden Wirkmechanismen in den Blick. Dabei zeigt sich, wie das Ressentiment von politischen Akteuren als Machttechnik instrumentalisiert wird und welche Folgen dies für die Gesellschaft hat. In der eingehenden Auseinandersetzung mit dem Ressentimentbegriff im Kontext von Nietzsches Thesen zur Entstehung von Moral zeigt sich ein noch weiter gefasster Wirkungskreis: auf einer sozusagen ›völkerpsychologischen‹ Ebene deutet Nietzsche das Ressentiment als einen der zentralen Faktoren in der Entstehung der europäischen Kultur insgesamt. Darauf folgt eine umfassende Kritik der bisherigen Befunde sowie der Wirkungsgeschichte des Ressentimentbegriffs. Das Schlusskapitel deutet schließlich in groben Linien Widerstandskräfte gegen die Mechanismen des Ressentiments, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene, an.
Dieser Essay will ein philosophisches (das heißt aus Leidenschaft zur Erkenntnis), ein eminent aufklärerisches Angebot zur Orientierung und reflexiven Vergegenwärtigung sein: er dient nicht zuletzt der Bewusstmachung der eigenen unvermeidlichen Versuchung durch und Verstrickung in das Ressentiment – der permanenten Gefahr, sich für die scheinbar leichtere, nämlich ressentimentale Lösung zu entscheiden, die gerade in dem Bemühen lauert, sich von Ressentiment und Ressentimentmensch zu distanzieren. In dem Streben, sich über die Ursachen des Ressentiments, seine im Unbewussten wirkenden Mechanismen und seine zutiefst verfängliche innere Logik Rechenschaft abzulegen, gründet die Hoffnung, die in uns allen abrufbaren dunklen Kräfte – wie Hass und Verachtung, Neid und Racheverlangen, Furcht und Verbitterung – zu lichten und einzuhegen, ihnen Widerstandskräfte entgegenzusetzen und sie konstruktiv zu wenden. Denn das Ressentiment birgt immer das Risiko, sich ihm anzuverwandeln, wenn man es zu bekämpfen sucht, seinerseits der unseligen Freund/Feind-Logik zu verfallen und so seine realitätsverzerrende und autosuggestive, seine feindselige, ausgrenzende und zersetzende Wirkung noch zu verstärken. Diesem Risiko trotzt, wer dem fehlgeleiteten Selbstbehauptungszwang auf Kosten des Anderen die Gelassenheit innerer Souveränität entgegen setzt.
Res|sen|ti|ment [rɛsãti'mã:, rǝ…], das; -s, -s [frz. Ressentiment = heimlicher Groll, zu: ressentir = lebhaft empfinden] (bildungsspr.): auf Vorurteilen, Unterlegenheitsgefühlen, Neid o.Ä. beruhende gefühlsmäßige, oft unbewusste Abneigung.1
Res|sen|ti|ment […] 2. (Psychol.) das Wiedererleben eines (durch das Wiederbeleben verstärkten) meist schmerzlichen Gefühls.2
Ressentiment (v. lat. resentire, nachfühlen), Bez. für ein unterschwelliges Haß- u. Rachebedürfnis, das aufgrund eines wiederholten Erlebens einer unbewältigten schmerzl. Situation entsteht. Im Ggs. z. Neid resultiert das R. aus einer existentialen Mißgunst, nicht aus dem Begehren eines erwerbbaren Gutes.3
Ressentiment (franz.), Nacherleben eines früheren Gefühls und deshalb Verstärkung dieses Gefühls; bes. […]: Gegengefühl, Vergeltungs-, Rachegefühl, Bedürfnis nach Abwertung der Qualitäten und Leistungen des Anderen, Gefühl des ohnmächtigen Hasses, den der sozial und geistig tiefer Stehende gegen den Vornehmen und Mächtigen empfindet.4
Ressentiment. 1. Französische Wortgeschichte. – Das Wort ‹R.› gehört wie ‹Milieu› zu jenen Begriffen aus der französischen Sprache, für die es in keiner anderen Sprache ein Ersatzwort gibt. Das Substantiv ist vom Verb ‹ressentir› abgeleitet und seit dem 16. Jh. in der französischen Literatur belegt. Entsprechend der inhaltlich zunächst neutralen Bedeutung des Verbs, das nicht den Inhalt, sondern nur die Art des Empfindens bezeichnet im Sinne eines ‚nachhaltigen und so auch nachwirkenden Empfindens‘, kann auch das Substantiv ‹R.› für längere Zeit eine inhaltlich neutrale, aber ‚nachhaltige Empfindung von besonderer Stärke‘ bezeichnen. […] Insgesamt bezeichnet ‹R.› eher ‚Empfindungen negativen Inhalts‘ als solche positiven Inhalts, weil sich negative Empfindungen nachhaltiger einprägen als positive. […] Den unvermeidlich überwiegenden Negativakzent des R. belegt schon M. de Montaigne, der den Begriff vermutlich in die Literatur eingeführt hat. Er verwendet ‹R.› sowohl im Sinne einer ‚nachhaltigen Empfindung‘ [vor allem des Schmerzes] als auch im Sinne des sich aus dieser ergebenden ‚Rachegedankens‘.5
1. RESSENTIMENTBILDUNG, PRIMÄR
Am Anfang steht der Konflikt. Und die Unfähigkeit, diesen Konflikt auszutragen. Am Anfang steht der Unterlegene – der von vornherein Unterlegene. Derjenige, der dem Konflikt ausweicht, der seinen Standpunkt nicht zu benennen, seine Interessen nicht zu vertreten wagt, der sich ohnmächtig wähnt gegen die Übermacht des Anderen. Die Genesis des Ressentiments beginnt in den allzu menschlichen Affekten, die dem Unterlegenen, dem vielfach Unterlegenen, von seinen Niederlagen her zuwachsen. Der Zorn, der Groll, der Hass, die Verbitterung, der Rachedrang – die Bosheit, die sich von ihnen nährt. Und all dem gegenüber: die Ohnmacht, diese negativen Affekte ins Konfliktgeschehen hineinzutragen, ihnen Ausdruck zu geben, sie den spüren zu lassen, dem sie gebühren. Nietzsche charakterisiert den Ressentimentmenschen als denjenigen, dem »die eigentliche Reaktion, die der That« versagt bleibt; und der sich darum nur mit dem Mittel der »imaginäre[n] Rache« schadlos halten kann.6 Er ist derjenige, der dem Konflikt machtlos gegenüber steht, stattdessen »das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen« wählt.7 Es ist diese Hemmung, dies Nicht-Ausagieren der angesichts der Niederlage, der Herabwürdigung und Kränkung nur natürlichen Affekte, durch die das Ressentiment Eingang in die menschliche Psyche findet. Sie befördert die ressentimentale Doppeldeutigkeit – bestehend aus dem wiederholten Erleben des Schmerzes und dem sich davon ableitenden Wunsch nach Rache – herauf.
OHNMACHT, AFFEKTHEMMUNG, SELBSTVERGIFTUNG
Scheler identifiziert im Racheimpuls die gewichtigste Keimzelle des Ressentiments – worauf dessen Wortbedeutung ja bereits hinweist. Er erweist sich als reaktive Gemütsbewegung, als »Antwortsreaktion«, die Scheler dezidiert von aktiven oder aggressiven Impulsen unterscheidet: »Jedem Racheimpuls muß ein Angriff oder eine Verletzung vorhergegangen sein«. Er ist nicht primär, nicht originär – und gleich dem Racheimpuls ist auch das Ressentiment, das einmal aus ihm erwachsen mag, wesentlich Reaktion, ein Antwortgeschehen, das erst von einem ursprünglicheren und äußeren Reiz evoziert wird. Der Racheimpuls muss wiederum von anderen reaktiven Impulsen unterschieden werden: dem Akt der Verteidigung, dem Gegenschlag etwa. Während diese eine unmittelbare Reaktion darstellen, kommt bei der Rache die genannte Impulshemmung zum Tragen: die Gegenreaktion wird hier zumindest zeitweilig suspendiert und auf eine günstigere Zeit und eine bessere Gelegenheit verschoben. Gleichwohl ist der Racheimpuls – gleich anderen reaktiven Affekten wie »Hass, Bosheit, Neid, Scheelsucht, Hämischkeit« – noch nicht Ressentiment. Sie gehören allesamt zum »Grundbestande der menschlichen Natur«, sind natürlicher und durchaus gesunder Bestandteil des menschlichen Gefühlshaushalts.8 Aber sie haben das Potential, zu Ausgangspunkten und Entwicklungsstadien der Ressentimentbildung zu werden. Dieses Potential eignet ihnen als Antwortreaktionen auf erlittene Verletzungen und Kränkungen – es entfaltet sich, wenn sie in der Abreaktion gehemmt werden. Um diesen Affekten die ihnen angemessene Abfuhr zu verschaffen, müssen sie situativ ausagiert werden – etwa durch den »adäquaten Ausdruck der Gemütsbewegung«, also durch tätliche Verteidigung, durch das Ausholen zum Gegenschlag, oder zumindest durch spontanen Protest gegen die gerade erlittenen Verletzungen, kurz: das Benennen und Austragen des Konflikts. Dies kann alternativ durch »sittliche Überwindung« geschehen: etwa durch eine aufrichtig empfundene Entschuldigung des Aggressors, die dem Verletzten zur Genugtuung gereicht und das beschädigte Ehrgefühl wieder herstellt, und/oder durch »echtes Verzeihen« des Verletzten. Es mag ferner dadurch geschehen, dass dieser mit der Zeit schlicht seinen Frieden mit der Ehrverletzung durch den Anderen macht, sie verarbeitet, verwindet. In jedem Fall: wer sein Racheverlangen, seinen Hass oder seinen Neid ungehemmt auslebt, verfällt – Schelers Logik zufolge – nicht dem Ressentiment.9 Die Bedingungen zu seiner Entstehung sei lediglich da gegeben, »wo eine besondere Heftigkeit dieser Affekte mit dem Gefühl der Ohnmacht, sie in Tätigkeit umzusetzen, Hand in Hand geht, und sie darum ›verbissen‹ werden«.10 Dieser Hemmung der reaktiven Affekte liegt ein »ausgeprägtes Gefühl des ›Nichtkönnens‹, der ›Ohnmacht‹« zugrunde. Es äußert sich in der Furcht, bei einem direkten Konflikt zu unterliegen, der durch die unmittelbare Gegenreaktion ja unausweichlich würde. Das Ohnmachtserlebnis ist ein unhintergehbarer Aspekt des Erlebniszusammenhangs und Grundvoraussetzung der Ressentimentbildung überhaupt.11
Das Nicht-Ausagieren dieser Affekte führt dazu, dass sie keine ihnen angemessene Abfuhr erfahren, sie darum in ihrem Träger verbleiben und in ihm sozusagen fortdauern. Sie werden re-sentimental. Deleuze schreibt: »Im Wort ›Ressentiment‹ steckt ein überdeutlicher Hinweis: Die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti)«.12 Das Präfix »Re-« deutet zudem den repetitiven Charakter dieses Prozesses an: das Wiederfühlen, das Wiedererleben und -durchleben der Unterlegenheit, der aus ihr resultierenden Verletzungen, der Schmach. Gleiches gilt für die daraus erwachsenden, eigentlich gesunden Affekte und das durchdringende Gefühl der eigenen Ohnmacht. Das wiederholte Durchleben und Durchleiden hält die ressentimentalen Affekte im Gefühlshaushalt ihres Trägers und erzeugt in ihm eine hartnäckige, allmählich an Kraft gewinnende Unterströmung. Und auch die Ohnmacht verschwindet ja nicht einfach wieder – sie wird im Gegenteil mit jeder negativen Erfahrung dieser Art verstärkt und verfestigt. Die daraus resultierende Hemmung mag am Anfang eine nur hin und wieder situative Reaktion auf den Konfliktfall sein. Sie wird ressentimental, wenn sie sich bald als gängiges Konfliktmanagement etabliert. Scheler charakterisiert das Ressentiment als eine »dauernde psychische Einstellung«, die »durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen« entsteht.13 Die Hemmung der Affekte wird über einen langen Zeitraum habitualisiert, sie wird strukturell, wird zu einer ›bewährten‹ Strategie. Es gibt nicht nur die eine einmal erfahrene Niederlage, die im Re- des Sentiments wieder und wieder durchlebt wird; ihr folgen unweigerlich immer neue Niederlagen und Kränkungen, immer neue Präzedenzfälle der eigenen Ohnmacht, die dann wiederum immer wieder durchlebt werden. So entsteht allmählich ein undurchdringliches Gewebe aus immer neuen Erfahrungen realer Niederlagen sowie immer neu erfahrener imaginierter Niederlagen – und einem bald unüberwindlich werdenden Ohnmachtsgefühl. So führt das unbefriedigende Verbleiben dieser unbefriedigten Affekte allmählich zur Akkumulation derselben: sie lagern sich über einen langen Zeitraum ab, gleich Sedimenten, füllen den Gefühlshaushalt Schicht um Schicht auf mit einer ganzen Phalanx negativer Empfindungen, verfüllen dabei nicht zuletzt dessen Variationsvielfalt – ihr Träger ist immer häufiger immer wütender, bis sich Wut schließlich wie ein Normalzustand anfühlt und er zugleich für andere Gefühlslagen immer unzugänglicher wird. So sinkt das Ressentiment allmählich »in das Zentrum der Persönlichkeit« ein.14 Es wird zu einer bestimmenden Größe in dessen Gefühlshaushalt.
Der ewig Unterlegene, der an seiner Ohnmacht Leidende, bildet zwangsläufig ein prekäres Selbstbild und Selbstverhältnis aus. Er ist in einer Art kreisender Erfahrung gleichsam zuhause, in der ihm die eigene Person, die eigene Identität und der Wert derselben zutiefst fragwürdig werden muss. Aus dieser Perspektive wird denn auch verständlich, wenn Scheler neben der Rache auch dem Neid, als zweiter zentralen Quelle des Ressentiments, höchste Bedeutung beimisst. Der an der Fragwürdigkeit des eigenen Werts Leidende erfährt die bloße Existenz des Überlegenen als Affront gegen die als minderwertig empfundene Selbsterfahrung – ein Affront, weil ihm die eigene Minderwertigkeit daran schonungslos bewusst gemacht wird. Aber zugleich schielt er auch neidvoll auf den Überlegenen, den scheinbar Selbstgewissen und Selbstbewussten. Dieser verkörpert, was sich der Unterlegene für sich selbst wünscht und unter dessen Ermangelung er zutiefst leidet. Neid an sich ist ein wesentlicher Bestandteil des Ressentimentphänomens. Er führt aber gerade und vor allem dann zur Ressentimentbildung, wenn er sich nicht auf erwerbbare ›Güter‹ oder ›Werte‹ bezieht – bei denen immerhin die reale, mindestens theoretische Möglichkeit besteht, sie sich anzueignen –, sondern auf grundsätzlich Unerwerbbares. Je ohnmächtiger der Neid wird, je unerreichbarer das Geneidete, desto unerträglicher ist er. Der Neid, der am stärksten zur Ressentimentbildung neigt, ist der auf »das individuelle Wesen und Sein einer fremden Person« gerichtete – ein Phänomen, für das Scheler den Begriff »Existentialneid« prägt. »Dieser Neid flüstert gleichsam fortwährend: ›Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, daß du bist und das Wesen bist, das du bist; nur nicht, daß nicht ich bin, was du bist; ja daß ›ich‹ nicht ›du‹ bin.‹ Dieser ›Neid‹ entmächtigt die fremde Person von Hause aus schon ihrer bloßen Existenz, die als solche als ›Druck‹, ›Vorwurf‹, furchtbares Maß der eignen Person empfunden wird«.15
Die ressentimental überformte Selbsterfahrung erweist sich solcherart als Bürde, als Zumutung. Die Erosion des Selbstwertgefühls und die schleichende Verstetigung von Affekten wie Rache oder Neid, Wut oder Bitterkeit zum Ressentiment werden vor allem durch »dauernde, kontinuierlich als ›verletzend‹ empfundene und der Willensmacht des Verletzten entzogene Zustände« begünstigt, die dieser aus eigener Kraft nicht zu ändern oder zu überwinden vermag, und so von ihm schließlich wie »als Schicksal empfunden wird«.16
Mit der Akkumulation der durchweg negativen Ressentimentaffekte und ihrem Einsinken ins Zentrum der Persönlichkeit beginnen sie, allmählich toxisch zu werden. Das sich herausbildende Ressentiment ist eine schleichende Selbstvergiftung. Nietzsche bezeichnet den ressentimentalen Menschen als »Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden«.17 An anderer Stelle schreibt er: »Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen«.18 Derjenige, der dazu neigt, diese potenziell giftigen Gefühle situativ auszuagieren, neutralisiert den Vergiftungsherd, bevor er um sich greifen kann. »Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit einem Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt«.19 Doch bei den zum Ressentiment Neigenden bleibt der Giftherd unbehandelt und breitet sich mit der Zeit immer weiter aus. Und mit der Zeit, »wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste«.20 Die Vergiftungserscheinungen, unter denen der Ressentimentmensch leidet, sind zunächst nicht akut. Ebenso wie das Ressentiment sich nur in einem langwierigen, schleichenden Prozess formt, baut sich auch nur langsam ein toxischer Spiegel auf. Je länger dieser Prozess andauert, desto tiefer senken sich die Giftstoffe sozusagen ins Gewebe – und desto schwerer lassen sie sich dann auch wieder aus dem System hinaus schwemmen.
Das Ressentiment befördert eine »peinvolle Spannung« zwischen den Ressentimentaffekten auf der einen Seite und der Ohnmacht auf der anderen Seite herauf. Einerseits sind die genannten Affekte derart stark, dass sie einen zu zerreißen drohen und darum nicht länger einfach unterdrückt bleiben können. Andererseits verhindert das durchdringende Gefühl der Ohnmacht die effektive Abfuhr der Affekte. Es gehört zu den zentralen Aspekten des Ressentiments, dass dieser Widerspruch nicht aufgelöst werden kann, dass der Ressentimentale unaufhebbar zwischen diesen beiden Polen gefangen ist.21 Die daraus resultierende Spannung, die ja zum Grund- und Lebensgefühl des Ressentimentmenschen, zum basso continuo seiner Selbsterfahrung geworden ist, wird mit der Zeit immer unerträglicher – bis es schließlich zu alternativen Formen des Spannungsabbaus kommt. Hier nun beginnt das Ressentiment, psychologische Abwehrmechanismen gegen die von ihm selbst verursachten psychischen Nöte auszubilden.