Abendland

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d) Der spanische Bürgerkrieg als konzentrierter Weltbürgerkrieg: »allumfassendes Abendland im Symbol Spaniens«

Es waren gerade die aus kirchlich-moralischen Gründen antinationalsozialistischen Katholiken, die im spanischen Bürgerkrieg, wo die Katholiken mit Franco und der Falange gegen den sogenannten atheistischen Kommunismus kämpften, eine großartige, geradezu befriedigende Perspektive fanden57: »Jenseits der für uns […] deutsche Katholiken damals unauflösbar scheinenden Aporie der kommunistischen ›Massenverderbnis‹ hier und der nationalsozialistischen ›Massenverderbnis‹ dort erschien der Kampf der spanisch-katholisch-faschistischen Waffen als eine unverhoffte Möglichkeit, für das aufrechte, wahre Spanien, für ewige Werte – und überhaupt für etwas außerhalb dieser deprimierenden Alternative eintreten zu können.«58

So resümiert der linkskatholische Historiker Heinrich Lutz 1970 seinen selbstkritischen Rückblick auf die Jahre 1936–39, die dem Weltkrieg unmittelbar vorausgingen. Lutz’ Stimme ist heute genauso wenig repräsentativ, wie es damals seine Erlebnisweise des Bürgerkriegs war. Sicher verband ihn und seine Freunde vom Schüler- und Studentenbund »Quickborn« mit dem kirchlichen Establishment, was Pius XII. am 16. April 1939 so ausdrückte: »Die Nation, die Gott erwählt hat und das unüberwindliche Bollwerk des katholischen Glaubens ist, hat soeben den Parteigängern des materialistischen Atheismus in unserem Jahrhundert die nachdrückliche Lektion erteilt, daß die ewigen Werte der Religion und des Geistes über allem stehen.«59 Aber Pius und die deutschen Bischöfe wollten mit Hilfe ihrer Solidarität für Franco-Spanien gleichzeitig Hitler zu einer für sie günstigeren Innenpolitik bewegen. Der Hirtenbrief des deutschen Episkopats von 1936 macht das ausdrücklich. In ihm »drängt« sich den Bischöfen »angesichts der spanischen Greuel als überaus zeitgemäß« der »Gedanke« auf: »nicht Bekämpfung des Gottesglaubens, wie ihn das Christentum lehrt, sondern unbedingte Erkenntnis, daß dieser Glaube die granitene Grundlage bildet, auf der sich der machtvolle Sicherungswall gegen den Bolschewismus aufbauen läßt. Nicht Kampf gegen die katholische Kirche, sondern Frieden und Eintracht mit ihr, um die geistigen Voraussetzungen des Bolschewismus zu bezwingen.«60

Und doch handelte es sich bei diesem Gedanken nicht ›nur‹ um ein »do ut des«, wie ein anderer Passus des Hirtenbriefs verdeutlicht: »Wenn jetzt Spanien dem Bolschewismus erläge, wäre das Schicksal Europas zwar noch nicht endgültig besiegelt, aber in beängstigende Frage gestellt. Welche Aufgabe damit unserem Volk und Vaterland zufällt, ergibt sich von selbst. Möge es unserem Führer mit Gottes Hilfe gelingen, dieses ungeheuer schwere Werk in unerschütterlicher und treuester Mitwirkung aller Volksgenossen zu lösen.«61 Ernst Bloch kommentiert mit Recht: »Der Hirtenbrief warnt die sanften Nazis vor der roten Gefahr, er hetzt den Marxistenfreund Hitler nach allen Seiten zur Intervention.«62 Das war zweifellos nicht nötig, hatte aber – unabhängig von der nationalsozialistischen Kirchenpolitik – wiederum zur Folge, den Hirtenbrief mit dem Appell an die deutschen Katholiken zu schließen, »in charaktervoller Festigkeit auszuharren und durch ein gewissenhaftes katholisches Leben […] die staatserhaltenden und volksfördernden Kräfte unserer göttlichen Religion zu beweisen«.63

Auch wenn seine kirchen- und christentumsfeindliche Haltung nicht mehr zu übersehen ist, paktiert die Kirche noch mit dem Faschismus; der gemeinsame Feind Kommunismus ›zwingt‹ sie dazu. Der Idealfall ist freilich ein katholischer oder zumindest katholisierender Faschismus wie in Spanien.* Francos Bündnis mit Mussolini und Hitler vergessen machend, bleibt Spanien auch nach 1945 ein »gelobtes Land«, so wie es den jungen deutschen Katholiken vom Schlag Amerys, Lutz’ Freund, 1936–39 erschienen ist: »Spanien – das war ein Land der Unbedingtheit, des ›Ja Ja, Nein Nein‹, des Wegfalls all der langweiligen Zwischen- und Grautöne von Recht und Unrecht, von Tugend und Laster.«64

Alfons Dalma, kroatischer Ustasch, dann österreichisch-deutscher Publizist und zeitweiliger Chefredakteur des Österreichischen Rundfunks, verweist 1953 in einem Aufsatz des Neuen Abendlands affirmativ auf die Kontinuität der antikommunistischen Hispanophilie, wenn er schreibt: »In einem Land, das immer noch klaffende Wunden eines Bürgerkriegs aufweist, in dem sich ganz eindeutig Christentum und Kommunismus gegenüber standen, verschwinden alle neutralistischen Bestrebungen, überlebte liberale Formen, parteipolitische Vorstellungen von der europäischen Einheit. In kastilischer Sicht wird Europa zuerst eindeutiger und dann auch größer als von der Warte der Pariser Redaktionsbuden, der Straßburger Konventikel, der Washingtoner strategischen Büros und den Bonner Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und seiner Opposition.«65

Apodiktisch heißt es in einem andern Neuen Abendland-Aufsatz Dalmas: Spanien ist »abendländischer und wehrfähiger als der Rest Europas.«** Hier regiert »Calderons standhafter Prinz«66. Und wenn der – zumindest als Caudillo (»von Gottes Gnaden«) – totalitär wäre? Dalma kümmert es nicht: »Totalitarismus? Wenn schon, dann gibt es in Spanien nur einen – das totale Gebot des Dekalogs und des katholischen Naturrechts. Das ist der unantastbare Rahmen des spanischen Regimes.«67 Es handelt sich um den rechten, das heißt katholischen Totalitarismus, Fortsetzung des ›römisch‹-gegenrevolutionären, der als solcher auch einen berechtigten Anteil an der Weltherrschaft hat. Das ist ein Gedankengang, wie ihn – gleichfalls im Neuen Abendland – 1956 ein H. Ludwig entwickelt: »Die wahre Resistenza gegen die Moderne geht vielleicht von Spanien, der ›äthiopischen‹ Erbin der imperialen ›virtus Romana‹, aus (wogegen Gallien und Italien zur Zeit dekadent erscheinen); hier herrscht noch Religiosität, Unsterblichkeits- und Totenopferkult und Ritterlichkeit. Und, wiegen die imperialen Virtutes, so wird das kommende atlantische Imperium iberisch-germanisch geführt und bestimmt sein: elliptisches Dioskurion unserer Hoffnung.«68

Was Ludwig unbeschadet seines mystifikatorischen Kulturismus ins Auge faßt, ist die ganz große Koalition, nicht mehr nur gegen Rotspanien, sondern das Rote als die Moderne überhaupt. Und der hispanophile Kulturismus hat seit den zwanziger und vor allem dreißiger Jahren eine bedeutende ideologische Rolle gespielt, genauer: die Beschwörung von Spaniens sogenanntem »siglo de oro« unter Karl V. und Philipp II. Der nationalsozialistische »Trotzkist« Westphal hebt auf den imperialen Rahmen, das heißt die machtpolitische Bedingung dieser kulturellen Blüte ab, wenn er des aktuellen Vergleichs wegen 1953 schreibt: »Die Länder Hitlers, Mussolinis und Francos umfaßten das Gelände der Monarchie Karls V. in Europa. Es war ein europäischer Block gegen die Sowjets wie einst gegen die Osmanen.«69*

Religiös-katholisch verwies schon Pius XII. in seiner Stellungnahme zum Franco-Sieg vom 16. April 1939 auf das »siglo de oro«, als er die spanische Mission in der Neuen Welt erwähnte und Spanien – in Verlängerung gegenreformatorischer Zeiten – »das unüberwindliche Bollwerk des katholischen Glaubens«70 nannte. Ein Auftrag und ein Faktum, die gleichfalls – gerade ursprünglich – den spanischen Imperialismus voraussetzten. Als er museal geworden ist, sind sie es auch, 1939, als Pius XII. sie erneut beschwört, schon eine ganze Zeit lang. Sie gehören nur noch zum nationalistischen Mythos des »ewigen Spanien«; ihm allein huldigt die kulturistische Hispanophilie – das »siglo de oro« gleichsam perennierend. Przywara zum Beispiel spricht noch 1960 vom »allumfassenden Abendland« des Claudelschen Seidenen Schuh »im Symbol Spaniens«71.

Es ist nicht zufällig, daß Przywara Spanien im Zusammenhang mit diesem Buch – für Wilhelm Hausenstein 1944 »vielleicht das Buch des Zeitalters«72 – als pars pro tota Occidente setzt; für Amery scheint Claudel hier – 1970 auf eine ihm doch recht verdächtig erscheinende Weise – »das ewige Spanien glorifiziert«73 zu haben.* Und Przywara selbst schreibt an anderer Stelle: Claudels Seidener Schuh spielt in der »Zeit und dem Spanien Karls V. und Philipps II. […] Das heißt aber« in »stärkster, repräsentativster alter Tradition christlichen Abendlandes«, in jener Zeit und dort, »wo dieses Abendland sich zur Welt hin auftat und wo es die Welt sich öffnete, um sie mit sich selbst zu durchdringen74 (Claudel war nicht zufällig Protagonist der französischen Katholiken, die Franco-Spanien offen unterstützten.)

2. Der imperialistische Aufgang des Abendlandes

Der spanische Bürgerkrieg als Symbol der Verteidigung des Abendlandes gegen den Bolschewismus und der Mythos vom ewigen Abendland, es gibt noch einen weiteren Aspekt der Abendland-Ideologie, den Spanien überrepräsentieren kann: In der spanischen Geschichte zeigt sich paradigmatisch, daß Abendland als politischer Kampfbegriff keineswegs nur defensiv gebraucht wird, sondern seit jeher imperialistisch aufgeladen ist. Noch die Piussche Missionsideologie ist die des spanischen Imperialismus von Anfang an: schon vor der Entdeckung, Eroberung und Ausbeutung der Neuen Welt. Diese sind im Grunde nichts anderes als Kreuzzüge auf erweiterten Schauplätzen und mit modernen Mitteln.75 Theresa von Avila erklärt in ihrem karmelitischen »Kampflied« post festum, doch für alle weitere Zukunft, »den permanenten Kreuzzug« in die eigene Nation und nach außen, in alle Welt.76

 

Es gibt eine eindrucksvolle, wie von einem Dramatiker erfundene Szene, die der Einheit von innerem und äußerem Kreuzzug unumstößliche Evidenz verleiht: Im Spätsommer des Jahres 1491, unter den Mauern der letzten Sarazenenfeste auf spanischem Boden, Granada, findet sich im Kriegs- und Hoflager des Königs Ferdinand des Katholischen und seiner Gemahlin Isabel Christoph Kolumbus ein. Er bitte um Schiffe für den Seeweg nach Indien. Wenige Monate später ist Granada gefallen und Amerika entdeckt. Das Ende der Reconquista, die Vertreibung der Mauren wie Juden und der Beginn des überseeischen Kolonialismus gehen nahtlos ineinander über. (So wie der Faschismus weithin als Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa wird beschrieben werden können.77* Nicht zufällig stellte – in unserem Zusammenhang – die spanische Kolonialarmee den Kern der »nationalen« Truppen. Der Putsch begann in Marokko, der » Domäneder Armee«, wo die Generäle sich benahmen, »als seien sie römische Prokonsuln«78.*)

Spanien, das so früh wie kein anderes europäisches Land den Geist (und Ungeist) des Glaubenskampfes hervorgebracht hat, ist auch das erste, das – unterm Zeichen der Heidenmission – die Neue Welt sich zu eigen macht. Jener Kreuzzugsgeist hat die Spanier (und Portugiesen) zu dieser Landnahme »vorbestimmt«, um Schneiders an Pius XII. gemahnende Rechtfertigung zu zitieren: »Spanier und Portugiesen hatten in den Glaubenskriegen mit den Mauren ihre Form gefunden und ihre Kraft bis zum äußersten verdichtet; sie waren vorbestimmt, als erste die dem Abendlande überantworteten religiösen und ethischen Werte über das Meer zu tragen, gewissermaßen als die Fahnenträger der Christenheit«79.**

Den gerechten Lohn für diese Mühen hervorhebend, feierte bereits der Begründer des spanischen Traditionalismus im 20. Jahrhundert, der Historiker und Philosoph Menendez y Pelayo, bei einer Calderon-Feier vor dem ersten Weltkrieg als erstes »den katholischen, apostolischen, römischen Glauben, der uns in sieben Jahrhunderten des Kampfes den vaterländischen Boden zurückerobern ließ und der im Morgengrauen der Renaissance den Kastiliern die Urwälder Amerikas auftat und den Portugiesen die fabelhaften Reichtümer Indiens erschloß«80.

a) Kolonialismus und Rassismus im Zeichen der Mission

Ironisch hat Pelayo – was den überseeischen Imperialismus angeht – nicht Unrecht; zumindest völkerrechtlich verdankten Spanien und Portugal, unter Philipp II. mit spanischen Vorzeichen vereinigt, ihre Imperien dem Papst, Alexander VI. – Sein Motu proprio »Inter ceterae divinae« von 1493 überträgt ihnen das jeweilige Missionsmonopol, und, weil das Missionswerk durch die Rivalität mehrerer Kolonialmächte gestört werden könnte, monopolisiert der Papst auch den gesamten Handelsverkehr mit der Neuen Welt zugunsten der spanischen bzw. portugiesischen Krone.81 Diese missionarische Begründung des Handelsmonopols ist die Franz von Vittorias, des Vaters des europäischen Völkerrechts vor Grotius (der seinerseits in Diensten der Holländisch-Ostindischen Kompanie stand, weswegen er gegen Portugiesen, Spanier – und damit den Papst – die »Freiheit der Meere«, das heißt den Freihandel propagieren mußte).

Es kann keine Zweifel geben, das Erdteilungs-Motu proprio Alexanders VI. ist die Gründungsurkunde des europäisch-amerikanischen: des abendländischen Imperialismus und noch des Imperialismus der kapitalistischen Ära; das päpstliche Abstellen auf den Handel hat vor anderm etwas Antizipatorisches. Dieses kommt erst zu seinem vollen Recht, wenn der Kapitalismus hoch entwickelt ist, also im 19. und 20. Jahrhundert. Dennoch stimmt, was Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Las Casas oder Ein Rückblick in die Zukunft, schreibt: »Der Prozeß, der mit der Conquista begann, ist nicht zu Ende. Er wird in Südamerika, in Afrika und Asien geführt. Nicht wir sind es, denen das Urteil über den Mönch aus Sevilla zusteht. Vielleicht hat er das unsrige gesprochen.«82 Es ist nämlich zu fragen, ob die von Las Casas in unüberbietbarer Schärfe angeprangerten Zustände der »Neuen Indien« nicht nur die zwar primitive, aber deswegen nackte Form von dem waren, was sublimer bis heute und in eine nicht absehbare Zukunft hinein fortdauert: Raub und Plünderung.

Las Casas’ Bericht handelt vom blanken Raub, der unverhüllten Plünderung.83 Das verwickelte Ausbeutungssystem der internationalen Rohstoffmärkte war zu seiner Zeit noch nicht bekannt. Handelsbeziehungen spielten bei der spanischen Conquista keine Rolle84. Was sie aber durchaus schon kannte, war die Ausbeutung der Rohstoffe durch sklavische Zwangsarbeit, die bis heute fortdauert. Prinzipiell läßt sich von den »Neuen Indien« sagen, was John Atkinson Hobson noch über die englischen Kolonien des 19. Jahrhunderts schreiben wird: »Wir haben diese Länder des Handels wegen betreten und bleiben dort zur wirtschaftlichen Ausbeutung: die Zwangsarbeit ihrer ›niederen Rassen‹ benutzen wir zu unseren eigenen erträglichen Zwecken. Das ist die Grundtatsache des Imperialismus, soweit er in der Herrschaft über ›inferiore Rassen‹ besteht; werden diese nicht ausgerottet, so werden sie mit Gewalt den Zielen ihrer weißen Oberherren unterworfen.«85

Hobson deutet es bereits an, die ideologische Grundlage für die völlig willkürliche Behandlung der »Eingeborenen«, sei es der Völkermord oder nur die sklavische Zwangsarbeit, ist ein mehr oder weniger deutlicher Rassismus, der dem Kolonialsystem »immanent« ist: »Der Rassismus ist bereits da, getragen von der kolonialistischen Praxis, die jeden Augenblick erzeugt wird durch den kolonialen Apparat und unterhalten durch Produktionsverhältnisse, die zwei Arten von Individuen unterscheiden: für die einen bilden das Privileg und das Menschsein eine Einheit; sie werden Menschen durch den freien Gebrauch ihrer Rechte; bei den anderen wird durch die Rechtlosigkeit ihr Elend, ihr chronischer Hunger, ihre Unwissenheit, kurz, das Untermenschentum sanktioniert.«86

Der Rassismus ist das imperialistische Pendant zum Sozialdarwinismus des Hoch-(und Spät-)Kapitalismus im Innern.* Ein Zusammenhang, den Arnold Gehlen in Moral und Hypermoral noch 1969 affirmiert: »Den Imperialismus treibt der biologische Druck wachsender Massen, so drückt er die furchtbare Wahrheit aus, daß Leben von Leben zehrt.«87 Hobson entlarvt solche naturgeschichtliche Mythisierung im kritischen Durchgang durch zu seiner Zeit höchst virulente Theoreme. Er zitiert aus M. Edmond Demolins’ Boers or British: »›Der menschliche Fortschritt erfordert die Fortdauer des Rassenkampfes, bei dem die schwächsten Rassen untergehen werden, während die sozial tüchtigen überleben und blühen: Wir sind die sozial tüchtige Rasse.‹ Derart knapp umrissen«, so kommentiert Hobson, »wird die Bedeutung von ›sozial tüchtig‹ klar. Es ist einfach die Antithese von ›schwach‹ und gleichbedeutend mit ›stark im Lebenskampf‹. Auf den ersten Blick läßt der Terminus an anerkannte sittliche und geistige Tugenden ganz allgemeiner Art denken, und er wird dann auch in einem Sinne gebraucht, als schlösse er solche Eigenschaften ein. Doch im gegenwärtigen ›naturgeschichtlichen‹ Sinne angewandt, bedeutet er nicht mehr und nicht weniger als die Fähigkeit, andere Rassen zu schlagen, die man dann – wegen ihres Unterliegens – als ›niedrig‹ bezeichnet. Er ist somit lediglich eine Wiederholung der Frage vom ›Überleben der Geeignetsten‹, deren Sinn enthüllt wird, wenn man fragt: ›Geeignet wozu?‹ und die Antwort erhält: ›zum Überleben‹.«88

Apodiktisch heißt es bei Demolins: »In der Geschichte des Menschen, wie überall in der Natur, haben stärkere Rassen andauernd andere Rassen niedergetrampelt, versklavt und vernichtet.« Der Biologe sagt: »Das ist in der Natur, einschließlich der menschlichen Natur dermaßen verwurzelt, daß es so weitergehen muß.« Und er schließt: »Das war in der Vergangenheit die Grundbedingung und Erscheinungsform des Fortschritts. Deshalb ist es wünschenswert, daß es so weitergeht, es soll so weitergehen.«89

Daß solche Aussagen allemal Bestandteile einer biologistisch entsublimierten Abendland-Ideologie sind, hat niemand geringeres als der Begründer der positivistischen Soziologie, Auguste Comte, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausdrücklich gemacht: die geschichtliche Entwicklung der Menschheit sei nicht in einem verschwommenen Sinne universal, sondern sie habe ihren einheitlichen und bestimmten Ausgangspunkt in der weißen Rasse im christlichen Okzident. Nur die westliche Zivilisation sei dynamisch, progressiv und universal in ihrem missionarischen Anspruch. Aber während zum Beispiel Hegel den Vorrang des Abendlandes noch auf die absolute Religion des Christentums gründet*, versucht Comte ihn durch die physikalische, chemische und biologische Eigenart der weißen Rasse »positiv« zu erklären.90

Comte ›szientifiziert‹ auch hier ein imperialistisches Christentum. Schon Juan Gines Sepúlveda, der Historiograph Karls V. und Lehrer Philipps II., unterschied zwischen bevorzugten und minderen Völkern; es ist erlaubt, lehrte er, die minderen Völker zu bekriegen, um sie dem Evangelium zu unterwerfen, ihnen abzunehmen, was das Kriegsrecht fordert; sie haben nicht das Recht, den Christen zu widerstehen; beharren sie im Widerstand, so ist es erlaubt, den Krieg bis zum Ende zu führen.91 Warum man ihnen überhaupt das Evangelium predigen soll, wenn sie im Vollsinn des Wortes gar keine Menschen sind, muß sich Sepúlveda freilich fragen lassen. An anderer Stelle geht er so weit zu erklären: »Die Spanier stehen über den Barbaren wie der Mensch über dem Affen.«92

Schmitt – ein Sepúlveda redivivus93 – kommentiert dessen Extremismus mit Recht dahingehend, daß er »den praktischen Sinn« hatte, »einen Rechtstitel für die große Landnahme und die Unterwerfung der Indianer zu gewinnen« 94. Las Casas, Sepúlvedas großer Widersacher, bestätigt kritisch die Notwendigkeit einer solch anthropologischen Fiktion; denn theologisch mußte er darauf beharren, daß die einmal Getauften ihren Täufern gleich wurden, und »ebenso freie Glieder der Kirche Christi wie sie selbst«. – »Und wie« – so paraphrasiert Schneider Las Casas’ weiterführende Überlegungen – »wenn auch unabhängig von der Frage der Bekehrung die Freiheit der indianischen Völker, die bisher ihren eigenen angestammten Fürsten unterstanden, offenbar wäre …? Wenn es kein Vorrecht und somit auch keinen Machtanspruch eines höher entwickelten Volkes über ein tiefer stehendes gäbe, sondern jenes nur die Pflicht hätte, dieses emporzuheben?«95

Las Casas wollte den missionarisch-mörderischen Knoten – aus Barmherzigkeit – unbarmherzig zerhauen, zugunsten einer rein friedlichen Mission, einer gewaltlosen »Zivilisierung«. So läßt Schneider in seinem Las Casas vor Karl V. 1938* jenen, in Anlehnung an seine eigenen Worte, zum Kaiser sprechen: »Der Herr hat seine Apostel ausgesandt, die Völker zu taufen; und die Apostel gehen noch über die Erde und werden Arbeit haben, bis er sie abruft. Und unser ganzes spanisches Volk ist vom Herrn mit diesem Apostelamt betraut worden; die edle Königin Isabella war des Herrn Werkzeug, als sie Kolumbus […] erhörte und ihn Schiffe ausrüsten ließ. Dafür muß unser Volk unabänderlich leben; Gott hat es gewollt, daß wir die Neue Welt entdecken und den Völkern […] das Kreuz bringen. Gott wird uns einmal fragen, ob wir getan haben, was er uns aufgetragen hat; an diesem Auftrag werden wir gerichtet werden.«96

Las Casas fährt fort: »Wenn ich den Doktor Sepúlveda recht verstanden habe, so ist er mit mir derselben Meinung, daß dies unsere Aufgabe ist.«97 Ja, aber Sepúlveda ist außerdem der Auffassung, daß die Kirche den Auftrag Christi, das Evangelium aller Welt zu verkünden, nur erfüllen kann, wenn die Ungläubigen vorher politisch den Christen unterworfen werden.98 Nicht nur der Raub(-Handel) verlangt das, sondern gerade auch die Mission – und beides ist realistisch. Daß es keine friedliche Kolonisation gibt – was Enzensberger mit Recht gegen Las Casas einwendet und als Beweis unter anderem das Scheitern seiner Musterkolonie »des Pfluges und des Wortes« in Venezuela anführt99 –, das gilt auch für die Mission. »Nicht auf das Wort und den Pflug« läßt sich eine umfassende Christianisierung gründen, »sondern nur auf das Schwert und das Feuer«, wie die koloniale Herrschaft selbst.100 Seit Konstantin dem Großen ist nicht anders christianisiert worden – und stets in Verbindung mit ›materialistischen‹ Interessen.

 
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